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Sechs Jahre später finde ich mich in derselben Situation wieder, in die Colin mich schon am ersten Tag unserer zart sprießenden Freundschaft gebracht hat: Ausflüge, die mehr oder weniger illegal sind. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ins Planetarium einzubrechen wirklich als illegal gilt, denn Colin besitzt einen Schlüssel. Allerdings weiß ich nicht, woher er diesen hat. Aber ich hatte auch damals nicht nachgefragt, als wir die Tür zum Dach geöffnet hatten und uns seitdem fast schon häuslich dort oben eingerichtet hatten. Wobei man eine Plane, um den größten Regen vom Teleskop und den Decken abzuhalten, wohl kaum als häuslich bezeichnen konnte.
„Autsch! Colin, das war mein Fuß!" Ich schubste ihn von meinem Fuß hinunter und verfluchte meine Ballerinas, in denen meine Zehen jetzt wohl die Konsistenz von Kartoffelbrei hatten.
„Tut mir Leid Isabella." Wir standen im Stadtpark und verhielten uns wie ganz normale Passanten, die um 23 Uhr nachts das plötzliche Bedrängnis hatten einen Ausflug in das nahe Erholungsgebiet zu unternehmen. Die Uhrzeit war kein Zufall, denn das Planetarium hatte samstags immer bis 22 Uhr geöffnet und laut Colin mussten wir den Putzfrauen und Angestellten mindestens eine Stunde Zeit geben, um sich auf die Socken zu machen. Wobei das Wort wir nicht wirklich der Wahrheit entsprach. Wenn es nach mir ginge wäre ein Besuch während den normalen Öffnungszeiten zwar auf die Dauer ziemlich teuer geworden, aber immer noch besser gewesen als sich regelmäßig ins Gebäude zu schleichen. Und regelmäßig hieß in diesem Fall mindestens einmal im Monat, bei schlechtem Wetter aber auch öfter.
„Die sollten wirklich mal die Lampen reparieren", flüsterte ich leise zu Colin, während wir an der kaputten Laterne am Wegesrand vorbeiliefen, die ein Stück des Weges in fast vollkommene Dunkelheit getaucht hatte und damit wohl verantwortlich für meinen fast zerquetschten Fuß war. Okay okay, meinen Zehen ging es schon wieder deutlich besser, aber im ersten Moment hatte es sich wirklich so angefühlt. Wobei Colin wahrscheinlich nicht mal eine Maus zerquetschen konnte. Seit ich ihn kannte war er derselbe dünne Colin, der mir bei unserer ersten Begegnung entgegengekommen war. Seine Frisur hatte sich zwar während der Zeit mehrmals verändert, bis er nun bei einem Haarschnitt angekommen war, den man meiner Meinung nach gar nicht als solchen bezeichnen konnte. Seine braunen Haare waren hinten etwas kürzer geschnitten als vorne und nun gerade so lang, dass man die braunen Locken erkennen konnte, die er bei unserem ersten Treffen noch nicht gehabt hatte. Insgeheim glaubte ich, dass er seine Haare selbst geschnitten hatte. Ich wusste, dass Colin tierische Angst vor Friseuren hatte seit ihm der Friseur seines Vaters die Haare an beiden Kopfseiten trotz Colins ausdrücklichem Protest fast komplett wegrasiert hatte. Obwohl es nicht wirklich schlimm ausgesehen hatte war er seitdem traumatisiert, was er aber natürlich nicht zugeben wollte. Vielleicht war auch die eine Strähne, die ihm fast bis über die Augen fiel Schuld daran, dass er meinen Fuß übersehen hatte.
„Isabella, du weißt schon dass wir in einem Umkreis von einem Kilometer wahrscheinlich die einzigen hier sind?", machte er sich über mich lustig und ich schielte ihn der Dunkelheit zu seinen Füßen und war einen Moment versucht ihm den Schmerz, den ein Schuh auf meinen Zehen auslöste, begreiflich zu machen. Der Stadtpark war so angelegt, dass man erst durch ein beträchtliches Stück Wald laufen musste dass den Park von allen Seiten begrenzte, um zum See und zur Picknickwiese zu kommen, die genau in der Mitte lagen und besonders im Sommer ein begehrter Sonnenplatz war. Das Planetarium lag ebenfalls in der Mitte des Parks, ein Stück weiter die Picknickwiese hinauf.
„Wir haben ganz schön Glück gehabt dass schlechtes Wetter angekündigt wurde und sie deswegen das Konzert abgesagt haben." Im Sommer war der Stadtpark auch ein beliebter Platz für Open Air Konzerte, zu denen Tausende Hamburger und Außerstädtische kamen um die Musik, die in der Mitte des großen Parks niemanden störte, mit Gleichgesinnten zu genießen.
