15 - Familiengeheimnisse
„Auf Sand geschrieben ist, was du im Alter noch erlernst; in Stein graviert, was du in der Jugend gelernt hast."
☆☆☆
Nie hätte ich gedacht, dass mich das Ende eines Buches dermassen mitnehmen würde.
Ich starrte mit Tränen in den Augen auf die Seiten.
Es tat unfassbar weh, von der fürchterlichen Zerstörung Azouls zu lesen. Die Nachwirkungen von Hamzas Verbrechen waren tiefreichend: Von den Wüstenprinzen, die genötigt worden waren, ihrem ältesten Bruder einen Treueeid zu schwören, den Sandlesern, die aus der Gefängniszelle in den Militärdienst gezwungen worden waren, bis zu Amelas Versuch, ihre Brüder in dem ganzen Chaos zusammenzuhalten — der Feldmarschall hatte seine Familie erfolgreich gespalten.
Mein Herz wog unendlich schwer, doch es war der letzte Abschnitt des Buches, welcher mich gänzlich zerriss:
Mit grossem Bedauern und tiefer Ergriffenheit werden diese letzten Zeilen niedergeschrieben: Der Sultan des ewigen Sandes, Azhar Tall-Qubar ad Milla, mächtigster Schattenbringer und grösster Wüstenherrscher aller Zeiten ist tot. Möge sein Geist für immer im warmen Sand Azouls ruhen.
„Nein!", stiess ich aus. „Nein, das darf nicht wahr sein!"
Sitty hob die Nase aus ihrem Buch und blickte mich an. Sie hatte Kerzen für uns angezündet und sich mit einem Roman zu mir gesetzt.
„Bist du an einer spannenden Stelle angelangt?", wollte sie wissen.
Meine Kehle verschnürte sich, während ich immer und immer wieder über die Sätze flog. Er war dem Einsturz des Palastes zum Opfer gefallen. Das Erdbeben hatte dem Sultan sein Leben gekostet. Sein Leben.
„Najmah? Fühlst du dich nicht gut?"
Der schwarze Dschinn hatte uns gewarnt. Wer sich gegen den Willen der Zeit auflehnte, der würde bitter dafür bezahlen müssen. Kälte zog über meinen Rücken, als stünde ich nochmals in der Zisterne des Palastes und als lecke der Dämon über meine Handfläche.
Zahir würde niemals mit dieser Verantwortung leben können. Ich kannte ihn. Er wollte Menschen helfen und wenn sie wegen ihm zu Schaden kamen, dann nagte das an seiner ganzen Substanz. Aber das hier — der Tod seines eigenen Vaters — das würde ihn vernichten. Die Qualen seines Herzens mussten grenzenlos sein.
„Du bist bleich", hörte ich Sitty sagen. Sie lehnte sich vor und zog mir das Buch aus den Händen. Verwirrt blinzelte ich sie an. „Ich glaube, dass du mit dem Lesen aufhören solltest. Diese Bücher sind nicht gut für dich."
Sie legte das Werk zur Seite.
Ich schüttelte den Kopf. Zahir hatte all das nur wegen mir getan. Die Menschen Azouls und der Sultan waren gestorben, weil er mich retten wollte. Er hatte mich zurückgeschickt und damit seine Welt, sein Zuhause, seine Familie zerstört.
Es war alles meine Schuld.
Meine Finger zitterten, als ich meine Hand zum zweiten Buch von Adil ausstreckte.
„Nein, Sitty", sagte ich mit brüchiger Stimme. „Ich muss wissen, wie es weitergegangen ist."
Es war meine Pflicht. Ich musste Sühne leisten für dieses schreckliche Schicksal, welches die Sultansfamilie wegen mir befallen hatte. Das zweite Werk von Adil — Die grosse Schlacht — lag schwer in meiner Hand, als ich es zu mir nahm und es auf der zweiten Seite aufschlug.
„Bevor du davon Albträume kriegst, solltest du aber aufhören", mahnte mich Sitty.
