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In diesem Moment schlossen wir einen geheimen Pakt, den keiner von uns beiden jemals laut aussprach. Einen Pakt der Freundschaft und vielleicht einen Pakt, uns gegenseitig zu unterstützen, schon alleine weil wir die einzigen Kinder im Haus waren. Ich kaute den Kaugummi und er beobachtete die Eingangstür zum Treppenhaus und wann immer einer der Männer von der Umzugsfirma bepackt mit Kartons die Tür öffnete und langsam die Treppe nach oben balancierte, rief er ihnen zu: „Vorsicht, Vorsicht. Das sind wertvolle Sachen, meine Herren! Wenn was runterfällt verklage ich Sie!" Eigentlich plapperte er damit nur das nach, was ich den Mann, den ich im Nachhinein nun als seinen Vater identifizierte, draußen neben dem Umzugswagen hatte sagen hören. Nur den Part mit dem Verklagen hatte er selbst dazugedichtet.
„Kannst du denn überhaupt Kanadisch?", fragte ich Colin, nachdem ich den Kaugummi vor lauter Aufregung über die vielen neuen Dinge aus Versehen verschluckt hatte. Schließlich war er aus einem fremden Land, das ich mir weit, weit weg vorstellte. So weit, dass er vielleicht doch ein Alien war.
„Natürlich!" Stolz hob er den Kopf an und sagte ein paar Wörter in einer fremden Sprache. Ich war beeindruckt, denn ich hatte noch nie einen Gleichaltrigen getroffen, der außer den paar Brocken Englisch , die wir in der Schule lernten, mehr konnte. Dass Englisch und Kanadisch eigentlich dasselbe waren, wusste ich damals noch nicht.
„Isabella, bist du schon mal auf dem Dach gewesen?" Dass Colins Gedanken öfters Sprünge machten und man Mühe hatte mitzuhalten, wurde mir damals schon bewusst.
„Meinst du auf unserem Dach?" Dazu, dass ich inzwischen schon fast in einem Gespräch steckte hatte Colin unbewusst beigetragen. Es lag an seiner direkten Art, die keine Ausflüchte und Entschuldigungen erlaubte.
„Ich wette, man hat einen super Blick auf die Sterne." Und so lernte ich schon in den ersten zehn Minuten unserer Bekanntschaft über Colins Leidenschaft: die Sterne. Selbst mit nur elf Jahren kannte er alle Sternbilder in und auswendig und konnte nebenbei auch noch Sternzeichen und den dazugehörigen Aszendenten ausrechnen. Es wunderte mich im Nachhinein, dass er bei seiner Ankunft nicht sofort auf das Dach gesprintet war, das sich für nächtliche Sternkunde perfekt anbot.
Unser Haus im schicken Hamburger Viertel Winterhude hatte vier Stockwerke, insgesamt acht Wohnungen, von denen vier drei Zimmer und vier zwei Zimmer hatten. Ich selbst bewohnte eine Zweizimmerwohnung mit meiner Mutter im dritten Stock. Das Dach unseres Hauses war flach und begehbar, soweit war ich mir sicher, obwohl ich bis zum damaligen Zeitpunkt noch nie selber auf dem Dach gewesen war.
Mit Colin sollte sich das ändern und das Dach zu einem meiner Lieblingsorte werden. Als er von den Sternen sprach, sah ich etwas in seinen Augen aufleuchten, das ich später als den unverwechselbaren Colin-Effekt bezeichnen würde. Und dieser Effekt war ansteckend, er sprang wie ein Funken auf einen über und versetzte mich mit derselben Aufregung, die auch Colin verspürte. Schon jetzt spürte ich den Effekt ganz deutlich. Erst fing es im Bauch mit einem Kribbeln an, das sich über den ganzen Körper verteilte. Dann erreichte das Kribbeln den Kopf und man hatte das Gefühl, dass für einen Moment alles verschwamm. Und dann, urplötzlich, waren alle Sinne geschärft und ich sah die Dinge für einen Moment, wie Colin sie wahrnehmen musste. Hochinteressant und eine Welt, in der alles seinen Sinn hatte.
In diesem Moment auf der Treppe sah ich den Funken in Colins Augen und der Colin-Effekt sprang zum ersten Mal auf mich über. Ich sah sein breites Lächeln, bei dem eine Zahnlücke zwischen dem zweiten und dritten Zahn oben links zum Vorschein kam. In diesem Moment war ich genauso begeistert von seiner Idee und mit dem Enthusiasmus, den nur eine Zehnjährige haben konnte, stürmte ich hinter Colin her, der aus unerfindlichen Gründen bereits genau wusste, wo sich die Tür zum Dach befand. Nämlich ganz oben, neben der Tür zur Wohnung vom alten Herrn Gruber, dem meine Mutter manchmal Pralinen von ihrer Arbeit mitbrachte. Natürlich wusste ich, dass das die Tür zum Dach war, wahrscheinlich wusste es sogar das ganze Haus. Das war nämlich der zweite Notausgang, den man im Fall eines Brandes oder ähnlichem nehmen konnte.
Nur war so was noch nie passiert und die Tür hatte bis dahin nie so verlockend ausgesehen. Eine dicke graue Tür mit ein paar Kratzern in der Oberfläche, die ich mir auch nicht erklären konnte. Als wir jetzt in Rekordgeschwindigkeit die Treppe nach oben schossen und ich einige Male fast auf den frisch gewischten Treppenstufen ausrutschte, war ich vollkommen in Colins Bann. Damals dachte ich, dass das nur ein kurzzeitiger Zustand ist, der einen verlässt sobald man aus seiner Reichweite war. Aber jetzt bin ich mir sicher, dass er seit diesem sechs Jahre andauerte. Und ich mir nicht sicher bin, ob ich es nicht noch immer bin. Oben angekommen zögerte ich vor der dicken Tür, weil Colin ebenfalls stehen geblieben war. Was jetzt? Plötzlich drehte er sich zu mir um und hielt einen Schlüssel in die Höhe, den er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Mir war schleierhaft wie er innerhalb seiner Ankunftszeit bereits in dessen Besitz gelangt war und ich weiß es bis heute nicht.
„Ist die Tür verschlossen?", fragte ich Colin, der sich bereits am Schloss zu schaffen machte.
„Bald nicht mehr. Isabella, willkommen im Paradies", sagte er mit feierlicher Stimme und ließ die Tür aufschwingen. Es hatte nicht denselben Effekt wie nachts, wenn die Tür zu unserer kleinen Oase aufschwang und wir bereits die Sterne am Himmel funkeln sehen konnte. Aber damals machte es ziemlich viel Eindruck auf mich, besonders, da ich das Dach zuvor noch nie betreten hatte. Die vor mir liegenden Quadratmeter kamen mir damals vor wie der Himmel auf Erden und ich würde sie besonders in den nächsten Jahren zu schätzen wissen, wenn ich einfach mal einen Platz brauchte, an dem ich allein sein konnte und das Leben Hamburgs von oben betrachten konnte. Colin war der einzige, den ich während dieser Zeit an meinem Lieblingsplatz duldete und manchmal saßen wir einfach schweigend nebeneinander, während die Welt unter uns ihren üblichen Lauf nahm.
„Es ist nur ein Schritt", sagte Colin, als ich mich nicht von der Stelle rührte. Er war bereits nach draußen aufs Dach gesprungen und die Sonne fiel durch die Tür ins Treppenhaus und blendete mich, so dass ich nur seine Umrisse erkennen konnte.
„Ich bin ja schon dabei." Damit wagte ich den Schritt, der später alles symbolisieren sollte. Ein Schritt in die Zukunft, ein Schritt zu Colin, der mein Leben umkrempeln und auf den Kopf stellen würde.
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Was haltet ihr eigentlich von Colin? Süß oder creepy? ;)
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