„Na, mit dem schlechtem Wetter haben sie ja recht gehabt." Es nieselte und der einzige Grund warum ich mich noch nicht beschwert hatte, war der Regenschirm mit dem Colin für uns beide den Regen abhielt, der hier aber sowieso zum Großteil von den Dachkronen der Bäumen abgehalten wurde.
„Ich fasse es nicht, dass du tatsächlich daran gedacht hast, einen Regenschirm mitzubringen." Ich konnte mich noch gut an Tag erinnern, an denen wir bis auf die Knochen durchnässt durch Hamburg gelaufen waren, weil Colin wieder eine seiner irren Ideen hatte. So wie ohne Erlaubnis ins Planetarium zu gehen. Ich hatte Colin bisher noch nie gefragt woher er den Schlüssel hatte und ich war mir auch ziemlich sicher, dass ich keine Antwort bekommen würde. Ich war bisher einfach davon ausgegangen, dass er ihn dem Hausmeister oder einer der Putzfrauen abgeluchst hatte und sich bis jetzt noch nie jemand über den verlorenen Schlüssel gewundert hatte. Aber jetzt kam mir der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht so illegal war. Vielleicht waren wir bisher immer auf der sicheren Seite gewesen und Colin hatte einen Deal mit dem Hausmeister ausgehandelt oder so. Außerdem war einbrechen etwas anderes. Wir hatten schließlich einen Schlüssel und machten auch nichts kaputt.
Wir bogen vom Wald auf die Picknickwiese ein, auf der sich bei diesem Wetter keine einzige Menschenseele blicken ließ. Das machte diese Aktion für uns etwas leichter. Während der Regen jetzt immer nachdrücklicher auf die Plastikfolie des Regenschirms einprasselte schlenderten wir auf das Planetarium zu, dessen beleuchtete Lettern über dem Eingang schon von weitem zu sehen waren. Das alte Gebäude im Ziegelsteinbau glich einem großen Turm und sah bei Tageslicht immer ein wenig fehl am Platz aus. Aber jetzt, bei Dunkelheit, wirkte es wie ein prunkvoll beleuchteter Palast im fernen Indien, was zum Teil auch an den Säulen vor dem Eingang lag, die dem Gebilde einen orientalisch wirkenden Touch gaben.
„Wusstest du, dass das das Gebäude früher ein alter Wasserturm war?", hatte mir Colin erzählt, als wir zum ersten Mal vor dem Planetarium standen. Er war gerade sechzehn geworden und hatte mir stolz den Schlüssel gezeigt, der anscheinend eines seiner Geburtstagsgeschenke gewesen sei. „1912 gebaut wurde er später zum Planetarium umfunktioniert und besitzt eine der beeindruckendsten Simulationstechniken des Weltraums." Und schon war der Colin- Funke übergesprungen und ich hatte nur noch nicken können, selbst Feuer und Flamme. Und dann hatte mich Colin zum ersten Mal einen kleinen Einblick in seine Welt gegeben, oder so wie ich sie mir jedenfalls vorstellte. Das Planetarium war damals gerade erst frisch saniert worden und das hieß, Colin war auf Entzug einer seiner Lieblingsplätze hier in Hamburg. Die eineinhalb Jahre Umbauphase hatte er sein Zimmer mehrmals selbst zu einem Planetarium umfunktioniert, bis sich die Plakate und eilig angeheftete Bilder an den Wänden eines Tages unter ihrem Gewicht gelöst hatten und das Zimmer ins Chaos stürzten. Da hatte wohl auch Colin einsehen müssen dass es unmöglich war in einem Raum mit seiner großen Leidenschaft zu leben und zu arbeiten, denn dabei kam eines der beiden Dinge zu kurz.
Als wir nun an der Pforte des Planetariums ankamen war ich wieder einmal erstaunt von der heimeligen Atmosphäre, die das Gebäude mit seiner alten Fassade in der Dunkelheit ausstrahlte. Wie sonst auch wandten wir uns am Haupteingang des Planetariums nach links und schlichen um den Turm herum bis zur Hintertür. Das war in diesem Fall die Tür des Cafés, das an das Planetarium angrenzte. Colin hielt den Schlüssel schon bereit und ohne sich auch nur nach Beobachtern umzusehen, entriegelte er die Tür. Natürlich war mir klar dass Colin einen funktionierenden Schlüssel hatte, aber es überraschte mich doch jedes mal aufs Neue, wenn die Tür tatsächlich aufsprang. Irgendwie erwartete ich jedes Mal dass die Tür trotzdem verschlossen blieb. Colin schloss den Regenschirm und schüttelte ihn, dass die Regentropfen nur so spritzen, bevor er ihn an die Glastür des Cafés lehnte und mir die Tür aufhielt. Ich schlüpfte aus meinen Ballerinas und stellte sie wider Willen unter den Regenschirm. Es war besser, keine Fußspuren zu hinterlassen, denn ich war mir nicht sicher wie oft hier geputzt wurde. Der Trick kam vor mir und obwohl er mir ziemlich schlau erschien hatte Colin nur mit den Schultern gezuckt.
„Meine Fußspuren werden sie verwirren." Mir war nicht ganz klar was er damit meinte, aber ich war damit hoffentlich aus dem Schneider. Als ich Colin bei unserem ersten nächtlichen Besuch nach Überwachungskameras gefragt hatte, hatte er geantwortet er hätte sie ausgeschaltet. Damals war ich mir nicht sicher, ob das Ironie oder Ernst war, aber die Fähigkeiten dazu hätte Colin auf jeden Fall. Letztendlich war es aber egal, denn er gab sich nicht viel Mühe seine Spuren zu verheimlichen und hatte mich zielsicher in die Eingangshalle des Planetariums geführt, nachdem er im Café eine Reihe gestapelter Stühle umgeworfen hatte.
Hier stand ich also mal wieder, barfuß, in der Eingangshalle und sah mich unruhig nach allen Seiten hin um. Aber da war natürlich niemand. Wir waren ganz alleine. Bei unserem ersten Besuch war ich fasziniert von der bemalten Decke gewesen, die die Sternbilder des Nachthimmels zeigte. Colin hatte ein paar uninteressante Fakten abgelassen, die ich im selben Moment wieder vergessen hatte, dann hatte er mich dazu gedrängt weiter zu gehen. Aber ich blieb trotzdem bei jedem Besuch länger stehen. Im modern gestalteten Foyer führten zwei Treppen in den ersten Stock, der unser eigentliches Ziel war, der Ort, von dem Colins Faszination ausging und für die er seine beste Freundin einem solchen Risiko aussetzte. Colin lief zielstrebig die Treppe nach oben und ich zählte die Sekunden, bevor er nach mir rief.
„Das Bild kannst du dir auch im Internet anschauen, Isabella." Meine Antwort kannte er bereits.
„Ich bin in einer Minute da, Colin." Natürlich waren es zwei.
Als ich mich schließlich von dem Bild an der Decke losreißen konnte, war Colin schon längst im Obergeschoss verschwunden. Langsam trat ich ebenfalls den Weg in den ersten Stock an und verfolgte Colins Spuren bis zu einer großen Doppeltür, hinter der der ganze Stolz des Planetariums lag. Jetzt stand sie allerdings einen Spalt offen und Collins Generalschlüssel steckte im Schloss. Aber als ich zum allerersten Mal vor dieser Tür gestanden hatte, war sie mir wie ein Heiligtum vorgekommen, dass es um jeden Preis zu schützen galt. Jetzt drang violettes Licht aus dem Raum und ich wusste, dass Colin den 2,5 Millionen Euro teuren Kosmossimulator eingeschaltet hatte. Denn das war es, was ihn immer wieder hierher lockte und was wir hier taten. Setzten uns in die erste Reihe der Kuppel und ließen uns für einige Stunden vorgaukeln, dass wir uns mitten im Universum befanden und die besten Plätze bei den spektakulärsten Ereignissen im Weltraum besaßen, die so verdammt real erschienen. Ich konnte verstehen, dass die schiere Größe der Ereignisse und die leuchtenden Farben einen Suchtfaktor hatten und ich wusste mittlerweile selbst nicht mehr, ob ich Colin nur seinetwegen begleitete oder mich das Netz des Universums selbst gefangen hatte.
Mit klopfendem Herzen stieß ich abermals die Tür zum Kosmos auf und fand Colin an der Lichtmaschine in der Mitte des kuppelartigen Raums vor, dessen Technik er mittlerweile im Schlaf beherrschte. Stuhlreihen für die Zuschauer zogen sich in einem großen Halbkreis an der Innenwand des Turms entlang und verschwanden im spärlich beleuchteten Raum fast in der Dunkelheit.
„Die Vorstellung beginnt." Während ich mich auf meinen Stammplatz setzte schloss Colin die Tür zur Außenwelt und der Raum versank fast in kompletter Schwärze, die einzig vom zarten Leuchten der Maschine durchbrochen wurde. Wenige Sekunden später fühlte ich Colins Präsenz auf dem Stuhl neben mir und wie er prophezeit hatte begann die Vorstellung, die allein für uns beide bestimmt war.
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