46 - Das Tor zur Unterwelt
„Eine Hand voll Wasser kann einen Menschen ersäufen."
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Der Regen prasselte hart und erbarmungslos auf die Soldaten nieder und erstickte die Kräfte der Windflüsterer und Feuerspucker, der Eishaucher und Sandleser, der Pflanzensäer und Blitzfänger im Keim.
Gegen die stärkste Wassertänzerin der Wüste kam keiner an. Ihre Magie war übermächtig und erdrückend.
Ich löste den Blick von den Wolken und beobachtete die Prinzessin, die mit ausgestreckten Händen neben mir stand und ihre gebündelte Kraft auf das Schlachtfeld warf.
Hamzas Befehl rang noch in meinen Ohren. Der Schock und das Entsetzen über das, was ich gesehen hatte, lähmte mich. Wir hatten gerade erst die Hochebene erreicht, als zwei baumhohe Kugeln aus glühendem Feuer auf die dichtgeschlossene Kampfformation der Dohad katapultiert worden waren.
Der Ruf, der darauf gefolgt war, hatte mir eine Gänsehaut verpasst, die noch immer anhielt.
Hamza hatte ein elementares Chaos auf dem Schlachtfeld ausgelöst und obwohl Amela unverzüglich ihre Kräfte entfesselt hatte - nicht um zu töten, sondern um zu schlichten - waren dennoch Dohad gestorben.
Es schien, als zürnte der Himmel deswegen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich einen solch mächtigen Regensturm erlebt, wie jener, der sich in diesem Moment über die Muzedin und Dohad wälzte und sie geradezu in die Knie zwang. Der Sand wurde dunkel und schwer, verwandelte sich an manchen Stellen zu zähem Schlamm. Die Luft kühlte so sehr ab, dass ich zu frieren begann. Die Regenfäden raubten allen die Sicht und liessen die Krieger im Kampf innehalten.
Sowas wie Resignation schien sich auszubreiten. Die Männer ergaben sich den Tränen des Himmels.
Vorsichtig legte ich meine Hand auf Amelas Oberarm. Meine Freundin zitterte von den Emotionen. All die Wut, den Frust, die Enttäuschung über ihren Bruder hatte sich zu einem gewaltigen Regensturm aufgebaut und sich kataklystisch auf das Schlachtfeld entladen.
„Ich glaube, das reicht", flüsterte ich.
Obschon ich vermutete, dass Amelas Kräfte ebenso grenzenlos waren wie meine eigenen, wollte ich nicht, dass sie sich verausgabte. Ich rüttelte sanft an ihr, bis sie endlich nachgab.
Ihre Schultern sackten ein. Sie schwankte nach vorne, doch ich hielt sie an der Kleidung fest, ehe sie über den Rand der Hochebene in die Tiefe gefallen wäre.
Das Summen ihrer Kraft verebbte.
Die Tropfen liessen nach und gaben der Sonne am Himmel wieder Platz. Ihre Strahlen wärmten mich, als hätte Amela nicht soeben das Wetter dermassen drastisch manipuliert und von einem Wimpernschlag zum anderen einen heissen Tag in einen Sturm aus Nässe und Kälte verwandelt. Nur der Geruch nach Regen, der in der Luft hängen blieb, liess vermuten, was vor wenigen Augenblicken geschehen war:
Am trockensten Ort der Wüste - im Tal der Tränen - hatte es erstmals geregnet. So heftig, wie noch nie.
Während ich die Prinzessin hielt und sie sich dankbar an meinen Arm klammerte, um zu Atem zu kommen und ihre Energie zu sammeln, betrachteten wir das Schlachtfeld zu unseren Füssen. Die Soldaten rappelten sich auf, rafften sich im dicken Schlick auf die Beine und suchten nach ihren Freunden, die sie im Durcheinander aus den Augen verloren hatten. Es sah so aus, als hätten sie vergessen, dass sie eigentlich hierher gekommen waren, um sich gegenseitig zu vernichten. Keiner schien mehr kämpfen oder töten zu wollen.
Es war ein kurzer Moment der Hoffnung. Einer, in dem ich glaubte, wir hätten es tatsächlich geschafft, die Dinge zu verändern.
Doch ehe ich mich darüber freuen konnte, ging eine Erschütterung durch den Boden, die so heftig war, dass es die Männer auf dem Schlachtfeld von den Füssen warf. Selbst die Elefanten stürzten und begruben einige Soldaten unter sich.
Amela fiel auf die Knie und ich plumpste auf meinen Hintern.
Ein Erdbeben schüttelte uns durch.
Diese Kraft hatte keinen natürlichen Ursprung. Ich spürte es. Es war falsch und verdorben.
Mit aufgerissenen Augen beobachtete ich, wie sich ein Riss in der Erdkruste bildete und sich in rasender Geschwindigkeit quer über das Schlachtfeld zog, immer grösser wurde und sich schliesslich zu einer klaffenden Wunde öffnete.
Soldaten fielen kreischend in den Abgrund.
„Nein!", rief Amela mit verzerrter Stimme. Sie krallte ihre Finger in den Boden, während sie fassungslos mitansah, wie sich die Welt vor uns spaltete. „Nein, nein, nein, nein, nein!"
Aus dem schwarzen Riss in der Erde kroch das Böse hervor.
Spinnen so gross wie Bären gefolgt von Ghulen, deren Haut in Fetzen von ihren Körper hingen und behaarte Chimären kletterten aus dem Loch ans Tageslicht. Und mit ihnen weisse und schwarze Nebelschwaden - Seelenfresser und blutrünstige Dämonen, die ihre Fühler nach dem Leben ausstreckten.
Die hässlichen Ausgeburten der Dunkelheit. Das Heer der Unterwelt.
Als hätte jemand den Sand der Zeit zum Stillstand gebracht, schien die Welt den Atem anzuhalten. Die Männer auf dem Schlachtfeld trauten ihren Augen nicht und waren vor Schock genauso erstarrt wie wir.
Und dann verschlang uns die Finsternis und raubte uns das Augenlicht.
☆☆☆
Als Kasbahrin hatte mir die Dunkelheit noch nie Angst gemacht, weil ich wusste, dass mich die Sterne begleiten würden, wenn ich den Weg nicht mehr fand.
Sie würden immer für mich leuchten.
Das war eine Gewissheit, auf die ich mich mein ganzes Leben lang hatte verlassen können. Selbst in dunkelster Nacht waren die Gefährten immer für mich da gewesen und darum war es der natürliche Instinkt einer Nomadin, den Kopf in den Nacken zu legen, um nach Altair zu suchen.
Doch mein Leitstern war verschwunden.
Der Himmel war so schwarz wie ein Tintenglas. Die Sonne, die Sterne und der Mond, sie schienen verschluckt worden zu sein. Ich blinzelte, denn ich wollte es nicht glauben. Kein Licht zierte die Kuppel über unseren Köpfen.
Es war wie in einem Albtraum.
Die Dunkelheit war überall, hatte sich auf die Welt gelegt wie ein Umhang des Todes. War das die Strafe für den Verstoss gegen den Kodex des weissen Dschinns?
Ein Welt ohne Licht?
„Es ist zu spät!", keuchte Amela neben mir. „Es ist zu spät!"
Ich sah sie nicht, doch plötzlich wurden Feuer gezündet. Auf dem Schlachtfeld flammten sie auf wie kleine Lichtpunkte in einem Meer aus Nichts und Verlorenheit. Die Feuerspucker nutzten ihre Magie, um zu sehen!
Die Männer dort unten waren ebenso blind wie wir hier oben. Blind und den Ungeheuern ausgeliefert, die aus dem Tor zur Unterwelt gekrochen waren. Sie versuchten, mit ihren Kräften Licht ins Dunkle zu scheinen.
Und es funktionierte. Schemenhafte Gestalten waren zu erkennen, die sich in Gruppen formierten. Ob es Muzedin oder Dohad waren oder sogar beide zusammen, war nicht auszumachen. Allein ihre Silhouetten konnte ich sehen und wie sie sich im fahlen Licht der Flammen näher zusammendrängten.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, denn Schatten huschten an ihnen vorbei, tigerten herum, umstellten sie - viel zu grosse und behornte Schatten!
Und jäh wurden die Feuer ausgepustet.
Die Stille, die daraufhin folgte, dauerte nur einen Herzschlag an, dann durchschnitt ein grässlich hoher Schrei die Luft.
