Kapitel 13 || Madelyn
Wie macht man mit jemanden Schluss, vor dem man plötzlich eine tiefe Abscheu verspürt? Vor dem man beinahe Angst hat. Der aber von deiner Familie geliebt wird. Wenn von dir erwartet wird, dass du mit ihm zusammen bist. Wenn von dir diese Liebe, diese Verbindung, erwartet wird. Weil ihr gut zusammen seid.
Ich atme tief durch. Keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Deswegen stehe ich seit ein paar Minuten einfach nur hier draußen vor der Tür von Tuckers riesigem Haus.
Meine Knie zittern, meine Hände zittern, eigentlich zittere ich überall. Und mir ist schlecht. So richtig übel. Aber meine Entscheidung steht fest.
Entschlossen drücke ich auf die Klingel.
Keine Minute später wird die Tür geöffnet und Tucker steht vor mir. Er sieht mich mit großen Augen an, dann lächelt er und hält die Türe weiter auf.
Ohne ein Wort trete ich ein und bleibe im Foyer abrupt stehen, auch wenn er schon den Weg in sein Zimmer antritt. Doch als er bemerkt, dass ich ihm nicht folge, stoppt er verwundert. »Alles gut, Maddy?«
Ich schlucke. Seine Stimme verschafft mir eine Gänsehaut.
»Wo bist du eigentlich gestern hin verschwunden? Bist du nachhause gegangen?«, will er wissen und geht auf mich zu.
Reflexartig weiche ich zurück und er runzelt daraufhin verwirrt seine Stirn.
»Über gestern wollte ich mit dir reden.« Meine Stimme ist leise und brüchig. Schnell räuspere ich mich. Wie soll ich den nächsten Satz bloß in Worte fassen?
Fieberhaft durchforsche ich mein Hirn nach der richtigen Formulierung, aber er kommt mir zuvor.
Er tritt näher und greift nach meiner Hand. »Du hättest noch bleiben sollen, wir hatten doch gerade so viel Spaß.« Er senkt den Kopf und sieht mich vielsagend an.
Ich reiße fassungslos die Augen auf und entziehe ihm heftig meinen Arm. »Spaß?«, wiederhole ich und unterdrücke mir die aufsteigenden Tränen.
Wieder runzelt er seine Stirn und will wieder nach meiner Hand greifen. »Ja, den –«
»Fass mich nicht an!«, fauche ich und trete zurück. »Fass mich nie wieder an!«
»Madelyn, was redest du da bitte?« Er sieht wütend aus.
»Weißt du, was das Wort ›Nein‹ bedeutet?« Mittlerweile stehe ich fast drei Meter von ihm entfernt.
»Ja?«
»Nein, ich glaube nicht, Tucker.« Sein Name fühlt sich widerwärtig auf meiner Zunge an. »Mir ging es gestern richtig schlecht. Mir war übel und schwindelig. Ich habe mich ein paar Minuten später übergeben!« Ich schnaube. »Und du? Dir war das alles völlig egal. Du wolltest deinen Spaß, ohne auf meinen Zustand zu achten. Auch dann noch, als ich schon ein paar Mal ›Nein‹ sagte und dich von mir wegdrückt habe!« Meine Stimme ist zu einem Schreien angeschwollen.
Aber anstatt, dass sich Reue auf seinem Gesicht widerspiegelt, verzieht er es verächtlich. »Wirfst du mir gerade vor, dass ich dich unerlaubterweise berührt habe, Maddy? Mein Gott, ich bin dein Freund! Ich war betrunken und in Stimmung. Was ist da schon groß dabei?«
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. »Was ist da schon groß dabei?«, wiederhole ich flüsternd. Ich kann es nicht fassen, was er gesagt hat.
Er zuckt nur mit den Schultern und reicht mir seine Hand. »Beruhige dich jetzt, Baby. Nimm deine Tabletten, atme tief durch. Und dann komm mit mir. Wir wollen doch beide nicht, dass du jetzt eine Dummheit begehst, oder? Geschweige denn von deiner Familie.« Gegen Ende klingt seine Stimme beinahe bedrohlich.
Kurz schaue ich seine Hand an und überlege tatsächlich, sie zu greifen. Wenn das mache, habe ich keine Probleme. Keine enttäuschten Blicke von meinen Eltern. Keinen Streit. Keinen Freundesgruppenverlust. Alles würde blieben, so wie es ist. Einfach. Kontrollierbar. Vorhersehbar.
Doch ich kann nicht. Ich kann nicht einfach damit weiter machen. Auch wenn das Mädchen in mir, das immer alles macht, was die anderen verlangen und sich nie gegen andere Menschen behauptet, einfach nach der verdammten Hand greifen will. Aber das andere Mädchen in mir ist stärker und gewinnt die Oberhand. Die, die endlich damit aufhören will, sich alles gefallen zu lassen. Die endlich ihr eigenes Leben leben will, mit eigenen Entscheidungen. Die die Wahrheit aussprechen will und auch mal jemanden anschreien möchte, wenn dieser jemand in ihren Augen einen Fehler begangen hat.
Also recke ich den Kopf und schüttle ihn bestimmt. »Ich scheiße auf die Meinung meiner Eltern. Das hier ist meine Entscheidung und mein Leben. Und wenn ich will, dass du daraus verschwindest, dann wirst du das auch.« Meine Stimme klingt fest. Fester, als ich mich wirklich fühle, auch wenn ich mehr als entschlossen bin, das hier durchzuziehen. Aber ich habe auch Angst.
Tuckers Gesicht ist vor Wut verzerrt, als er auf mich zugeht und mich wider meiner Erwartungen grob am Arm packt. So fest, dass es schmerzt.
Angsterfüllt schaue ich in sein Gesicht. »Lass mich los«, wispere ich.
»Hör auf, so einen Mist zu reden!«, ruft er und will mich weiter ins Hausinnere ziehen.
Aber ich reiße mich mit aller Kraft von ihm los und öffne die Haustür. Rückwärts weiche ich auf die Schwelle. »Fass mich nie wieder an, Tucker! Ich meins ernst, halt dich gefälligst fern von mir!«
Er lacht nur. »Spätestens in zwei Wochen wirst du mich anflehen, wieder mit dir zusammenzukommen, Maddy. Du hast nur mich. Ich bin die einzige Konstante in deinem Leben. Ich bin deine Zukunft!«
Ich mahle mit dem Kiefer. Am liebsten würde ich ihn schlagen. Aber ich weiß nicht, wie er darauf reagieren würde. Ob er mir dann etwas Schlimmes antun würde. »Das werden wir ja sehen.« Ich mache auf dem Absatz kehrt und eile die Stufen hinunter.
»Madelyn, komm sofort zurück!«, bellt er hinter mir. Doch natürlich tue ich es nicht. »Gut, wie du willst. Aber du wirst dieses Entscheidung bereuen!« Er lacht düster. »Die Frage ist, ob ich dir in zwei Wochen überhaupt die Türe öffne, wenn du am Boden zerstört bist, weil deine Welt auseinander gefallen ist!«
Ich ignoriere ihn und laufe in rasender Geschwindigkeit die Einfahrt hinab. Mein Herz hämmert mir heftig gegen den Brustkorb. Mein Atem geht schnell und unkontrolliert. Und Tränen laufen unaufhaltsam meine Wangen hinab.
Kaum bin ich um die Ecke gebogen, atme ich erleichtert auf und fahre mir zittrig durch die Haare. In meinem Kopf herrscht pures Chaos. Und auch wenn ich hinter meiner Entscheidung stehe, tauchen leichte Zweifel in meinen Gedanken auf.
Ich habe mir so eben das Leben zur Hölle gemacht.
Meine Eltern werden mich buchstäblich dafür umbringen, aber jetzt gibt es sowieso kein Zurück mehr. Trotzdem habe ich Angst, als ich den Schlüssel im Schloss meiner Haustür umdrehe und hinein gehe.
Es ist Sonntag und dementsprechend sind sie ausnahmsweise mal nicht arbeiten.
Ich finde sie im Wohnzimmer, wo sie auf dem Sofa sitzen und Dad am Laptop etwas eintippt, während Mom in einem Magazin blättert.
Kurz bleibe ich reglos im Türrahmen stehen und mustere die beiden. Meine Eltern sind sogar zurechtgemacht, wenn sie den Tag auf dem Sofa verbringen. Moms schmaler Körper steckt in einem grauen Blazer und einer dunkelblauen Bundfaltenhose. Mein Vater hingegen trägt ein ordentlich gebügeltes Hemd und eine schwarze Anzughose. Ich werde nie verstehen, warum sie in jedem Augenblick perfekt sein müssen.
Das war schon immer so.
Als ich ein kleines Mädchen war und ich des Öfteren sauer auf sie war, blieben sie immer ruhig und gelassen. Hatten die Situation perfekt unter Kontrolle. Und egal, wie schlecht es gerade in unserer Familie lief, nach außen setzten sie ein strahlendes Lächeln auf. Wenn sie wütend auf mich sind, schreien sie mich nicht an, sondern strafen mich mit enttäuschten Blicken und Schweigen. Wie gern hätte ich es, einmal angeschrien zu werden, nur um zu sehen, dass sie überhaupt Emotionen besitzen.
»Madelyn? Wie lang stehst du schon da?« Meine Mutter sieht auf. Sie lächelt mich nicht an zu Begrüßung, geschweige denn, dass sie Anstalten macht, mich zu umarmen.
Auch das ist nichts Neues für mich. Sie gehen förmlich mit mir um und nicht so, wie die Eltern in Filmen, die mit ihren Kindern kuscheln und ihnen mehrmals am Tag sagen, wie lieb sie sie haben.
Aber mich hat das nie gestört. Ich kannte es einfach nicht anders.
»Ich bin gerade von Tucker gekommen.« Ich räuspere mich etwas unbehaglich. Das ist der Part, an dem ich mich in meinem Zimmer verschanze, aus dem ich erst wieder hervorkrieche, wenn es essen gibt. »Kann ich mich setzten?« Fragend fange ich den Blick meiner Mutter auf.