Ich hörte nicht mehr hin. Der Wissensdurst und die Panik flossen gleichzeitig durch mich hindurch wie ein reissender Strom, der nicht mehr aufgehalten werden konnte.
Was hatte Hamza noch angestellt? Was war aus Zahir und Zafar geworden? Wie war es der Prinzessin ergangen? Ich hoffte, die Antworten darauf in diesem Buch zu finden, doch schnell stellte sich heraus, dass es sich bei diesem Werk nicht um eine Familienbiografie der Sultans handelte sondern tatsächlich um ein Geschichtsbuch.
Als Erstes las ich eine einleitende Passage, welche die Hintergründe des Konfliktes zwischen den Muzedin und der Dohad erklärte. Ich erfuhr, dass es über die Zeit insgesamt zwei Kriege zwischen den Völkern gegeben hatten — beide offenbar so verheerend wie ein Sandsturm in der Wüste.
Adil schrieb:
Einen massgeblichen Auslöser für die zwei grossen Kriege lässt sich in den divergierenden sozio-kulturellen Ansichten des dohadischen Bauernvolkes und der muzedinischen Wüstensiedler identifizieren.
So kam es bereits vor dem ersten Krieg zu gewalttätigen Ausschreitungen an der Grenze beim weissen See. Berichten zufolge flüchteten dohadische Frauen aus Tantina nach Qarda, weil sie sich Freiheit von der Knechtschaft ihrer Männer erhofften. Die in Qarda ansässigen Muzedin boten den Flüchtigen Schutz, obwohl die Dohad dies ausdrücklich verboten.
Der dohadische Herrscher Kaplan der Gnadenlose erklärte sodann im 550. Sternzyklus den Muzedin den Krieg und löste damit einer der blutigsten Konflikte zwischen den Völkern aus, welcher als erster dohadischer Krieg in die Geschichte eingehen sollte.
Nach der verheerenden Schlacht, bei welcher beidseitig die Armeen um die Hälfte dezimiert worden waren, vereinbarte der Sultan Samad Tall-Qubar mit Kaplan dem Gnadenlosen einen Friedenspakt. Dabei mussten die Muzedin weite Gebiete an die Bauern abtreten, einschliesslich den Ländereien um den weissen See.
Allerdings konnten die tiefverwurzelten Feindschaften mit dem Unterzeichnen eines Friedensvertrages nicht gestillt werden. Kaplan wollte sich mit einem Waffenstillstand nicht zufrieden geben und so schlugen die Dohad drei Generationen später mit brutaler Hand wieder zu.
Der Grossenkel von Kaplan — Oman der Listige — führte im 701. Sternzyklus den Überraschungsangriff auf die Muzedin in Qarda an vorderster Front an und löste damit den zweiten dohadischen Krieg aus.
Ich hielt den Atem an.
Hamza hatte also nicht gelogen! Die Attacke der Dohad an der nordwestlichen Grenze geschah tatsächlich, so wie er es behauptet hatte. Nur warum hatte niemand davon gewusst?
Schnell blätterte ich weiter und hoffte, eine Erklärung in meinen Schriften zu finden. Nach ein paar Momenten des Suchens, wurde ich an einer Stelle fündig:
Die Raffiniertheit der Dohad war das, was dem Sultan seine Herrschaft kostete. Azhar Tall-Qubar erfuhr nichts von den fortschreitenden Anfeindungen an seiner Landesgrenze, weil die Dohad seine Palastboten über Generationen hinweg infiltriert hatten.
Die Unterwanderung des Botenpersonals von Hamza Tall-Qubar allerdings gestaltete sich aufgrund der kopflosen Loyalität der blauen Krieger ihrem Befehlshaber gegenüber als unmögliches Unterfangen. Sie liessen sich nicht bestechen. Aus diesem Grund erfuhr Hamza vor seinem Vater von den Unruhen an der Grenze und dem Einmarsch der feindlichen Truppen. Der inkonsistente Informationszufluss entwickelte eine Eigendynamik und destabilisierte den Palast von innen, was folglich zum Sturz des Sultans durch seinen eigenen Sohn und letztendlich zu seinem Tod führte.
In der grossen Schlacht im Tal der Tränen trafen die blauen Krieger schliesslich auf Omans Heer.
Ich schloss seufzend die Augen. Hätte sich die Familie bloss aufeinander verlassen, dann wäre es womöglich nie so weit gekommen.
Hamzas Entsetzen hatte ich durch seine Wut gespürt. Es musste schrecklich für ihn gewesen sein, von niemandem gehört zu werden, von niemandem ernst genommen zu werden. Ich verstand nun, warum er zu solch heftigen Mitteln gegriffen hatte. Er hatte vermutlich keinen anderen Weg mehr gesehen, um sein Land zu retten.
Ich wollte weiterlesen und gerade das letzte Stück der Einleitung überfliegen, da riss mich meine Grossmutter aus meiner Lektüre.
„Willst du einen Tee?"
Meine Augen brannten und die Müdigkeit zerrte an mir. Ich brauchte tatsächlich eine Pause.
„Gerne."
Ich schob das Buch von meinem Schoss, liess die Seite jedoch offen stehen, wo ich aufgehört hatte zu lesen. Gedankenverloren starrte ich darauf.
War dieser Konflikt der Grund, weshalb in meiner Zeit keine Magie mehr existierte? Waren es die Dohad gewesen, welche die Muzedin annihilierten? Die blauen Krieger waren nicht das einzige magische Volk auf Erden gewesen. Es gab ja noch die Serengeke und die Casbari. Was war aus diesen Völkern geworden?
Wohin waren all die Sandleser, Schattenbringer, Sonnenfänger, Wassertänzer, Pflanzensäer und Windflüsterer dieses Welt verschwunden? Der Erdboden hatte sie wohl kaum verschluckt.
So viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf.
Ich hob den Blick. Grossmutter goss Tee ein, reichte mir eine Tasse und gab mir dazu noch eine Dattel, die ich in den Mund steckte, um daran zu nuckeln. Ich beobachtete sie, wie sie an ihrer eigenen Tasse nippte und sich wieder ihrem Buch widmete.
Ein sanfter Wind schien meinen Nacken zu streicheln. Draussen war es stockdunkel. Die Zikaden zirpten ihr Lied und der Mond und seine Gefährten tauchten die Dächer Keshs in ein silbernes Licht.
In dem Moment fühlte ich mich mehrere Sternzyklen zurück in meine Reifezeit versetzt. Als ich bis spät in die Nacht zusammen mit Sitty Bücher im Kerzenschein verschlungen hatte und wir uns darüber ausgetauscht hatten — nur sie und ich.
„Sitty?", flüsterte ich in die Stille.
Sie hob bloss die Augenbrauen, nicht aber ihre Lider und blickte weiterhin in ihr Buch. Es musste eine spannende Geschichte sein, die sie da konsumierte.
„Hm?"
„Warum gibt es eigentlich keine Magie mehr?"
Ihre türkisen Augen richteten sich prompt auf mich. Sie fixierte mich, das Buch in der Luft, die Tasse an ihren Lippen, wie eine Statue aus Marmor in der Zeit eingefroren. Dann senkte sie beide Arme.
„Ich habe mich schon gewundert, wann du mir endlich diese Frage stellst."
Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Was? Wie meinst du das?"
Sitty stellte Tasse und Buch auf den Boden und rutschte mit dem Kissen näher zu mir heran. Ihre warmen Handflächen fanden sich auf meinen Oberschenkeln wieder. Sie flüsterte, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten.
„Ich meine damit, dass ich seit deiner Ankunft hier in Kesh darauf gewartet habe, dass du mir diese Frage stellst, Najmah. Es bedeutet, dass du bereit für die Antwort bist."
Ich verstand nicht. „Ich ... was?"
„Ach, es gibt da Vieles, das ich dir sagen muss." Ein müdes Lächeln hob ihre Mundwinkel an. „Bevor ich dir deine Frage beantworte, muss ich dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über das, was ich vor langer Zeit erfahren habe."
Ihre Stimme war so warm wie der Tee, der zwischen uns dampfte.