Funken sprühten, Gebrüll ertönte. Die Muzedin liessen ihre Magie los, das fühlte ich an der Vibration, die durch den Sand bis in meine Beine drang.
Feuerkugeln jagten durch die Lüfte, zerbarsten an riesigen, unmenschlichen Körpern. Blitze schossen vom Himmel in den Boden, wie strahlend weisse Speere von Göttern geworfen. Sand, Erde, Wasser, Eis und Wind gingen ins Leere, ins Dunkle.
Im Angesicht all dieser Schrecklichkeit, konnte ich nur eines denken:
„Sie brauchen Licht."
Meine Knie hielten mich erstaunlich stabil, als ich mich auf die Beine hievte.
„Es ist zu spät!", schluchzte Amela. „Sie werden alle sterben!"
Dank des aufflackernden Feuers konnte ich sie sehen. Sie hockte auf den Knien und starrte in den Abgrund und auf die Grässlichkeit, die sich vor uns abspielte.
„Du musst mir helfen, Amela", sagte ich mit möglichst ruhiger, aber resoluter Stimme.
Die Prinzessin hob den Blick. Tränen hatten ihre Schminke verschmiert, aber selbst wenn sie vor Verzweiflung und Furcht gebeutelt war, Amela war für mich noch immer die stärkste Frau, die ich kannte. Sie war die Frau, die mir alles über mich und meine Stärke beigebracht hatte.
Ich lächelte und wusste nicht, woher das kam. Amela stutzte deswegen.
„Du und ich", sagte ich und deutete zwischen uns, „werden unsere Kräfte fusionieren."
Das Schlachtfeld erhellte sich wegen eines gigantischen Feuerstrahls für ein paar wenige Augenblicke. Hamza. Das musste Hamza sein, der sich mit aller Kraft gegen die Dunkelheit wehrte, die er selbst heraufbeschworen hatte. Amelas Blick blieb an den züngelnden Flammen hängen, die aus der Herzenskraft ihres Bruders stammten. Sie sah so unendlich traurig aus.
Ich streifte mit meinen Fingern ihren Arm, damit sie mir ihre Aufmerksamkeit wieder schenkte, denn es war wichtig, was ich von ihr verlangte. Überlebenswichtig.
„Du bist das Leben, Amela", fuhr ich fort, den Blick auf ihre unendlich blauen Augen gerichtet. „Dein Wasser ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf Leben und Erlösung. Es ist der kostbarste Schatz in der Wüste."
Ich lächelte sie an, denn die Worte stimmten auch so für mich. Amela war neben Zahir mein kostbarster Schatz. Eine Freundin, die immer an mich geglaubt hatte, die für mich eingestanden hatte, wenn ich es nicht für mich selbst gekonnt hatte. Es war an der Zeit, dass ich ihr das alles zurückgab. Ich würde für sie einstehen. Für sie und die Muzedin, von denen ich den Stolz und den Mut gelernt hatte.
„Und ich bin das Licht", fuhr ich fort. „Meine Kraft strahlt heller als Altair. Ich kann den Männern mein Licht schenken, damit sie-"
„Was auch immer du vorhast: Nein!", unterbrach mich Amela. „Ich lasse es nicht zu, dass du dein Leben aufs Spiel setzt."
Ich packte sie an beiden Schultern und zog sie zu mir hoch, damit sie stand und mir auf Augenhöhe begegnete. „Bitte hör mir zu!", flehte ich.
Amela schüttelte den Kopf. Diesmal heftiger. „Nein, Najmah. Es war schon schlimm genug, dich in den Trümmern zu suchen und dich nicht zu finden. Ich werde dich nicht ein zweites Mal verlieren - und das noch auf einem Schlachtfeld!"
Ihre Stimme war schrill.
„Das wirst du nicht", besänftigte ich sie, obwohl ich nicht wusste, ob das tatsächlich stimmte. „Aber wir müssen unsere Kräfte vereinen, sonst verlieren wir alles."
Ich machte eine Kopfbewegung, die ins Tal hinab deutete, wo die Männer gegen die Dunkelheit kämpften. Mein Herz wog schwer für meinen Sandleser, der sich dort unten in dem Wahnsinn befand. Ich hatte noch nicht in mich hineingehorcht, um ihn zu ertasten, denn zu sehr fürchtete ich mich davor, dass er meine Präsenz wahrnehmen und es ihn vom Überleben abhalten könnte.
Er musste der tapfere und unerschrockene Kämpfer bleiben, bis das alles vorbei war.
Ich schluckte schwer. „Du weisst, dass ich Zahir niemals in der Dunkelheit zurücklassen würde. Und auch Zafar nicht ... Selbst Hamza will ich da rausholen! Es sind deine Brüder, Amela. Wir müssen ihnen helfen!"
Amelas verzog das Gesicht. Tränen flossen ihr über die Wangen.
„Ich wollte ja ... aber ich ... ich kann sie nicht mehr beschützen. Ich kann nicht mehr!" Sie schüttelte den Kopf und liess einen Schluchzer hören. „Hamza hat alles zerstört. Ich ... ich konnte ihn nicht ... Er ... er ..."
Es brach mir das Herz, sie so verzweifelt zu sehen. Sanft, aber dennoch bestimmt, beförderte ich eine Ladung meiner Kraft durch ihren Leib, um sie wachzurütteln. Noch war es nicht Zeit, um aufzugeben.
Nicht für mich.
Amela zuckte zusammen und funkelte mich empört an. „Hey! Warum pikst du mich mit deiner Magie?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Weil du Mist redest und ich dich bei Sinnen brauche. Heulen kannst du später bei einer Tasse Tee und Schokoladenkuchen."
Für einen Moment starrte mich die Prinzessin fassungslos an, als müsste sie sich erst überlegen, welche Drohung sie aussprechen wollte, um mich für meine Dreistigkeit zu strafen. Dann kniff sie jedoch die Augen zu engen Schlitzen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du bist frech geworden, Mädchen."
So gefiel sie mir schon besser.
„Ich bin stark geworden", widersprach ich ihr. „Und das habe ich dir zu verdanken, Schwester."
Amela schnaubte, doch dann richtete sie ihren Blick auf das Chaos und riss sich zusammen. Tief sog sie die Luft in ihre Lungen und blies sie laut wieder aus. Es war ein Seufzer, der die ganze Last und den Kummer von ihr abschütteln sollte.
„Du hast recht", meinte sie schniefend. „Heulen kann ich später. Aber Schokoladenkuchen könnte ich jetzt schon gut gebrauchen."
Ich schenkte ihr ein Lächeln. „Später", sagte ich. „Später essen wir Kuchen."
Amela nickte stumm in sich hinein.
Mein Plan hatte sich wie aus dem Nichts vor meinem inneren Auge entfaltet. Es war riskant, was ich vorhatte, aber es würde funktionieren - mein Herz wusste es.
Die Dunkelheit hatte alle Sterne ausgelöscht, ausser einen.
Mich.
Und ich war der hellste Stern von allen. Altairs Schwester. Mein Licht würden sie nicht nehmen können, denn mein Licht konnte die Dunkelheit vertreiben. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Sie fürchtete sich vor mir.
„Wie hast du dir das vorgestellt?", fragte mich Amela. „Sollen wir Händchen halten und den Jungs und ihren finsteren Schosshündchen da unten einen Sternentanz vorführen, den sie nie in ihrem Leben vergessen werden?"
Ich musste bei der Vorstellung heiser auflachen, doch schüttelte ich sogleich den Kopf.
„Nein", erwiderte ich. „Du wirst mein Spiegel sein und mein Sternenlicht wie ein Diamant in alle Richtungen reflektieren."
Amelas Augen schnippten zu mir und begannen aufgeregt zu glitzern. Diese Vorstellung schien ihr sehr zu gefallen.
„Lass uns Licht und Leben auf die Dunkelheit schleudern, sodass es sie wegfegt und sie sich für immer in ihr schmutziges Loch verkriecht", sagte ich und liess es wie eine Herausforderung klingen. „Abgemacht?"
Ein breites Grinsen verzog Amelas Lippen und enthüllte ihre weissen Zähne darunter.
„Abgemacht."
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Juhu, die Ladies sind da, um die Welt zu retten! Hamzas Bruch hat leider das Böse heraufbeschworen.
Denkt ihr, dass Najmahs gewagter Plan aufgehen wird?
Wir schreiben uns am Samstag. ❤️
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