50 - Der Anfang vom Ende
„Es gibt keinen Beginn, ohne dass er ein Ende hat."
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Die Helligkeit stach in meinen Augen, als ich die Lider hob. Jemand japste laut nach Luft und dann fühlte ich weiche Hände an meinem Gesicht.
„Najmah?"
Ich blinzelte, bis ich den Fokus richtig setzen konnte. Seetrübe Augen umrahmt von goldenen Strähnen blickten mir entgegen.
„Du bist wach!"
Sorgfältig hob ich meinen Oberkörper von den Kissen und musste stöhnen, denn ich sah doppelt. Runa packte mich an den Handgelenken und half mir, mich aufzusetzen. Ich fühlte mich um hundert Sternzyklen gealtert. Es war, als hätte ich keine Muskeln mehr, die meine Knochen halten konnten und mein Kopf schwirrte fürchterlich.
„Vorsicht", murmelte Runa und schob mich an den Bettrand vor, damit ich die Füsse auf den kühlen Sandsteinboden platzieren konnte.
Der Kontakt zur Erde — zur Wirklichkeit — jagte die Benommenheit von meinem Geiste.
Meine Augen registrierten den Raum, in welchem ich mich befand. Es war ein helles, lichtdurchflutetes Zimmer mit sandfarbenen Wänden. Weisse Vorhänge hingen von zwei grossen Arkadenfenstern, durch welche eine Brise zog und die Hitze des Tages verscheuchte. Vögel zwitscherten im Innenhof, den ich draussen vermutete. Ein kleiner, schiefer Holzschrank stand am anderen Ende des Raumes und sonst war in dem spärlich ausgestatteten Zimmer nur noch mein Bett.
Es war kein Palast, aber auch kein Kriegszelt mehr.
„Wo bin ich?", brachte ich heiser hervor.
Das Sprechen war anstrengend und kostete so viel Kraft. Mein Oberkörper taumelte nach hinten, aber da spürte ich Runas Hand an meinen Schulterblättern. Sie hielt mich, sodass ich nicht rückwärts in die Kissen fiel.
„Du bist im Frauenhaus von Azoul", antwortete sie. „Sie haben dich hierher gebracht nachdem—"
Eine Tür knirschte und dann war da eine zweite Person im Raum.
„Ach du Schreck!"
In einem Satz war Jasmila da und hielt mich an den Schultern fest. Ihre haselnussbraunen Augen durchbohrten mich mit einer Intensität, die nur von jemandem kommen konnte, der sich um mein körperliches Wohl zu sorgen schien. Ihre Magie sickerte augenblicklich durch meinen Leib. Jasmila erspürte mich mit allergrösster Vorsicht. Es war ein Schock und eine Wohltat zugleich und ich musste mich selbst davon abhalten, die Lider zu schliessen und abermals in einen tiefen Schlaf zu verfallen. Es tat so gut!
„Wie fühlst du dich?", forschte Jasmila nach. „Was spürst du? Hast du Schmerzen?"
Ihre Fragen überschlugen sich, ohne dass sie wirklich eine Antwort von mir erwartete. Als sie mit dem magischen Ertasten fertig war und offenbar nichts in mir gefühlt hatte, was ihr Sorge bereitete, liess sie mich los, richtete sich wieder auf und strich sich mit beiden Händen durch die Locken. Dabei begann sie vor meinem Bett auf und ab zu gehen.
„Sie ist aufgewacht", murmelte sie vor sich hin. „Sie ist tatsächlich aufgewacht!"
Ihre Finger krallten sich fester in ihr gewelltes Haar, als sie für einen Moment stehen blieb, die Wangen blähte und dann die Luft zischend ausblies, als ob damit ein unendlich grosser Druck aus ihrem Körper entweichen müsste.
„Ich dachte, das wäre nicht mehr möglich." Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
„Ich habe dir gesagt, dass Najmah hart im Nehmen ist", verteidigte mich Runa, die mit ihrer Hand über meinen Rücken fuhr. „Nichts kann sie so schnell umhauen. Wer sechs Tage in einem Opiumhaus überlebt, der kann auch sowas überstehen."
Jasmila liess die Hände aus ihren Haaren auf ihre Oberschenkel klatschen. „Niemand überlebt eine Eruption, Runa! Das weisst auch du! Unsere Sorgen waren mehr als berechtigt."
Ich benetzte meine Lippen und unternahm einen weiteren Versuch, um zu sprechen. Schliesslich redeten sie hier über mich.
„Mir ... mir geht es gut", murmelte ich, was abgesehen von meinem benebeltem Kopf durchaus stimmte.
Jasmila stellte sich vor mir auf, die Hände in die Hüfte gestemmt und musterte mich von oben herab.
„Dir geht es erst gut, wenn ich das sage. Zahir sitzt mir schon die ganze Zeit im Nacken. Ich will ihm keinen Grund geben, das noch länger tun zu müssen. Das ertrage ich nämlich bald nicht mehr!"
Reflexartig hievte ich mich bei der Erwähnung meines Sandlesers auf die Beine, mein linkes Knie gab allerdings nach und ich taumelte in Jasmilas Arme.
„Najmah!", rügte mich Runa.
Auf der Stelle war sie bei mir und schlang ihren Arm um meine Taille, um mich zu stabilisieren. Gleichzeitig stützte mich Jasmila. Ich kam mir unfassbar schwach vor, von meinen Freundinnen so gehalten werden zu müssen.
„Wo ... wo ist er?", hauchte ich. „Geht es ihm gut? Und Zafar?"
Meine beiden Freundinnen tauschten sich einen Blick aus, der mir wenig verriet, nur so viel, dass sie nicht sicher waren, ob sie mir die Wahrheit sagen wollten.
Ein unheimliches Gefühl überkam mich plötzlich.
„Wo ist Amela?", fragte ich weiter.
Ich hatte sie nicht mehr gesehen. Sie hatte bis zu meiner Eruption neben mir gestanden, auf der hohen Treppe aus Sand, aber was danach geschehen war, das wusste ich nicht!
Meine beste Freundin. Meine grosse Schwester!
Was, wenn ihr etwas zugestossen war? Was, wenn ich ihr mit meiner Kraft weh getan hatte? Mein Herz und mein Atem gingen plötzlich schneller.
„Mach dir keine Sorgen", beruhigte mich Jasmila sogleich. „Es geht ihnen gut." Sie legte ihre Handfläche an meine Stirn und fühlte meine Temperatur. Ihre Haut war angenehm kühl. „Alle drei sind wohlauf, ich verspreche es dir", fügte sie an und liess von mir ab. „Sie sind im Moment aber nicht im Haus und kommen erst gegen Abend wieder."
Ihr Blick wanderte zu den Fenstern und zur Sonne, die in warmen Strahlen in mein Zimmer stach. Meinen Schätzungen zufolge war es etwas über der Mittagszeit.
„Vermutlich sind sie jetzt im Stadtzentrum", merkte Runa an.
„Warum?", fragte ich. „Was machen sie in der Stadt?"
Runa biss sich auf die Unterlippe und schaute verlegen zu Boden. Jasmila liess einen äusserst schwermütigen Seufzer hören.
„Die Beisetzung wird dort abgehalten", verriet sie.
Mein Herz zog sich jäh zusammen.
„Was? Von wem?"
Ich machte einen Schritt auf sie zu. Jasmila schloss die Augen und wandte sich von mir ab.
„Von Hamza und Karim."
Es traf mich der Schlag.
Obwohl ich eigentlich gewusst hatte, dass Hamza am letzten Tag der Schlacht sterben würde — ich hatte es in Adils Werk vor langer Zeit gelesen — löste es tiefe Bestürzung in mir aus. Der starrsinnige Feldmarschall mit dem Löwenmut war tot.
Und Karim! Der loyale Pflanzensäer mit dem Herzen am richtigen Fleck.
„Sie sind in der Schlacht gefallen", erklärte Runa. „Hamza wird in der Stadt neben seinem Vater beigesetzt."
„Die unvergängliche Flamme im Schatten des Obelisken", murmelte ich.
Es war das einzige Monument, das ich aus dem Azoul meiner Zeit kannte. Sitty hatte mir einst von dem grossen, schwarzen Obelisk erzählt, der im Zentrum der Stadt stand und neben welchem immer ein Feuer brannte. Mir war deren Bedeutung nie bewusst gewesen.
Tränen schafften es an die Oberfläche und liefen mir über die Wangen.
„Oh, wie schrecklich!", schluchzte ich und vergrub das Gesicht in meinen Händen.
Das war nicht das Ende, das der ehrgeizige Sohn des Sultans verdient hatte. Hamza hatte alles für sein Land getan und mit seinem Leben bezahlt. Mein Herz tat weh für meine Familie. Wir hatten einen grossen Bruder verloren.
Ich spürte, wie mich Jasmila und Runa umarmten. Sie hielten mich, während der Schmerz, der Schock und die Erlebnisse der letzten Stunden über mich wuschen und mich wegzuspülen drohten.
„Es wird vergehen", flüsterte Runa, als wir uns voneinander lösten. „Noch ist der Schmerz frisch, aber er wird vergehen. Das tut er immer."
Jasmila tätschelte meine Wange. „Und wir müssen dafür sorgen, dass jene, die uns erhalten geblieben sind, auch noch eine Weile bei uns verweilen. Was hältst du davon, wenn wir dich frisch machen? Du hast nämlich vier Tage lang geschlafen."
Schockiert riss ich die Augen auf und blinzelte durch meine Tränen. Vier Tage geschlafen? Das konnte unmöglich wahr sein! Allerdings spürte ich ein Drücken in meinem Unterleib, das mir verriet, dass ich tatsächlich lange nicht aus dem Nest gekommen war.
Verlegen blickte ich an mir herab. Mein Bauch stand sichtbar ab.
„Ich glaube ich muss dringend pinkeln", murmelte ich und fühlte, wie mir die Scham in die Ohren schoss.
Jasmila lächelte. „Runa wird dich begleiten", meinte sie und als ich zum Protest ansetzen wollte, fügte sie an: „Ausser du bevorzugst es, bei einem Schwächeanfall Kopf voran in der Latrine zu landen und von uns mit einem Elefantenhaken da wieder rausgefischt zu werden."
Mein Mund klappte zu und ich schüttelte den Kopf. Nein, das bevorzugte ich mit Sicherheit nicht.
„Schön", meinte Jasmila. Sie deutete auf eine Truhe, die, wie ich erst in dem Moment realisierte, am Ende meines Krankenbettes stand. „Willst du etwas aus deiner Kleiderkiste? Ich kann es für dich bereitlegen."
Ich nickte. „Einen weissen Stoff, wenn möglich."
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Nach dem Toilettengang machte ich einen ausgiebigen Abstecher ins Bad des Frauenhauses, in welchem Runa mir half, die Haare zu waschen und mit Arganöl zu pflegen. Sie kämmte mich und flocht meine Haare zu einem schönen, langen Zopf. Meinen müden Körper unterzog ich einer Grundreinigung, bis mir von der Lavendelseife übel wurde. Das lag allerdings nicht an dem Geruch, sondern an dem wachsenden Loch in meinem Magen.
Ich hatte unfassbar grossen Hunger.
Als ich zurück in mein Zimmer kehrte, dort das weisse Kleid vorfand, das mir Jasmila neben einer Schale voller Datteln bereitgelegt hatte, fühlte ich mich bereits wieder wie ein neuer Mensch.
Runa hütete mich wie eine Vase aus Glas, als befürchtete sie, ich könnte jeden Moment in tausend Stücke zerspringen.
Sie blieb den ganzen Nachmittag bei mir im Zimmer, redete von unbeschwerten Dingen und brachte mich sogar zum Lachen. Für die Ablenkung war ich dankbar, denn ich konnte mein Herz noch nicht dazu aufbringen, an all den Schmerz zu denken. Noch wollte ich in diesem hellen Zimmer bleiben und zur Ruhe kommen.
Ich setzte mich an den Rand des Arkadenfensters und nahm ein Buch zur Hand. Es war eine einfache Geschichte, welche die schrecklichen Gedanken von mir fernhielt. Runa sass auf meinem Bett und bestickte eine gelbe Stola.
Die Zeit rieselte vor sich hin.
Irgendwann hörten wir Stimmen in der Empfangshalle.
Meine Freundin legte ihr Nähzeug weg. „Das sind sie wahrscheinlich", benannte sie das, was ich bereits in meinem Herzen fühlte.