Sichtlich verwundert nickt sie. »Ja, natürlich.«
Ich gehe auf das riesige Sofa zu und lasse mich langsam ein wenige entfernt von Mom darauf nieder. Mein Vater beachtet mich noch immer nicht, sondern tippt weiterhin schnell auf seinem Laptop herum. Keine Ahnung, ob er überhaupt bemerkt hat, dass ich hier bin.
»Ich muss mit euch reden«, sage ich in die Stille hinein, die nur von den Lauten der Computertastatur durchbrochen wird.
»Okay«, erwidert Mom und klappt ihr Magazin zu.
»Dad?« Keine Reaktion.
»William!« Als er die Stimme meiner Mom vernimmt, hebt er seinen Kopf und dreht sich ein Stück zu uns.
»Was ist denn los?« Fragend nimmt er seine Brille ab und klappt sie zusammen.
Zittrig hole ich Luft. »Ich muss euch etwas erzählen.«
Beide starren mich stumm an.
»Ich und Tucker ... uns gibt es nicht mehr.« Es fühlt sich gut an, die Information los zu werden, auch wenn ich weiß, dass es für sie ein riesiger Schock ist.
»Was?« Mom wirkt vor den Kopf gestoßen und das erste Mal kann ich mir wirklich vorstellen, dass sie ausflippt.
Aber ich irre mich. Sie bleibt ganz ruhig. Faltet ihre Beine übereinander und schaut mich still an. Und da ist er – der enttäuschte Blick. Auch mein Vater straft mich nun damit.
Mir wird heiß und kalt gleichzeitig und ich wünsche mir nichts sehnlicher, dass sie eine Reaktion zeigen. Dass sie mich anschreien oder einfach nur wütend sind. Aber sie gucken nur enttäuschend aus der Wäsche und schweigen.
Nach ein paar Minuten seufzt Mom tief. »Madelyn, was denkst du dir dabei? Er ist deine Zukunft und er ist perfekt für dich. Du liebst ihn. Und jetzt hast du ihn bestimmt verletzt, ist dir das klar?« Darin ist sie noch eine Meisterin. Im schlechtes-Gewissen-machen.
Ich schnaube. »Nein, Mom, das tue ich nicht. Ich liebe ihn nicht.« Wieder herrscht Schweigen.
»Du bist blass. Ich glaube, dir geht es nicht gut, richtig? Ruh dich aus«, kommt es nun von meinem Vater. Als ich keine Reaktion zeige, deutet er mit der Hand auf die Tür. »Geh, Madelyn.«
Krampfhaft versuche ich, meine Wut zurückzuhalten und stehe auf. Als ich aus dem Zimmer verschwunden bin, lehne ich mich an die Wand und atme tief ein und aus. Gerade, als ich nach oben in mein Zimmer gehen will, vernehme ich ihre Stimmen und halte inne.
Ich sollte nicht lauschen, aber ich tue ich es trotzdem.
»Was ist los mit ihr?«, fragt meine Mom.
»Du weißt doch, wie sie ist. Stur und egozentrisch. Sie braucht das, um sich zu beweisen. In ein paar Tagen ist ihre rebellische Phase wieder um und sie wird zu Tucker zurückkehren«, entgegnet mein Vater.
Mir bleibt die Luft weg. Erneut laufen mir die Tränen über die Wangen. Das denken sie also über mich? Sie behandeln mich tatsächlich wie ein kleines Kind, das mit dem Kopf durch die Wand will und mit Taten nach Aufmerksamkeit lechzt. Dabei werde ich in wenigen Monaten achtzehn und spätestens dann haben sie meine eigenen Entscheidungen zu akzeptieren.
Niedergeschlagen wende ich mich vom Wohnzimmer ab. Mehr möchte ich nicht hören. Erschöpft trotte ich die Treppen zu meinem Zimmer nach oben und lasse mich auf mein riesiges Bett fallen, kaum bin ich dort angekommen.
Ich weiß nicht, warum ich ihnen nichts von dem Grund der Trennung erzählt habe. Vielleicht, weil sie mir sowieso nicht glauben würden. In ihren Augen ist Tucker ein Heiliger.
Tief seufzend drehe ich mich auf die Seite und starre an die Wand. Ich würde gerne schlafen, denn ich bin fertig und mehr als nur ein wenig müde. Aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, taucht Tucker auf und versucht, mich ungewollt zu berühren.
Mein Herz rast und in mir schwillt Angst und Verzweiflung an. Werde ich je wieder von den Gedanken los kommen?
Ich stehe auf und krame in der Nachttischschublade nach meinen Tabletten. Als mich die angenehme Betäubung überkommt, die mir so vertraut ist, schließe ich endlich entspannt die Augen. Es ist erst zwei Uhr mittags, aber ich brauche dringend Schlaf.
Also tauche ich in eine Traumwelt ab, in der mich ein blauäugiger Typ immer wieder anlächelt und mir die Hand reicht, jedes Mal, wenn ich drohe, in einen der dortigen Abgründe zu fallen.
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