48 - Sterbender Stern
„Zuviel Flattern zerbricht die Flügel."
☆☆☆
AMELA
Die Druckwelle schubste Amela fast von der Empore.
Sie grub ihre Fersen tiefer in den Sand und lehnte sich gegen den gewaltigen Fluss aus glitzerndem Sternenstaub. Die Haare auf ihren Unterarmen standen ihr zu Berge, während das fliederfarbene Licht ihre Haut kitzelte und die Wüste so grell flutete, dass es die Dunkelheit, die wie eine Glocke über das Tal der Tränen gehangen hatte, vollkommen beseitigte.
Najmah brannte heller als die Sonne.
Ihr Licht war rein und gut. Für die Krieger war sie ein Silberstreifen am Horizont. Ein Licht in der Finsternis, ein Leitstern, eine Erlösung. Najmahs Magie war sanft, aber nur zu den Männern und nicht zu den grässlichen Kreaturen der Unterwelt.
Die Dämonen kreischten entsetzt auf. Jene, die sowas wie Augen besassen, wandten ihre Köpfe ab und sprangen panisch davon, zurück zu ihrem Loch, aus welchem sie gekommen waren. Doch sie alle wurden von der Erdoberfläche gefegt wie Schmutz von einer Tischplatte.
Der schwarze Dschinn, der sich mit seinen tödlichen Schwaden um die Sandleser gelegt hatte, hielt dem gleissenden Licht lange stand, aber dann zerbarst er in hunderte Einzelteile und gab Zahir und Zafar darunter frei.
Die beiden lagen bewusstlos auf der Erde, Zafar auf dem Rücken und Zahir auf der Seite.
Amela stiess ihre Kraft durch die Luft, um sie zu erfühlen, um sicherzustellen, dass sie noch lebten. Zahirs Magie reagierte augenblicklich, als sie ihn erreichte. Er rappelte sich als Erster auf und blinzelte in Amelas Richtung. Wegen der funkelnden Sternenseherin neben ihr konnte er vermutlich nicht viel erkennen.
Zu Zahirs Füssen regte sich Zafar. Er rieb sich die Schläfen, schüttelte den Kopf und blickte zu seinem Bruder empor. Dieser packte ihn unter den Achseln und hievte ihn auf die Beine. Zafar schwankte, aber er stand, während Zahir ihn schüttelte.
Erleichterung durchflutete Amela.
Die Sandleser schienen wohlauf zu sein. Der schwarze Dschinn hatte ihnen kein Leid angetan, denn Najmahs Licht hatte es verhindert.
Amela widmete ihre Aufmerksamkeit nun ihrer Freundin. Najmah stand neben ihr mit ausgebreiteten Armen und dem Kopf im Nacken, während sie ihre ganze Herzenskraft heraufbeschwor. Der Himmel tat sich über ihnen auf und allmählich kamen die Sterne wieder zum Vorschein. Sie leuchteten im Rhythmus ihrer Magie.
„Mässige dich", murmelte Amela. „Du glühst viel zu hell."
Najmah reagierte nicht auf ihre Bitte. Ihr Mund bewegte sich mit leisen Worten, die sie den Sternen zumurmelte.
Die Prinzessin fand das ganz und gar nicht witzig und so packte sie Najmah am Handgelenk und rüttelte daran. Der Kopf der Sternenseherin schnippte zu ihr.
Das war alles, was Amela noch wahrnahm, dann wurde sie mit einer Wucht, die ihr den Atem aus den Lungen schlug, durch die Luft geschleudert.
Der Himmel, die Wüste, die Sandtreppe, alles wirbelte um sie herum. Wind peitschte ihr um die Ohren und Amela wusste nicht mehr, wo sich oben und unten befand, aber schliesslich packte sie die Erdanziehungskraft und riss sie gen Boden.
Amela schloss die Augen, denn sie erwartete einen umbarmherzigen Aufprall, der schmerzhaft werden würde.
Bevor sie den harten Grund jedoch touchierte, spürte sie Sand an ihrem Rücken. Die Erde bog sich ihr entgegen, fing sie behutsam auf und brachte sie sicher zu Boden. Es war fast, als hätte sie sich in ihr Bett im Palast geworfen. Keine gebrochenen Knochen, keine blauen Flecken.
Amela blieb für einen Moment auf dem Rücken liegen, bis es die Luft wieder in ihre Lungen schaffte.
Stöhnend rappelte sie sich dann auf, schüttelte ihre Haare und strich sich die wirren Strähnen zur Seite. Sie war unweit von den Sandlesern auf dem Schlachtfeld gelandet. Etwa eintausend Ellen von der Sandtreppe entfernt!
So rabiat durch die Luft zu fliegen gehörte mit absoluter Sicherheit nicht zu ihrer Lieblingsart, sich fortzubewegen. Das würde sie ihrer Freundin heimzahlen! Darauf konnte sie wetten!
„Amela?", hörte sie Zahirs Stimme.
Er und Zafar kamen herbeigeeilt. Amela sah ihre blutigen und von der Schlacht gezeichneten Gesichter und konnte es nicht unterlassen, den beiden um die Hälse zu fallen. Auch wenn sie es ungern zugab, aber sie hatte sich schrecklich um ihre Leben gefürchtet. Zu sehen, wie sich die Schatten des schwarzen Dschinns auf sie geworfen hatten, hatte diese Ur-Angst in ihr zum Leben erweckt.
Obwohl ihr Verstand wusste, dass der Tod zu einem Krieg dazugehörte, hatte sie diese Tatsache schlicht zu ignorieren versucht, oder sie hatte immer gedacht, dass es einfach andere treffen würde — aber niemals ihre Brüder.
Selbst wenn sie sich die meiste Zeit über sie erzürnte, liebte sie jeden einzelnen dieser Mistkerle wie eine Närrin.
Zafars Umarmung fühlte sich im Gegensatz zu jener von Zahir ungewöhnlich schwach an. Seine Augen wirkten fahl, als hinge sein Leben nur noch an einem seidenen Faden.
Amela musterte die beiden kritisch und stemmte die Hände in die Hüfte. „Was ist passiert?", verlangte sie um Erklärung.
„Dasselbe wollten wir dich fragen", erwiderte Zahir anstatt ihr zu antworten.
Amelas Blick schwenkte zur Sandtreppe, welche sie alle überragte und von welcher ihre Freundin noch immer ihre Kräfte in die Welt stiess.
„Najmahs Magie hat mich vom Podest geschubst", gab sie zähneknirschend zu.
Zafar schnaubte. „Du bist geflogen", korrigierte er sie. „Sie hat dich weggeschmettert."
Er schwankte auf den Beinen und Amela konnte seine Erschöpfung spüren, als wäre es ihre eigene. Für seinen schwächlichen Zustand war er ziemlich kampfeslustig.
Amela funkelte ihn an. „Na schön!", maulte sie und verwarf die Arme. „Sie hat mich runtergeworfen! Könnt ihr das glauben? Ich wollte sie nur anfassen und dann hat es mich von der Treppe geschleudert."
Zahir runzelte die Stirn und blickte zu seiner Frau, die wie ein Stern in der Ferne glühte. Sorge lag in seinem Gesicht, aber auch Bewunderung. Najmah war atemberaubend schön. Sie und ihre Kraft.
„Einmal quer übers Schlachtfeld", bestand Zafar weiterhin auf die peinlichen Details.
Amela knurrte. „Was kann ich dafür, wenn sie wegen euch zwei die Nerven verliert?"
Zahirs Kopf schoss zu ihr. „Sie hat uns gesehen?"
Amela nickte. „Oh ja! Euer unnötiges Duell und den schwarzen Dschinn, der sich angeschlichen hat, ohne dass ihr Maulwürfe es gesehen habt!"
Zahirs Ausdruck wurde finster, während er auf den Boden starrte. Ebenso tat es Zafar. Ihre Anspannung und ihr Schweigen war mehr als verdächtig. Amela kniff die Augen zu misstrauischen Schlitzen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was ist da auf dem Schlachtfeld passiert, hm?", bohrte sie nach. „Ihr habt was zu verbergen. Ich sehe es euren faltigen Gesichtern an."
„Mein Gesicht ist nicht faltig", wehrte sich Zafar.
Amela schnalzte mit der Zunge, um ihm zu verstehen zu geben, dass ihr jetzt wirklich nicht nach Scherzen war.
„Warum seid ihr aufeinander los?", wollte sie weiterhin wissen.
Zahir rieb sich den Nacken. Für einen Moment huschten seine Augen zu dem schönen Stern dort oben und dann wieder zurück zu seiner scheltenden Schwester.
„Zaf war besessen", verriet er leise. „Das Kaktusgift in seinem Blut hat den Fluch der Dunkelheit irgendwie verstärkt. Es ..." Er zögerte und warf seinem Bruder einen unsicheren Blick zu, als wolle er nicht weitersprechen, sondern Zafar die Möglichkeit geben, den Rest zu erklären.
„Es hat mein Herz zum Stillstand gebracht", fuhr Zafar fort.
Seine Worte trafen Amela komplett unerwartet. „Wie bitte? Was hat es?"
Zafar zuckte die Achseln. „Sie hatte mich", bestätigte er. „Die Finsternis hatte mich in ihren Klauen und wäre ... wäre der schwarze Dschinn nicht gewesen, dann stünde ich nicht mehr hier."
Amela blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Sie musste sich verhört haben und wollte schon fragen, was im Namen des allmächtigen Dschinns er mit diesem Unfug meinte, doch Zahir kam ihr dazwischen. Er legte eine Hand auf ihren Unterarm.
„Es war Vater", hauchte er, seine Stimme plötzlich brüchig.
Ein kalter Schauer rieselte Amela den Rücken hinunter. „Wie ... Vater?" Sie musste mehrmals schlucken. „Vater war da? Vater war auf dem Schlachtfeld?"
„Er war der schwarze Dschinn", erläuterte Zahir. „Ich kann es auch nicht erklären, aber er war da, wir haben ihn gespürt. Er hat gesprochen — nur ganz kurz ..."
Zahir schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagte. Doch als er seiner Schwester in die Augen blickte, da wusste sie mit vollkommener Gewissheit, dass er die Wahrheit sprach.
„Vater hat uns vom Fluch befreit", fuhr er fort. „Er hat die Finsternis aus uns rausgeholt und dann hat er sich in Luft aufgelöst."
Amelas Kinn zitterte, während sie mit den Tränen rang, die ihr in die Augen steigen wollten. Ihr Vater — der stärkste Schattenbringer der Welt — war auf die dunkle Seite gesprungen und hatte ein letztes Mal Gutes getan, bevor er vom Licht vernichtet worden war. Das klang unmöglich, aber nicht für den grössten Sultan aller Zeiten.
„Er ... er hat euch geholfen", realisierte Amela. „Baba hat euch geholfen."
Die Sandleser nickten, die Gesichter ernst und nachdenklich.
Eine Träne löste sich von Amelas Augenwinkeln, die sie schnell wegstrich. „Die Familie war ihm schon immer wichtig", sagte sie schniefend. „Wichtiger als alles andere."
Sie nahm Zahirs Hand und jene von Zafar und drückte sie beide.
„Lasst uns sein Vermächtnis für immer würdigen."
Ein stummes Einverständnis herrschte zwischen den drei Geschwistern. Sie mussten es nicht laut aussprechen, aber sie versprachen einander, dass sie zusammenhalten würden — fortan und für immer, denn diese Familie durfte nicht weiter zerfallen.
Amela seufzte und liess ihre Brüder wieder los.
„Und jetzt sollten wir den Pyromanen finden", schlug sie vor und liess den Blick über das Schlachtfeld schweifen.
Wenn sie schon mitten im Gewusel gelandet war, dann konnte sie mindestens dafür sorgen, dass sie alle vereint wurden. Sie musste die Familieneinheit wiederherstellen und dazu gehörte leider auch der irrwitzige Feuerspucker.
Die Sandleser folgten ihrer Bitte ohne Widerspruch und schauten um sich. Amela verschwendete keinen Augenblick und sandte ihr Signal aus, um Hamza zu finden. Seine Magie war nicht aufzuspüren, aber das war nicht aussergewöhnlich. Der Feuerspucker hatte nämlich die dumme Fähigkeit, sich vor Amelas Magie drücken zu können.
Gemeinsam begannen sie das Schlachtfeld zu durchkämmen. Zahir und Zafar blieben an ihrer Seite, folgten ihr und suchten mit ihr das weite Tal ab.
Najmahs Licht floss währenddessen wie ein ewiger Bach aus Sternenstaub und Kristallen über ihre Köpfe und schenkte ihnen Licht und Geborgenheit. Die letzten Wesen der Unterwelt krochen jaulend über den Boden, vom Licht erblindet und geschwächt.
Bald hatte es Najmah geschafft.
Bald hatte sie die Welt vom Bösen befreit.
☆☆☆
Die Geschwister durchschritten die flache Ebene und suchten mit allen Mitteln nach dem Feldmarschall.
Dieser schien wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Weit und breit vernahm Amela kein einziges feuriges Signal, das ihre Magie zurückwerfen wollte. Je länger sie suchten, desto mehr wuchs ihre Sorge an.
Wo steckte Hamza bloss?
Sie ging neben Zahir, während Zafar aufgrund seiner Erschöpfung etwas zurückgefallen war und hinter ihnen herschlurfte.
Ruckartig hielt Zahir inne, als wäre er von einem Blitz getroffen worden. Er griff sich an die Brust, so sehr, dass sich seine Finger in seinen Kaftan und in seine Haut gruben. Sein Gesicht verlor jegliche Farbe.
„Zu viel!", keuchte er. „Es ist zu viel!" Er sah aus, als hätte er plötzlich Unmengen an Blut verloren.
Amela verstand im ersten Moment nicht, was er meinte. „Was ist zu viel?"
Zahirs Augen weiteten sich. Er stöhnte auf und presste seine Hand noch fester auf den Brustkorb.
„Sie ... sie gibt zu viel! Ihr geht die Kraft aus!"
Die letzten Worte schrie er geradezu.
Amela erstarrte zu Eis, denn nun vernahm sie es auch. Die verheissungsvolle, prickelnde Luft, die in Najmahs Licht erstrahlte, flaute ab, wurde schwächer. Viel zu schnell.
Najmah verglühte.
Zahir zögerte keinen Herzschlag länger. Er rannte augenblicklich los. Amela konnte ihn nicht aufhalten. Er hetzte zur Treppe, als ob sein Leben davon abhinge.
Sie waren auf der Suche nach dem Feldmarschall tief ins Schlachtfeld vorgedrungen. Zahir sprang über Körper und Kadaver, seinem einzigen und letzten Lebenssinn entgegen. Der Weg zu Najmah war weit.
Unendlich weit.
Zafar schloss mit seiner Schwester auf und blieb neben ihr stehen. „Was macht der Idiot?", fragte er.
„Najmah..." Mehr brachte sie nicht über ihre Lippen, denn ein Schluchzen verliess ihre Kehle.
Zafar folgte ihrem Blick. Seine Augen hefteten sich auf seinen Bruder, der im Wettlauf gegen das Unausweichliche über das Schlachtfeld sprintete. Noch nie in ihrem Leben hatte Amela ihren Bruder so schnell laufen sehen.
„Hör auf! Najmah, hör auf!"
Zahirs panische Rufe zerrissen die Luft und damit auch Amelas Herz.
Zafar blieb ungewöhnlich still. Sein ernster Ausdruck und die Kerbe zwischen seinen Brauen glätteten sich. Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen wider, als auch er es endlich fühlen musste, wie Najmahs Licht erlosch.
„Sie brennt aus." Seine Stimme war angesichts der rauen Wirklichkeit unfassbar ruhig. „Sie ist eruptiert und wir haben es nicht gemerkt."
Amela glaubte, ihr Bewusstsein zu verlieren. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen, denn mit dieser Last würde sie nicht leben können. Sie hatte geglaubt, dass Najmah sich kontrollieren könne. Sie war doch so stark geworden!
Aber die Wirklichkeit bewies ihr das Gegenteil.
Najmahs Kraft floss unaufhaltbar aus ihrem Herzen, wie das Licht eines sterbenden Sterns.
Amela sank zu Boden und wimmerte.
Der Tod eines Sterns war das, was neues Leben brachte. Amela hatte das schon immer gewusst. Es war ein notwendiger Akt in der Leere des Himmelszeltes. Sternenstaub würde in die Unendlichkeit der Welt geschleudert und Teil eines neuen kosmischen Tanzes werden. Es war ein Ende und eine Wiedergeburt in einem.
Es war Najmahs Geschenk. Ihr Leben für das der Menschen.
Zahir rannte wie ein Besessener in ihre Richtung. Er erreichte den Ansatz der Treppe und erklomm die Stufen in grossen Sprüngen.
Amela konnte kaum hinsehen.
Najmahs Körper hörte auf zu glühen. Das Strahlen ihrer Haut zog sich von ihren Gliedmassen zurück, bis nur noch ein Fleck im Zentrum ihrer Brust leuchtete. Der Lichtpunkt flackerte. Sie schwankte von einer Seite zur anderen, ihr Kopf rollte nach vorne und dann fiel sie auf die Knie.
Zahir überwand im selben Moment die letzte Stufe. Der Schrei, der ihm entwich, hallte über das Schlachtfeld und vermischte sich mit jenem von Amela.
Zafar bewegte sich neben seiner Schwester. Er ballte seine Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf.
„Nicht heute, Naj!", knurrte er und liess die Treppe aus Sand, auf welcher sie verglimmte, in sich zusammenstürzen.
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Hallo meine Süssen
Najmah hat wortwörtlich alles gegeben. Nicht unbedingt das, was ihr euch erhofft habt, oder?
*geht sich schnell im Sand vergraben*
Am Wochenende würde ich die drei letzten Kapitel in einer Mini-Lesenacht veröffentlichen. Dabei schwebt mir Sonntag-Abend ab ca. 20.00 Uhr vor. Was meint ihr? Geht euch das?
Ich freue mich auf das Ende und auf eure Reaktionen!
Hab euch natürlich sehr sehr lieb
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