Obwohl eine grosse Leere herrschte, dort, wo meine Magie einst herumgewirbelt war, spürte ich jene von Zahir. Er füllte die Lücke mit seiner Kraft und liess das Loch darin gar nicht mal so gross und gähnend wirken. Es war ein tröstliches Gefühl.
Ich hatte nicht alles verloren, denn ich hatte noch ihn.
Das Murmeln von unten drang bis zu uns herauf. Jasmila sprach mit den Ankömmlingen. Ich hörte sie sprechen.
„Sie ist erwacht."
Jemand kreischte laut auf. Ich vermutete, dass es Amela sein musste, was auch sogleich bestätigt wurde. „Na, warte! Dieser Sternenkuh werde ich gleich die Euter melken!"
Schritte polterten. Jemand rannte die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Ich schob mich vom Fenster und legte das Buch zur Seite. Runa ging zur Tür. Kaum war sie offen, tauchte Zahir im Türrahmen auf, als wäre er hierher geflogen. Sein nachtblauer Kaftan schmiegte sich vom Wind seiner eiligen Schritte an seinen Körper. Er trug keinen Turban, die Haare lagen ihm wirr auf dem Kopf und er hatte sich nicht rasiert.
Seine Löwenaugen fanden die meinen und begannen jäh zu funkeln.
Sofort durchströmte mich Wärme bis in die hinterste Kammer meines Herzens. Ich breitete die Arme aus, schwankte zwar etwas auf den Beinen, aber hiess ihn mit meinem Körper willkommen.
„Zahir."
Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich und dann war er in zwei Schritten bei mir, doch er fiel mir nicht in die Arme, sondern sank auf die Knie, als wäre mein Anblick zu überwältigend. Seine kräftigen Arme schlangen sich um meine Taille. Er drückte sein Gesicht in meinen Bauch.
Überrascht blickte ich zu ihm herunter. Ein zerrissener Schluchzer löste sich von seiner Kehle und sorgte dafür, dass er sich noch fester an mich klammerte und mir beinahe die Organe zerquetschte.
„Mein Herz", flüsterte ich, fuhr ihm durch die dunklen Strähnen und strich sie ihm aus den Augen.
Er legte seinen Kopf zur Seite, sodass sein Ohr auf meinem Bauch lag.
„Mach das nie wieder!", sagte er mit bebender Stimme. „Mach das bitte nie wieder! Ich flehe dich an! Ich kann das nicht. Dein Licht ... es ist alles, was ich brauche. Als es erlosch, da ... da ... war ich so verloren. Bitte ... ich kann nicht ... Ich liebe dich ... "
Ein schmerzvoller Ton entwich ihm aus der Kehle und ein weiterer Schluchzer schüttelte ihn durch. Er presste sein Gesicht wieder in meinen Körper, um seine Tränen in meinem Kleid versickern zu lassen.
Ich verstand ihn. Er hatte geglaubt, mich verloren zu haben — zum zweiten Mal in seinem Leben. Ich wollte mir nicht vorstellen, welch schreckliche Angst er wegen mir gehabt haben musste.
„Es tut mir leid, mein Herz", flüsterte ich, löste seine Finger von meiner Hüfte und ging vor ihm in die Knie.
Seine Hände legten sich sofort an mein Gesicht, rahmten es ein, hielten es sicher. Mit den Daumen fuhr er mir über die Wangenknochen, streichelte meine Haut, während seine goldenen Augen zwischen meinen hin und her pendelten. Tränen flossen unaufhörlich über sein Gesicht.
„Es tut mir so leid", wiederholte ich und zog ihn am Nacken an meine Lippen.
Unsere Münder legten sich aufeinander. Zahir trank mich geradezu und die Bestimmtheit, mit welcher er meinen Kopf zur Seite neigte, damit er mich mit seiner Zunge besser schmecken konnte, zeigte mir, dass er mich nie wieder loslassen würde.
Nie wieder. Nie wieder würden wir uns voneinander trennen. Unser Kuss besiegelte dieses Versprechen.
„Schmatzt nicht so, das ist ja ekelhaft!", wurden wir von Amela unterbrochen.
Sie stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Ihre Augen waren geschwollen und ich konnte nur ahnen, dass es daran liegen musste, weil sie soeben einen ihrer Brüder hatte beisetzen müssen. Ich löste mich von meinem Ehemann, der mich nur zaghaft aus seinen Armen liess und sich mit mir erhob.
Amela trat ein paar Schritte in mein Zimmer und blieb dann vor uns stehen. Ihr Kinn zitterte und an den wässrigen Augen sah ich, dass sie mit den Gefühlen rang, es aber eigentlich nicht zeigen wollte.
„Schön, dass du dich entschieden hast, zurückzukommen", maulte sie mich an. „Wäre auch echt feige gewesen, zu gehen, ohne tschüss zu sagen."
Ich ignorierte ihre Bissigkeit und deutete auf den Sandleser neben mir. „Zahirs Herzenstropfen hat mich nicht gehen lassen", verriet ich und schmunzelte vorsichtig.
Von der Seite spürte ich Zahirs Blick auf mir. Erklären würde ich ihm alles später, wenn wir alleine waren und uns in den Armen lagen.
„Hmpf", grummelte Amela und verdrehte die Augen. „Dann war er mindestens einmal nützlich."
Aus ihren Anspielungen konnte ich wirklich nur eines lesen: keine Vorwürfe, sondern tiefster Schmerz. Auch sie hatte um mein Leben gefürchtet.
„Entschuldige, dass ich mich nicht vorher bei dir verabschiedet habe", murmelte ich reumütig. „Ich hatte es natürlich die ganze Zeit so geplant, aus heiterem Himmel zu explodieren und die Wüste mit meiner ganzen Kraft zu fluten, bis mir selbst die Lichter ausgehen."
Amela formte die Augen zu Schlitzen. Ihre Nasenflügel bebten, doch sie schwieg.
„Wie kann ich das wiedergutmachen?", fragte ich in einem versöhnlichen Ton.
Sie löste ihre Arme aus ihrer Überkreuzung. Plötzlich blitzte etwas in ihren Augen auf und ihr Gesicht erhellte sich, sodass ich mir nicht mehr sicher war, ob ich meine Worte doch besser bereuen sollte.
„Shir backt Schokoladenkuchen fürs Abendessen. Ich konnte wegen dir seit Tagen nichts anrühren." Sie fuchtelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. „Ich erwarte dich nachher im Speisezimmer. Du wirst mit mir eine ganze Heukarrenladung Kuchen in dich reinstopfen und dann — erst dann — überlege ich es mir, ob ich noch wütend auf dich sein werde, oder ob ich dir verzeihen will."
Ich unterband mein Grinsen. „Können wir so machen", willigte ich ein.
Amela schnaubte, warf mir einen letzten, etwas abschätzig wirkenden Blick zu und dann drehte sie sich um und stolzierte aus meinem Zimmer.
„Luay!", hörte ich sie durch den Gang brüllen. „Ich hoffe, du hast den Backofen anheizen lassen, sonst jage ich dich!"
Kaum war sie gegangen, standen zwei andere Gestalten in der Tür. Jasmila und jemand, der einen hellrosa Kaftan trug. Erst erkannte ich ihn nicht, denn er trug sein Gesicht unverhüllt und ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, aber dann dämmerte es mir, als ich die gespaltene Augenbraue und den sicheren, überheblichen Gang erkannte.
„Zaf!"
Ich konnte meinen Blick nicht von seinem Gesicht lösen, das mir merkwürdig bekannt vorkam, obwohl ich es noch nie gesehen hatte. Es passte so sehr zu ihm. Strenge, harte Gesichtszüge, scharfe Linien und ein verschmitzt verzogener Mund, der nur darauf wartete, den Leuten spitze Kommentare an den Kopf zu schleudern.
Er kam auf mich zu und ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, zog er mich an seine Brust und drückte mich so fest, dass mir die Luft ausging. Seine Lippen legten sich auf meinen Scheitel.
Zafar schenkte mir einen Kuss. Einen, den man nur von einem Bruder erhielt.
„Schön dich wieder hier zu haben, Naj", flüsterte er in meine Haare.
Er liess mich los und gab mir die Möglichkeit, ihn wieder anzustarren. Ich nahm mir Zeit, sein unverhülltes Gesicht zu bewundern, dann huschten meine Augen zu Jasmila, die etwas verlegen daneben stand und eine Locke um ihren Finger wickelte.
„Kein Gesichtsturban mehr?", fragte ich. „Seid ihr ...?" Ich deutete zwischen den beiden hin und her und liess die Frage in der Luft hängen.
Ein Lächeln schlich Zafar über die Lippen, das jenem meines Ehemannes sehr ähnelte und doch war es so anders. So er.
„Ich habe mich dazu entschlossen, fortan mein Gesicht zu zeigen", erwiderte er. „Ich mache das jetzt nach meinen eigenen Regeln. Wenn Jasmila noch warten will, dann kann ich das auch, aber die Welt soll wissen, dass mein Herz für immer vergeben ist."
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sein Fingerknöchel sanft über Jasmilas Handrücken strich. Diese erwiderte seine Zärtlichkeitsbekundung mit leuchtenden Wangen.
Da erschien ein Riese in meiner Tür und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er kam allerdings nicht ins Zimmer, sondern blieb dort stehen.
„Kommt ihr auch gleich zum Abendessen?", fragte Luay. Er begrüsste mich mit einem Winken aus der Ferne, was ich mit dem Heben meiner Hand erwiderte.
Zahir suchte in meinen Augen nach der Antwort. „Wir wollten das Leidmahl hier verspeisen", verriet er. „Luay hat Mezze zubereitet. Wenn du dich nicht danach fühlst, dann können wir–"
Schnell schüttelte ich den Kopf. „Nein, es wird gehen. Ich will für euch da sein."
Das wollte ich wirklich. Die vier Tage, die ich im Delirium verbracht hatte, musste ich nachholen. Auch wenn die Sultansfamilie ihre Bedrücktheit mit Heiterkeit überspielte, wusste ich, dass sie einander brauchen würden. Dass wir einander brauchen würden, um heilen zu können.
Zahir legte seine Hand auf mein Kreuz.
„Wir kommen gleich", wollte er seinen Brüdern mitteilen, doch im selben Moment knurrte mein Magen so laut, dass es vermutlich sogar Amela am Ende des Ganges hörte.
Luay begann breit zu grinsen, sodass ich seine perlweissen Zähne sehen konnte. Zafars Augenbrauen jagten erstaunt in die Höhe. Sein Blick fiel auf meinen protestierenden Magen, während sich Jasmila das Kichern verkniff. Ich lächelte verlegen und legte meine Hand über das grummelnde Loch in meinem Bauch.
„Du klingst wie ein Kamel", foppte mich Zafar.
Das sorgte dafür, dass Zahir neben mir heiser auflachen musste. Empört über diesen Vergleich, preschte meine Hand hervor und schlug dem jüngeren Sandwurm über den Oberarm.
„Also bitte", wehrte ich mich. „Ich habe seit vier Tagen nichts gegessen!"
Mein Ehemann küsste mich besänftigend auf die Schulter, doch er konnte nicht aufhören zu glucksen.
„Das liegt aber bestimmt nicht daran, Fennek", mischte sich Luay vom Türrahmen aus ein. „Dein Magen hat schon immer so geklungen. Damals, als Zahir und ich dich in der Wüste aufgelesen haben, war es auch so. Es klingt wie ei—"
„Du wagst es?", rief ich dazwischen und streckte ihm drohend meinen Zeigefinger entgegen. Leider war ich noch zu entkräftet, um auf ihn zu springen und ihn auch zu hauen. Der gefährliche Finger musste reichen.
Das Lachen von Luay, Jasmila, Zahir und Zafar erfüllte für einen kurzen Augenblick mein Zimmer und es war mir einerlei, dass es auf meine Kosten war.
Ich wollte nichts anderes hören.
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Obwohl der Verlust von Hamza unfassbar schmerzte und wie ein Schatten über unseren Gemütern hing, waren es die politischen Ereignisse der letzten Tage, welche das Gesprächsthema am Esstisch dominierten.
Anscheinend hatte ich es wirklich geschafft, die Dunkelheit zu verjagen, ehe ich zusammengebrochen war. Es war Zafar, der mir verriet, dass er die Treppe aus Sand zum Einstürzen gebracht hatte, um ein komplettes Ausbrennen meinerseits zu verhindern.
„Bitte, gern geschehen, Schwägerin", meinte er. „Wenn es jetzt noch zwischen deinen Zähnen knirscht, dann denkst du immerhin an mich."
Ich funkelte ihn von der gegenüberliegenden Tischseite an, aber er grinste stolz und breit. Dafür erntete er einen Schlag auf den Hinterkopf von Amela und Jasmila.
Zahir fuhr anschliessend in der Erzählung fort, was auf dem Schlachtfeld nach meinem Verglühen passiert war. Er war bei mir gewesen, als die Sandtreppe zusammenfiel und hatte mich danach umgehend ins Feldlazarett zu Jasmila bringen können. Dort hatte er auf Anweisung der Wundheilerin den Versuch unternommen, mir den Tropfen meiner Magie zurückzugeben, der in seinem Herzen verweilte, um meine Überlebenschancen zu vergrössern. Scheinbar hatte der Transfer geklappt. Mein Herz schlug, aber ich wachte nicht wieder auf.
Bei der Schilderung hob ich meine Hand an die Brust, doch ich fühlte meine Magie darin überhaupt nicht mehr. Ich konnte nur ahnen, dass sie sich schlafen gelegt hatte und dass es womöglich lange dauern würde, bis sie wieder an die Oberfläche drang.
Schlussendlich erfuhr ich vom zweiten Sohn des Sultans, Hakim, der zusammen mit seinem jüngsten Bruder Adil zum Abendessen gekommen war, dass sie es auf sich genommen hatten, nach der Räumung des Schlachtfeldes eine letzte Versammlung mit Oman einzuberufen, um einen Frieden mit dem dohadischen Herrscher auszuhandeln.
„Wie seid ihr verblieben?", traute ich mich zu fragen, obwohl ich die Antwort darauf bereits kannte.
„Oman war nur bereit, einen Friedensvertrag zu unterschreiben, unter der Bedingung, dass wir die Magie gesetzlich verbieten", verriet Adil. Er knurrte in sich hinein, denn offenbar schien er überhaupt nicht mit dieser Vereinbarung einverstanden zu sein. „Dieser hinterhältige Querulant hat uns förmlich dazu genötigt."
Es wurde still am Tisch. Adil umklammerte seine Gabel so fest, dass seine Knöchel weiss hervorstachen. Ich verstand seinen Frust. Die Demütigung der Muzedin war schon gross genug. Sie hatten ihre eigenen, heiligen Regeln gebrochen und würden lange mit dieser Schuld leben müssen. Die Verbannung der Magie vom täglichen Leben war eine überaus harte Strafe. Eine ungerechte Strafe.
„Er meinte zwar, dass sie das neue Gesetz friedlich erlassen wollen", nahm Hakim den Faden wieder auf. Ein langer und tiefer Seufzer hob und senkte seinen Brustkorb. „... aber ich glaube ihm kein Wort. Omans Augen glänzten merkwürdig, als wir von den Verstärkern sprachen und was damit geschehen soll. Darum habe ich eine kleine Gruppe von Schattenbringern damit beauftragt, alle Multiplizierer zu sammeln, die sie finden können, um sie in—"
„—in der Schatzkammer zu verstecken", beendete ich den Satz für ihn.
Hakims Schnurrbart zuckte mit dem traurigen, aber aufmunternden Lächeln, das er mir schenkte. „Ganz genau. Du hast mich darauf gebracht, Najmah."
Ich nickte gedankenverloren. „Weil ich es kommen sah", erwiderte ich. „Ich habe all das hier gesehen und es tut mir leid, dass ich es nicht ungeschehen machen konnte." Mein Blick ging durch die Runde, schweifte von Runa, Adil und Hakim zu Zafar und Jasmila, Luay und Amela und schliesslich zu Zahir. „Ich wollte es wirklich verhindern, aber ich konnte es nicht. Bitte verzeiht mir."
Zahirs Hand streichelte meinen Schenkel. „Das haben wir nie von dir erwartet und wir tragen es dir nicht nach, mein Stern."
Auch wenn ich seinen Worten glauben wollte, wog die Verantwortung für das Schicksal der Sultansfamilie schwer auf meinen Schultern.
Hakim reckte sein Kinn in die Höhe und atmete tief ein. „Wisst ihr was?", sagte er. „Oman kann noch so viele Gesetze erlassen, wie er will und uns bis zu den Grenzen unseres Landes jagen, eines unterschätzt er allerdings."
Wir blickten ihn alle erwartungsvoll an, doch Hakim spannte uns auf die Folter.
„Und was soll das sein?", kam die Frage von Zafar, der offenbar sowas wie Geduld nicht besass.
Hakims Augen schimmerten listig. „Die Unverwüstlichkeit der Herzenskraft und unsere Sturheit. Wir Muzedin lassen uns doch nicht so schnell unterkriegen, oder?"
Murmelnd stimmten wir ihm zu.
Adil rollte auf der anderen Tischseite mit den Augen, denn für ihn lag die grösste politische Macht in der Schrift und nicht in der Magie. Ich wusste, dass er die Welt mit seinen Worten beeinflussen würde. Auf seine Weise.
„Es gibt auf jeden Fall viel zu tun, Brüder und Schwestern", meinte Hakim abschliessend. „Aber lasst uns für heute Abend unseren gefallenen Brüdern gedenken. Alles andere besprechen wir morgen."
Er hatte recht.
Wir hatten uns schliesslich zu diesem Abendessen versammelt, um jene zu ehren, die nicht mehr neben uns weilten.
Und so assen wir und tranken und sprachen über Hamza und Karim und den Sultan und welche Erinnerungen wir an sie für immer hegen würden. Es war ein wehmütiger Abend, aber er war auch voller Hoffnung. Hoffnung, weil wir zusammenhalten und uns gemeinsam gegen das stellen würden, was uns erwartete.
Ein Gedanke liess mich jedoch nicht mehr los.
Es gab viel zu tun. Hakims Worte hatten etwas in mir ausgelöst und ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Die Muzedin gaben nicht auf, das war wahr. Und die Magie würde überleben, das wusste ich sogar. Zwar in den Schatten und kleinen, versteckten Zwischenräumen der Welt, doch sie würde immer da sein. Sie würde niemals gänzlich verwelken.
Ich spann diese Gedanken in meinem Kopf weiter und während um mich herum meine Familie sprach und diskutierte, verhalten lachte und da und dort eine Träne verdrückte, da hatte ich plötzlich eine Erkenntnis.
Eine Erleuchtung.
Du hast mich darauf gebracht, Najmah. Hakims Stimme hallte in meinem Schädel, als hätte er den Satz noch einmal laut gesagt. Für einen Moment hielt ich den Atem an, denn ich konnte es selbst nicht glauben, was mir da gedämmert war.
Ich hatte ihn darauf gebracht. Ich hatte die Idee in seinen Kopf gepflanzt, die Verstärker zu retten. Das war nur der Anfang. Der Anfang vom Ende der Magie aber gleichzeitig auch der Anfang ihrer Rettung!
Plötzlich war ich hellwach und meine Erschöpfung eine Nebensache, denn es gab tatsächlich noch viel zu tun .
Vorsichtig lehnte ich mich zu meinem Sandleser.
„Kannst du mir morgen Papyrus und Tinte besorgen?"
Die Hitze seiner Hand auf meinem Bein löste einen warmen Schauer in meinem Körper aus.
„Selbstverständlich", raunte er. „Wozu brauchst du das?"
„Ich will einen Brief schreiben."
Zahir sah mich überrascht an. Ich kannte niemanden, ausser der Sultansfamilie und Runa, dem ich einen Brief schicken könnte, darum war seine Frage auch durchaus nachvollziehbar.
„An wen soll der gehen?"
Ich blinzelte zu ihm empor und konnte es nicht unterdrücken, ihm ein Lächeln zu schenken. Ein Lächeln, das ich mit dem Siegel der Rose von Tulhaia durch die Zeit schicken würde.
„An meine Grossmutter."
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Ein extra langes Kapitel zum Schluss - nur für euch.
Leider mussten wir uns von Hamza und Karim verabschieden. Es konnten nicht alle diesen Krieg überleben.
Die Kreise schliessen sich allmählich. Bleibt nur noch der Epilog übrig.
Um 21:00 Uhr geht's weiter.
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