„Willst du sie hören — die Geschichte?"
Meine Antwort war nur ein Hauchen. „Ja."
Sie setzte sich aufrecht hin und atmete tief durch. Dann begann sie zu erzählen:
„Bevor du geboren wurdest, erreichte eine Schrift unser Zelt – gebracht von einem Wanderer, der durch die Wüste reiste. Ich weiss nicht, wie er deinen Grossvater und mich gefunden hatte. Er war plötzlich einfach da, überreichte uns wortlos einen Umschlag und ging von dannen. Der Brief war von einem unbekannten Absender. Ein Wachssiegel in der Form einer Rose zierte den Umschlag, sonst gab es keine Anzeichen, die auf den Ursprung oder den Verfasser hindeuteten."
„Ihr kanntet das Siegel nicht?"
„Damals noch nicht."
„Was stand in der Schrift?"
Das Gesicht meiner Grossmutter erstrahlte wie ein Sonnenaufgang. Sie lehnte sich vor und legte ihre Hand an meine Wange. Ihr Daumen fuhr über meine Haut.
„Es zeigte uns die Wahrheit", flüsterte sie. „Die Wahrheit über unsere Völker. Eine Wahrheit, über die wir schweigen mussten, wenn uns unsere Leben lieb waren."
Aus einem mir unerklärlichen Grund war ich plötzlich aufgeregt. Womöglich, weil ich ahnte, in welche Richtung das Gespräch zu gehen schien und weil ich wusste, dass man hierüber eigentlich nicht sprechen durfte.
Sitty schien noch leiser zu flüstern. „Es hat uns die Augen geöffnet."
„Was hat es dir gezeigt? Sitty, was stand in dieser Schrift?"
Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee.
„Die Schrift erklärte, wie es dazu kam, dass die Magie von der Erdoberfläche verschwand. Und mit dieser Schilderung will ich dir deine Frage beantworten. Erinnerst du dich noch an die drei magischen Völker, die wir in deiner Ausbildung einmal angeschaut haben?"
Ich nickte mit klopfendem Herzen. Natürlich.
„Nun denn: Die Schrift sprach von einem grossen Krieg und von einem Friedensvertrag, der unter der Bedingung beschlossen wurde, dass sich alle magischen Völker von ihrer Kraft abwenden sollten. Taten sie es nicht, wurden sie verfolgt und vernichtet. Es war zwar ein Frieden, den man ausgehandelt hatte, aber es war einer, der auf einer Herrschaft der Unterdrückung basierte. Neue Gesetze wurden erlassen, die das Tragen und Besitzen von Schmuck verboten, den Mädchen den Zugang zu Büchern und Schulen verwehrte und Frauen zur Heirat mit einfachen, nicht-magischen Männern zwang. Es war der Beginn einer neuen Zeit, welche die Welt grundlegend verändern sollte."
Meine Augen huschten zu dem dritten Werk von Adil. Neue dohadische Rechtssprechung. Erzählte dieses Buch womöglich von eben dieser neuen Epoche?
„Warum?", murmelte ich, denn ich verstand nicht. „Warum wurde so hart gegen die Magie vorgegangen?"
„Die Tyrannen wollten das magische Blut ausdünnen und dafür sorgen, dass alles Wissen über die innere Stärke der drei grossen Völker über die Zeit und über die Generationen hinweg vergessen geht", erwiderte Sitty. „Warum, fragst du? Die Angst und der Neid treiben Menschen zu schrecklichen Taten, Najmah. Sie vergiften das Herz."
Wenn es wirklich die Dohad gewesen waren, welche alle magischen Menschen ihrer Kräfte wegen verfolgt hatten, dann mussten ihre Herzen wahrlich verrottet gewesen sein. Ich starrte betreten zu Boden.
Währenddessen fuhr meine Grossmutter fort:
„Die Tyrannen unterjochten die drei grossen Völker mit Erfolg, doch was sie unterschätzten, war die Widerstandsfähigkeit unserer Kräfte."
Mein Kopf jagte in die Höhe. „Unserer?"
Der Ansatz eines Lächelns zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Sitty lehnte sich weiter vor, sodass sich unsere Blicke verbanden und ich glaubte, dass sie in meine Seele sehen konnte.
„Die Schrift verriet mir und deinem Grossvater ein Geheimnis. Nämlich, dass wir eine ungewöhnliche Kraft besässen und dass sich diese Magie in unseren Herzen befände, wie ein Kern, der darauf warte, bewässert zu werden."
Mein Atem stockte.
Sie lachte auf, während ich ihre Worte kaum verarbeiten konnte. „Es sagte, dass magisches Blut durch unsere Adern fliesse! Wir wurden als Windflüsterin und Wassertänzer bezeichnet."
Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Arme aus und wanderte hinauf in meinen Nacken. „Magie?", hauchte ich. „Es sprach von eurer Magie?"
Sie nickte.
„Und ihr habt dem geglaubt?"
„Natürlich, mein Kind. Endlich verstand ich, warum dein Grossvater immer so begabt darin gewesen war, Wasser in der Wüste aufzuspüren und warum der Wind auf unerklärliche Weise zu mir sang!"
„Wie ... wie konntet ihr so etwas Verrücktes glauben?"
Sie zwinkerte mir zu. „Nur weil etwas unmöglich erscheint, heisst es nicht, dass es das sein muss."
Sitty streckte ihre Finger nach mir aus und ganz unwillkürlich legte ich meine Hand in ihre.
„Die Entdeckung unserer Kräfte war wie eine Wiedergeburt unserer Selbst, Najmah. Und als wir kurz darauf dich in die Welt begrüssten und du in tiefster Nacht geboren wurdest und Altairs Licht aus dir schien, da wussten wir, dass du zu den Sternen gehörtest."
„Sitty."
„Nicht ohne Grund habe ich dich die hellste Kasbahrin genannt, Najmah", flüsterte sie und da spürte ich ein warmer Windhauch, der sich auf meine Handfläche legte. „Ich habe deine Kraft gespürt, da warst du kaum einen Tag alt."
Die Wärme kroch in meinen Arm, schlingerte hinauf in meine Brust. Es war ein vertrautes Gefühl.
„Ich hielt dich in meinen Armen, wog dich hin und her und habe alles gesehen."
Sitty war wie laue Wüstenluft, die sich um mich schmiegte und mir Leben einhauchte. Erschrocken riss ich die Augen auf, als ich realisierte, was sie tat.
Die magische Kopplung!
Aus ihrer Hand floss eindeutig Magie. Das vertraute Vibrieren trieb mir die Tränen in die Augen. Es war das Gefühl von Zuhause. Als stünde ich im Saal der tausend Winde und liesse die Böen meinen Nacken streicheln.
Sitty verfügte über magische Kräfte! Der Beweis hauchte wie ein sanfter Luftzug über meine Haut.
„Wie kann das sein?", krächzte ich und blickte auf unsere verbundenen Hände. „Du bist keine Kasbahrin."
Sie war eine Blume des Nordens. Eine Frau aus den kalten Reichen der Gebiete nördlich der Smaragdsee, die weit hinter meiner Vorstellungskraft lagen. Sie war keine Kasbahrin, sondern hatte eingeheiratet. Vor langer, langer Zeit.
Meine Grossmutter begann zu grinsen. Nicht lächeln, nein, grinsen. Es war ein breites, beinahe mädchenhaftes, freches Grinsen.
„Ich besitze die Kraft des weissen Dschinns in mir, Najmah", sagte sie, „weil ich eine Muzedin bin."
Sie liess mich los. Ich starrte sie einfach nur an, brachte kein Wort über meine Lippen. Meine Grossmutter war eine Muzedin?
„Unsere Vorfahren flüchteten vor langer Zeit vor dem Krieg und zogen weit in den Norden. Dort waren sie vor dem Hass der Tyrannen sicher und konnten ihre Kräfte schützen", erklärte sie.
„Oh, Sitty!", stiess ich aus und warf mich in ihre Arme, sodass sie beinahe umkippte, doch ich hielt sie fest, presste mein Gesicht so stark in ihre Halsbeuge, dass es meine Nase platt machte.
Unfassbare Freude flutete mein Herz, meine Seele.
„Zerdrück mich nicht!", japste Sitty. „Meine Knochen machen das nicht mit!"
Ich löste mich von ihr und musste dabei gleichzeitig lachen und weinen. Vor Glück.
„Du weisst nicht, wie erleichtert ich bin!", brachte ich atemlos hervor. „Ich wollte dir so gerne davon erzählen, aber ich hatte Angst, dass du es nicht glauben würdest."
Ihre Hand fand meine Schulter und strich besänftigend darüber. „Ich weiss, mein Kind, jedoch hätte ich dich gewiss nicht verurteilt. Du bist meine Enkelin. Meine Liebe für dich ist so tief wie ein Brunnen ohne Grund."
Es war eine Erlösung.
Die Furcht wurde mit diesen Worten von mir gefegt. Ich richtete mich auf, streckte den Rücken durch und straffte die Schultern, als wären sie endlich von einer felsenschweren Last befreit worden.
Ich durfte sein, wer ich war.
Ich musste mich vor ihr nicht verstecken.
„Wissen meine Eltern–?"
Sie schüttelte den Kopf. „Wir konnten es ihnen nicht sagen."
„Warum nicht?"
Ein Schulterzucken. „Es war einfacher, Idris und Beyla nichts erklären zu müssen. Sie hätten es nicht verstanden. Ihre Werte sind ... veraltet."
Sieben Sternzyklen lang hatte ich in diesem Haus gelebt, doch nie, aber auch wirklich nie hatte Sitty jemals ein Wort über ihre Magie verloren. Ich hatte nicht geahnt, welch grosses Geheimnis sie mein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen hatte!
„Warum hast du mir das nicht schon viel früher gesagt?", fragte ich. „Warum erst jetzt und nicht bereits während meiner Reifung?"
„Das beste Wissen ist das, was du kennst, wenn du es brauchst", zitierte sie den Spruch, denn ich nur allzu gut kannte. Wie oft hatte ich den gehört? Bestimmt eintausend Mal.
„Es war zu früh, um dir davon zu erzählen."
Ich dachte über ihre Worte nach. Was hätte mir das Wissen damals gebracht? Wahrscheinlich hätte es mir Ärger eingebrockt – besonders, weil ich mehr darüber hätte erfahren wollen und es nicht gekonnt hätte. Es hätte mich womöglich in den Wahnsinn getrieben.
„Deine Kraft sollte noch ruhen", fügte Sitty hinzu. „Sie sollte nicht von mir geweckt werden."
Es waren Amela und Zahir gewesen, die mich herausgefordert hatten, die Stärke in mir selbst zu finden. Das hatte ich gebraucht. Diesen Anstoss. Sie hatten mich dazu angetrieben, in mich hineinzuhorchen und meine Magie selbst zu entdecken.
Ich benetzte meine Lippen.
„Sitty", flüsterte ich und holte tief Atem, denn hierfür würde ich es brauchen. „Ich habe auch ein Geheimnis, das ich dir erzählen muss."
Meine Grossmutter lächelte breit. In ihren Augen blitzte etwas auf, das ich nicht definieren konnte.
„Oh, auf die Geschichte warte ich schon eine Ewigkeit."
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Guten Morgen
Ich hoffe, die kleine Geschichtslektion war euch nicht zu langweilig.
Was denkt ihr von dem kleinen Familiengeheimnis? Hattet ihr das vermutet?
Allmählich kommt der Stein ins Rollen und bald wird es wieder Schlag auf Schlag gehen. ;-) Schnallt euch also an.
Und übrigens: Ich werde wahrscheinlich Mitte April damit beginnen, zwei Mal pro Woche Kapitel hochzuladen. Was meint ihr? Hättet ihr Lust darauf? So nach Ostern oder so?
Danke euch für eure Unterstützung und fürs Lesen! Ich bin jedes Mal total überwältigt von euren Rückmeldungen.
Love you
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