5
Unsere Ausflüge waren eine Sache, aber am nächsten Tag in die Schule zu gehen, eine andere. Und Colin suchte sich für unsere Touren spezielle die Wochentage aus, weil das Planetarium dann schon um 20 Uhr schloss und wir so mehr Zeit haben, in eine Welt voller Planeten, Sterne und schwarzer Löcher abzutauchen. Nach so einem Ausflug um halb sieben von seinem Wecker verspottet zu werden, löste in mir jedes Mal einen Tobsuchtsanfalls aus, der zwar besser war als jedes Koffein, dafür aber nur ein bis zwei Stunden anhielt und mich dann völlig übermüdet und halb tot in ein Stadium zwischen dem Hier und Jenseits schickte. Bevorzugt natürlich in Mathematik. Am Tag zuvor war wieder so ein spontaner Ausflug und ich verfluchte den Colin-Funken und meinen Wecker, als ich gerade einmal wieder dabei war komplett einzuschlafen. Plötzlich pikste mich etwas schmerzhaft in die Seite. Ich zuckte zusammen und hob ruckartig den Kopf.
„Was zur Hölle?"
„Als Hölle würde ich diese Schule nicht gerade bezeichnen, Frau Friedrich." Ich schluckte und hob meinen Blick, bis er auf der Glatze meines Mathelehrers landete. Seine haarlose, faltige Kopfhaut war wie ein Magnet für die Blicke sämtlicher Schüler. „Wenn sie meinen Unterricht zum Schlafen nutzen kann ich ihnen gleich sagen, dass sie ihr Abitur nicht bestehen werden." Eigentlich versuchte ich diesen Typen zu ignorieren, aber trotz seines erheblichen Alters und seiner Angewohnheit, Schüler schon ab der zehnten Klasse mit ihrem Nachnamen anzusprechen, war er leider einer der Lehrer an dieser Institution und würde vermutlich erst in Rente gehen, wenn ich mein Abitur hinter mir hatte. Was laut ihm noch einige Jahre dauern würde. Wie so oft wünschte ich mir Colin herbei, der ihm neben der richtigen Antwort auf die Frage, die ich nicht mitbekommen hatte, auch gleich einen guten Spruch liefern könnte. Colins Sprüche hatten den Vorteil, dass sie nicht direkt beleidigend sondern einfach nur verwirrend waren und er damit sicher mehr Gegner außer Gefecht setzen konnte als mit einem gut gezielte Karatetritt.
Das Piksen in meiner Seite hatte ich mir aber trotz der plötzlichen Aufmerksamkeit aller meiner Klassenkameraden, mit der ich offensichtlich nicht umgehen konnte, denn ich riss weder witzige Sprüche, noch hatte ich dem Lehrer irgendetwas zu sagen, nicht eingebildet. Das Piksen rührte von dem frisch gespitzten Bleistift meiner Banknachbarin Flora her, die es sich seit der siebten Klasse zur Aufgabe gemacht hatte, mich doch noch durch diese Schulsystem zu bringen. Bisher hatte es ganz gut funktioniert, unsere Abschreibmethoden waren einzigartig und ohne ihre Hilfe wäre ich im letzten Schuljahr sicher sitzen geblieben. Aber Colins Platz konnte sie trotzdem nie einnehmen und ich hatte ihr bereits in unserer ersten Schulwoche klar gemacht, dass der Platz als beste Freundin leider schon belegt war. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, war das wirklich keine gute Taktik, um Allianzen zu schmieden. Aber wie es sich herausstellte war das Flora nicht wirklich wichtig und mir war damals schon klar, dass ich jemanden auf meiner Seite brauchte, der auch in meine Klasse ging und nicht eine Stufe höher. Zwar war Colin so ziemlich allmächtig, was Schule betraf, aber so eine Situation wie jetzt konnte nicht einmal er vorhersehen. Und deswegen brauchte ich Flora.
Meine Mutter war von meinen nächtlichen Ausflügen mit Colin auch nicht besonders begeistert, oder besser gesagt sie wäre es nicht. Aber wie ging noch gleich das Sprichwort, was sie nicht weiß macht sie nicht heiß. Meine Mutter war ausgebildeten Patissière, was hieß so viel das sie verantwortlich für die vielen kleinen Naschereien in einer Chocolaterie war. Und nicht nur das, sie designte sie auch selbst und produzierte immer wieder neue Kreationen mit verschiedenen Geschmacksrichtungen, die einem auf der Zunge zerflossen. Kurz gesagt, sie war eine Schokoladengöttin. Zu ihrem Unglück war die Patisserie, in der sie seit acht Jahren in der Altstadt arbeitete aber hoch angesehen und hatte auch dementsprechende Qualität vorzuweisen.
Das hieß, das all die Pralinen und Schokoladen so frisch wie möglich sein musste und die flüssige Schokolade am liebsten in der Nacht verarbeitet werden sollte, damit die Kunden am nächsten Tag ein absolut einzigartiges Geschmackserlebnis hatten. Meine Mutter nahm die manchmal von einem normalen Arbeitsalltag abweichenden Arbeitszeiten gerne in Kauf, als sie die beträchtliche Summe gesehen hatte, die die Patisserie dafür an ihre Mitarbeiter auszahlte. Diese Summe war so hoch dass meine Mutter sich unsere doch ziemlich teure Altbauwohnung von nun an alleine leisten konnte und daraufhin erst einmal meinen Vater rausgeschmissen hatte. Ein anderes Kapitel in meinem Leben, auf das ich später noch einmal zurückkommen werde.
Und diese nächtlichen Arbeitszeiten nutze ich schamlos aus, ich schlich mich nachts mit Colin davon und machte Hamburg unsicher. Besser gesagt machte Hamburg mich unsicher, denn wirklich selbstbewusst fühlte ich mich nicht, wenn wir in der Dunkelheit durch die Straßen schlichen und teilweise bizarrsten Gestalten begegneten. Colins Vater war anscheinend ziemlich cool damit, dass sein Sohn die Wohnung abends verließ und erst in den frühen Morgenstunden wieder auftauchte. Wenn überhaupt, denn es hatte schon öfters Abende gegeben, auf denen wir beim Beobachten der Sterne auf dem Dach eingeschlafen waren und erst von den Strahlen der aufgehenden Sonne wieder geweckt wurden. Aber mir war Colins Vater oder auch Richard, wie meine Mutter und ich ihn seit vier Jahren offiziell nennen durften, schon immer ziemlich offen bei seiner Erziehung vorgekommen. Colin hatte sich damals ausgesucht hierherzuziehen und wahrscheinlich hätte sein Vater auch jede andere Entscheidung akzeptiert. Was ich in den sechs Jahren die ich Colin nun schon kannte über seine Mutter herausgefunden hatte, war wenig. Er sprach nicht gern über sie was ich voll und ganz nachvollziehen konnte, schließlich hatte sie Colin und Richard in Kanada einfach sitzengelassen. Anscheinend war sie nach einem ziemlich heftigen Streit mit ihrem Ehemann, den Colin, damals zarte elf Jahre, auf der Treppe kauernd mit angehört hatte. Schimpfwörter kamen ins Spiel, Vasen und Geschirr zerbrach auf dem Boden und zu guter letzt musste auch die überteuerte Stereoanlage daran glauben.
Danach ging alles ganz schnell, Colins Mutter fasste innerhalb weniger Tage den Entschluss, sich ein neues Leben aufzubauen, und zwar weit weit weg von ihrem Sohn und Mann, in San Francisco, Kalifornien. Colins Vater war mit dem riesigen Haus in der Wildnis ziemlich überfordert und ertrug die traurigen Erinnerungen nicht mehr, die daran hingen. Und zehn Wochen später begegnete ich Colin auf der Treppe zu unserer Wohnung. Colins Mutter schickte ihm jeden Geburtstag ein Paket, dass ich daran erkannte das ein Dutzend verschiedener Poststempel darauf klebten, die von einer weiten Reise um die halbe Welt zeugte. Was genau in diesen Paketen war wusste ich auch nicht und Colin hütete sich, es irgendjemandem zu erzählen. Ich kam damit zurecht nicht alles über ihn zu wissen, schließlich trug jeder von uns sein eigenes Paket dass er lieber in der Vergangenheit lassen würde, nicht wahr?
Natürlich hatte ich Collins Mutter gegoogelt, dafür war meine Neugier dann doch zu groß gewesen. Anscheinend war sie jetzt so eine Art Staranwältin in Nordamerika und wurde regelrecht zu Fällen mit hochrangiger Prominenz hinzugezogen. Sie hatte zwar keine neue Familie, aber doch schien es als hätte sie alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt. Ich konnte nicht verstehen wie man sein eigenes Kind, Colin, einfach aus seinem Leben verbannen konnte, aber vielleicht war das so ein Ding das man nur verstehen konnte wenn man älter war. In jedem Fall hatte ich keine Ambitionen, Colins Mutter jemals über den Weg zu laufen. Vielleicht half es uns beiden, dass wir einen Elternteil hatten den wir nicht oder nicht regelmäßig sahen, dass unsere Situation diesbezüglich ziemlich gleich war. Wir sprachen nicht darüber, aber mit Colin musste man auch nicht über alles reden. Manche Dinge verstanden wir einfach blind.
„Isabella!" Das war dieses Mal zum Glück nur Flora und ich bemerkte, dass die Hälfte der Schüler die Klasse schon verlassen hatte. Nach dem peinlichen Zwischenfall mit meinem Lehrer mussten meine Gedanken irgendwie abgeschweift sein.
„Ja, ich höre zu." Ich begann, meine Sachen in meinen Rucksack zu packe und flüchtete hinter Flora vor den giftigen Blicken des Lehrers aus dem Klassenzimmer. Ich konnte immer noch die Schamröte auf meinen Wangen fühlen, die seine Aktion hervorgebracht hatte. Dabei hätte ich mich inzwischen eigentlich daran gewöhnen müssen, in Mathematik war ich einfach eine Niete. Da half es auch nichts, dass das die Hälfte der Klasse von sich behauptete, denn im Gegensatz zu denen war ich wirklich ein hoffnungsloser Fall. In der letzten Klausur hatte ich gnadenlos unterpunktet und mit einem Unterrichtsbeitrag würde ich das nach heute wohl auch nicht mehr rausreißen können. Dabei war es nicht so, dass ich es nicht versuchen würde. Ich hatte es mehrmals mit Nachhilfe versucht, aber immer wenn Colin anfing mir ein Thema zu erklären schaltete mein Gehirn einfach ab. Das war schon immer so gewesen, sobald mir etwas zu kompliziert wurde ging mein Gehirn in einen Standby-Modus über, den ich schon mit allen Mitteln zu bekämpfen versucht hatte. Zucker, Koffein, nicht mal mit zwei Gläsern Wein hatte ich es geschafft, wenigstens für eine Minute konzentriert beim Thema zu bleiben. Es half nichts, dass Colin mir die Grundlagen der Astronomie beigebracht hatte, die zum Teil auch auf Mathematik beruhten. Beim Schulstoff gab es einfach keinen Colin-Funken, der mir begreiflich machte dass ich das Gelernte auch sehr gut im wahren Leben gebrauchen konnte.
„Das wird so nichts, Isa." Flora hatte recht, lange würde ich im Mathematikunterricht nicht mehr bestehen. Der Punkt an dem mir das so ziemlich egal war, war zwar schon lange überschritten, aber es ärgerte mich doch, dass es keine Besserung in Sicht gab.
„Was soll ich machen?" Ich zuckte hilflos mit den Schultern während wir beide durch die große Aula der Schule auf den Pausenhof trotteten, der eine Minute nach dem Gong schon mit Fünft- und Sechstklässlern überfüllt war, die lautstark ihre überschüssige Energie in Laufspielen oder freundschaftlichem Gerangel abbauten. Flora seufzte als sie sah, dass unsere übliche Bank auf der Westseite des Pausenhofs schon besetzt war und wir machten uns Widerwillen zu der steinernen Mauer auf, die den Pausenhof von einer kleineren Wiese für den Arbeitskreis Garten abtrennte und die als einzige Sitzgelegenheit noch frei war.
„Irgendwann werde ich von einem Haufen Fünftklässler überrannt werden", sagte Flora mit ironischem Unterton, als wir wieder einmal nur knapp ausweichen konnten, als ein Haufen jüngerer Schüler in rasantem Tempo an uns vorbeirannte.
„Lieber nicht, sonst werden die sich im Jenseits todlachen", gab ich zurück. Ich hielt unwillkürlich nach Colin Ausschau, wusste aber schon dass er auf dem gleichen Platz sitzen würde wie immer. Auf der Ostseite, um genau zu sein, und damit genau gegenüber von uns, vorausgesetzt, wir erkämpften uns unsere übliche Bank. Der Pausenhof hatte von der Ost bis zur Westseite einen Durchmesser von geschätzten fünfzehn Metern und wenn er nicht gerade von einer Horde Fünftklässlern bevölkert war, hatten Colin und ich immer Blickkontakt und munterten uns gegenseitig auf, die restlichen Stunden in der Schule zu überstehen, bevor er sich abends wieder seinem Hobby widmen konnte und ich gebannt dabei zusehen würde, wie er das Teleskop neu ausrichtete und mir über die neuesten Geschehnisse am herbstlichen Himmel berichten würde. Dieser Kompromiss von fünfzehn Metern, die uns in der Pause voneinander trennten war nicht immer gewesen, hatte sich aber letzten Sommer so ergeben als Elisabeth in Colins Leben trat und mir für kurze Zeit eine Existenzkrise bescherte.
->Wer zur Hölle ist Elisabeth?
Comment HERE für waghalsige Theorien und Ideen :)
Ich freue mich über Votes& wenn ihr ZUDS auf eure Leseliste setzen würdet um die Geschichte zu teilen :*
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro