12 - Unerwarteter Besuch
„Wenn sich das Tor des Glücks schließt, öffnet sich ein anderes."
☆☆☆
Der Tee in meiner Tasse kringelte sich.
Ich betrachtete die goldene Flüssigkeit schon seit einer Weile. Eine merkwürdige Mischung aus Sehnsucht und Heimweh hatte sich in mir breit gemacht. Der Tee war längst erkaltet, aber die Farbe hatte mich so sehr an Zahirs Augen erinnert, dass mir ein Stechen durch die Brust gefahren war und ich nun auf das Getränk starrte, als könnte es mit mir sprechen.
Das Geräusch der knarrenden Eingangstür liess mich zusammenfahren.
„Ich bin wieder da!", kündigte Sitty ihre Ankunft an. „Und ich habe eine Überraschung für dich!"
Sie war guter Laune, schon seit Tagen, weil sie mit allen Mitteln versuchte, mein finsteres Gemüt aufzuhellen.
Doch weder das reinigende Bad in der Messingwanne, welches sie mir aufgegossen hatte, damit ich mich einseifen und die Spuren meines Angreifers von meiner Haut waschen konnte, noch die vier Tage danach voller Ruhe, an welchen sie mir meine Lieblingsgerichte gekocht hatte und ich mich schweigend ans Fenster in der Stube setzen durfte, um den Innenhof zu betrachten, hatten zu einer Besserung geführt.
Ich konnte nicht aus dem Haus, denn es war zu gefährlich.
Ismail lauerte dort draussen und ich wollte mir nicht vorstellen, was er mit mir tun würde, wenn er meinen Aufenthaltsort herausfand. Grün und blau prügeln wäre wahrscheinlich nur der Anfang.
Sitty hatte beschlossen, dass ich während mindestens vierzehn Tage das Haus nicht verlassen durfte — bis meine Wunden verheilt waren und mein Angreifer von Kesh fortgegangen war. Eine elend lange Zeit, in welcher mich nichts von der Einsamkeit in meinem Herzen ablenken konnte.
Meine Grossmutter trat in die Stube und sah, wie ich an meinem üblichen Platz auf dem Teppich hockte und in die Ferne blickte.
Obwohl unser Innenhof ummauert war und man nicht wirklich weit sehen konnte, wanderte mein Geist über diese Mauern hinaus, flog durch die Wüste, durch die Zeit nach Azoul und den Palast, den ich mein Zuhause genannt hatte. Meine Seele wollte nicht hier sein, genauso wenig mein Herz. Allein mein Körper war hier, wie die vertrocknete Haut einer Schlange, die sich längst vom Leben gelöst hatte und allmählich zerfiel.
Zwei schwere Gegenstände plumpsten vor meine Füsse und sorgten dafür, dass ich den Blick vom Fenster löste.
„Ich habe lange gebraucht, um sie auszusuchen. Ich hoffe, sie gefallen dir." Meine Grossmutter deutete mit der Hand auf den Boden
Bücher.
Sie hatte mir Bücher aus der Bibliothek gebracht.
Die ledernen Buchdeckel und die goldenen Titel schimmerten im Licht der Sonne. Vor nicht allzu langer Zeit hätte mich dieser Anblick in helle Freude versetzt. Nur nicht jetzt.
Jetzt fühlte ich nichts.
Ich wandte den Blick ab, denn zwischen den geglätteten Papyrusblättern und den in schwarzer Tinte gekritzelten Zeilen konnte ich keine Zuflucht mehr finden.
„Ich will nicht lesen."
„Bücher können die Seele heilen", erwiderte Sitty.
Ein leises Schnauben entwich mir aus der Nase. Das hatten sie einst mit mir getan. Als ich dachte, ich fände darin die Antworten auf meine Fragen. Doch sie hatten nur mehr Fragen aufgeworfen. Und als ich hinaus in die Welt trat — in die echte, unverfälschte Welt —, da hatte ich am eigenen Leib erfahren, dass nichts so war, wie ich gelesen hatte.
„Bücher sind grausam", erwiderte ich, „denn sie machen dir was vor. Sie malen dir ein Bild von der Welt, die in Wahrheit aber gar nicht existiert. Sie erzählen von Wünschen, nicht von der Wirklichkeit."
Meine Grossmutter legte den Kopf schief.
„Und wer bist du? Du klingst nicht wie die Najmah, die ich grossgezogen habe."
Ihre Augen musterten mich von Kopf bis Fuss, als wäre ich tatsächlich eine Fremde in ihrem Heim.
„Die Enkelin, die ich kannte, konnte es kaum erwarten, sich in dem unendlichen Wissen zu verlieren, bis das Morgengrauen an den Wänden schabte."
„Ich bin nicht mehr die Enkelin, die du kanntest", antwortete ich und zog die Decke, die ich um die Schultern trug, enger um meinen Körper. Selbst wenn draussen eine brütende Hitze herrschte, fror ich.
„Diese Bücher dürfen wir sieben Tage lang behalten." Meine Grossmutter schien meine ablehnende Haltung schlicht zu übersehen und klopfte sich die Hände sauber, als wären sie staubig. „Das hat dir früher gereicht, um zwei Stück durchzulesen. Gib mir in sieben Tagen Bescheid, ob sie dir gefallen haben und ich weitere Werke ausleihen soll."
Ohne noch ein Wort anzufügen, verschwand sie ins Nebenzimmer.
☆☆☆
Die Bücher lagen die ganzen sieben Tage unberührt auf dem Boden.
Am letzten Tag hob sie Sitty wortlos auf, strich die Buchrücken sauber, musterte die Vorderseite und die Rückseite, zuckte mit den Schultern und verliess das Haus, nur um gegen Abend mit zwei neuen Exemplaren wieder aufzutauchen.
Abermals plumpsten zwei Bücher vor meine Füsse. Eins mit einem grünen Buchdeckel und ein weiteres mit silbernen Schnörkel verziert.
Ohne es zu wollen, schweiften meine Augen über die Titel. Wie ich an Die Flügel meines Herzens unschwer erkennen konnte, handelte es sich bei dem verschnörkelten Buch um einen Liebesroman. Das Zweite musste eine Enzyklopädie sein, denn es war dick und schwer und glich jenen Lexika, welche ich manchmal in der Bibliothek nur durchgeblättert hatte, weil sie zu schwer zum Tragen gewesen waren. Nachschlagewerk der Nomadenlehre verriet die Überschrift.
„Ich glaube, diese werden dir gefallen", meinte Sitty schlicht und begann mit den Töpfen zu hantieren.
Wahrscheinlich bereitete sie die nächste Mahlzeit zu, die ich nicht runterbekommen würde, denn das stetige Ziehen in meinem Herzen, die Leere darin raubte mir den Appetit.
Mir war schlicht nicht danach, mein Leben zu erhalten, wenn es bedeutete, dass es ein Leben hier in dieser elenden Zeit war. Ein Leben, in welchem Zahir und seine Familie nicht existierten. Ich vermisste sie alle so sehr, dass es schmerzte. Amela, Luay, Zafar, Runa, Hana'a ... Ihre Abwesenheit war nicht zu ertragen.
Das Klappern der Töpfe riss mich aus meinem Sehnen. Sitty füllte einen Topf mit Couscous und stellte Wasser auf die kleine Flamme.
„Nächstes Mal kannst du sogar selber mitkommen und dir die Geschichten aussuchen, die du lesen willst", meinte sie ohne aufzublicken.
Sie holte Pfefferminze hervor und fing an, die Kräuter zu zerhacken. Dann kramte sie eine kleine Karaffe aus Ton mit Korkdeckel aus der Küchennische und liess das goldene und wohlriechende Sesamöl darin auf die grünen Minzblätter tröpfeln.
Für einen Moment war ich von dem Anblick, wie geschickt sie diese Mahlzeit zubereitete, ganz gefangen. Doch dann schüttelte ich den Kopf und richtete meinen Blick wieder auf den öden Innenhof.
„Du meinst wohl eher, ich kann die Geschichten aussuchen, welche ich lesen darf", grummelte ich.
Die Worte schmeckten so bitter, wie sie waren und ich merkte erst, als ich sie gesagt hatte, wie mürrisch ich klang.
Meine Grossmutter hielt in der Arbeit inne und blinzelte mich mit einem Hauch von Überraschung an, denn erstmals seit sieben Tagen sickerten Gefühle durch meine eisernen Mauern des Schweigens.
„Wie meinst du das?", wollte sie wissen.
Ihr alles durchdringender Blick lag auf mir. Sitty konnte mich lesen und es war, als bräche ein Damm mit dieser Frage, denn nun schoss die Wut aus mir heraus und ich konnte sie nicht mehr stoppen. Ich ballte die Hände in meinem Schoss zu Fäusten.
„Eine Bibliothek ist die Quelle allen Wissens der Menschheit", sagte ich und bleckte die Zähne. „Die Frauenabteilung beherbergt aber nur einen lächerlichen Bruchteil davon. Warum? Weil Männer entschieden haben, was wir lesen dürfen. Offenbar soll mein Erfahrungsschatz nicht über Kochbücher und Liebesromane hinausgehen, denn wahrscheinlich fürchten sie, dass ich schlauer sein könnte, wenn ich genauso viel wüsste wie sie."
Ich machte eine wischende Handbewegung zu den Büchern am Boden.
„Es ist bloss eine weitere Art, uns unsichtbare Ketten anzulegen. Also, nein, ich will nicht mitkommen", murrte ich, „denn ich werde in den Büchern nichts finden, was ich nicht eh schon weiss. Die Seiten könnten genauso gut leer sein."
Es war schneller aus mir herausgekommen, als mir lieb war. Für diese Dreistigkeit und besonders für den verächtlichen Ton, mit welchem ich mit meiner Grossmutter gesprochen hatte, gehörte ich bestraft.
Sitty stellte den Kessel, den sie in der Hand gehalten hatte, zur Seite und kam näher. Ich starrte auf den Boden, während die Scham und die Wut meine Wangen erhitzten. Tränen sammelten sich in meinen Augen an und wollten sich befreien, doch ich liess sie nicht. Ich hielt sie in meinen Wimpern gefangen, bis meine Sicht verschwamm und ich die Stube nur noch durch einen wässrigen Schleier wahrnahm.
Meine Grossmutter setzte sich direkt vor mich hin und legte ihre knochige Hand auf meine. Sie sagte nichts, sondern sass einfach nur da und streichelte mir über meine verkrampften Finger. Es war, als spürte sie, dass nach diesem Ausbruch noch mehr folgen würde. Dass nach der Wut die Verzweiflung kam.
Und so war es.
Ich begann zu weinen.
Ein Schluchzer löste sich von meiner Brust und mit den Tränen, die sich endlich von meinen Augenwinkeln lösten und über meine Wangen flossen, nahm sie mich ein — die Hilflosigkeit.
Wie ein Strudel wurde ich hinuntergezogen in ihr dunkles Loch.
Ich weinte lange und ausgiebig. So lange, bis sich mein Schluchzen in ein merkwürdig verkrampftes Glucksen verwandelte und mir der Hals zu schmerzen anfing.
„Najmah", sagte Sitty schliesslich, als nur noch vereinzelte Tränen über meine Wangen flossen. „Deine Wunden gehen tiefer als die blauen Male auf deinem Gesicht. Ich sehe das. Was ist mit dir?"
Vorsichtig hob ich den Kopf, um ihren blaugrünen Augen zu begegnen. Nichts als Sorge war darin zu lesen und ich hätte ihr so gerne alles erzählt, hätte ihr von dem Loch in meinem Herzen erzählt, von Zahir, von Amela, von dem Harem und dem grossen Sultan, von den farbigen, edlen Kleidern, dem reichhaltigen, wohlriechendem Essen und den atemberaubenden Sälen des Palastes von Azoul.
„Du kannst mir alles sagen", fuhr Sitty fort und tupfte mit ihrem Ärmel meine Wangen trocken.
Ich wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Sie war schliesslich meine Grossmutter. Sie war jene Frau, die mich durch meine Reifung begleitet hatte. Die wusste, wie es in meinem Herzen aussah, die spürte, dass es gerissen war und zwar nicht aus den Gründen, die ich ihr genannt hatte.
Meine Lippe zitterte und ich versuchte, meine Stimme wiederzufinden. Wie könnte ich ihr bloss all das verraten, ohne dass sie mich für verrückt hielt?
„Was bedrückt dich, Najmah?", bohrte sie weiter.
Ich biss die Zähne fest zusammen, um das Beben meines Kinns zu unterbinden. Warum fürchtete ich mich eigentlich so vor ihrer Reaktion? Ich konnte es mir nicht erklären, nur sagte etwas tief in mir drin, dass ich in dieser Welt mein Geheimnis bis in mein Grab tragen müsste.
Die Menschen hier waren nicht bereit für eine solche Wahrheit und ob es mir gefiel oder nicht, meine Grossmutter war ein Teil dieser Welt. Sitty war ein Kind alter Schule. Sie war von einer Welt — von dieser Welt, welche die Existenz von Magie ins Reich der alten Legenden und Mythen verbannt hatte.
Ihr alles zu verraten, was ich erlebt hatte, konnte potenziell ihr komplettes Weltbild zerstören. Wollte ich das wirklich? Ihr den Boden unter den Füssen wegziehen? Wie viele verrückte Geschichten konnte sie ertragen, ehe sie mich auch verstossen würde?
Ihre Finger streichelten unaufhörlich über meine Hände.
Wenn ich Sitty nicht mehr hatte, dann hatte ich niemanden mehr. Diese Angst hielt meine Zunge gefangen, seit dem ersten Moment, als ich meine Grossmutter wiedergesehen hatte. Einen weiteren Verlust würde ich nicht ertragen können. Es würde mich zugrunde richten.
„Ich ... ich ...", murmelte ich so unglaublich heiser, auf der Suche nach einem Anfang.
Die Güte in Grossmutters Augen drückte auf mein Herz. Sie wartete geduldig, obwohl sie schon seit unserer Wiedervereinigung gespürt hatte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Dass ich ein Geheimnis mit mir herumtrug wie ein Stein in meiner Tasche.
Nein.
Sitty würde mich nicht verstossen. Sie würde mir zuhören. Selbst wenn sie meine Worte kaum für wahr halten würde, sie würde es für mich versuchen.
Bestimmt.
„Ich bin—"
Weiter kam ich nicht, denn ein Klopfen an unserer Haustüre unterbrach uns. Meine Grossmutter drehte sich um und spähte zum Ausgang.
„Entschuldige", meinte sie und erhob sich, „ich habe ganz vergessen, dass ich heute Besuch erwarte."
Ich blinzelte sie überrascht an. „Besuch?"
„Der Vater eines Mädchens, das bald ihre Reifung bei mir beginnt", erklärte sie.
„Oh", flüsterte ich und schniefte. „Natürlich."
Meine Grossmutter war noch immer Ausbildnerin hier in Kesh. Das war ihre tägliche Arbeit. Ich konnte nicht von ihr erwarten, dass sie sich den ganzen Tag nur um mich kümmerte. Schliesslich musste sie sich das Dach über dem Kopf und die täglichen Mahlzeiten verdienen.
„Bin gleich da!", rief Sitty in den Gang. Dann wandte sie sich mir zu. „Wir zwei reden später nochmals. Wir sind noch nicht fertig."
Ich presste meine Lippen zusammen und nickte, denn es galt diesen Worten nicht zu widersprechen.
Meine Grossmutter lief zum Eingang und liess den Mann herein, der geklopft hatte. Sie begrüssten sich leise murmelnd.
Ganz automatisch zog ich mein Kopftuch, das mir auf den Schultern hing, über den Scheitel und vors Gesicht. Es war besser, wenn dieser Mann mich nicht in diesem miserablen Zustand erblickte.
Schritte erklangen. Ich erhob mich, um den Besuch mit dem Respekt zu begrüssen, der ihm zustand, doch ich erstarrte, als ich den Mann im Türrahmen erkannte.
Vor mir stand der Kerl, den ich nachts in muzedinischer Kleidung erspäht hatte! Allerdings trug er heute kein Indigo, sondern schwarze, weite Stoffe.
Unsere Blicke verfingen sich.
Es waren Adils Augen, die mich anlächelten.
--------------------
Hallo ihr lieben Menschen
Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen. Der mysteriöse Nachbar ist zurück ;-) Was denkt ihr, wer er ist?
Ich muss zugeben, ich befinde mich aktuell leider in einer tiefen Schreibkrise und war schon kurz davor, ZWUW einfach abzubrechen... Meine Arbeit raubt mir einfach wirklich alle Kraft, die ich habe.
Nur kann ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, euch einfach hängen zu lassen. Darum: Keine Angst, ich werde weiterschreiben. Ich hoffe bloss, dass ich der Qualität der Geschichte noch gerecht werden kann. Im Moment sind die Zweifel in meinem Kopf etwas sehr laut.
Naja, genug rumgeheult.
Ich danke euch von Herzen fürs Lesen und wünsche euch ein tolles Wochenende! ❤️
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro