16
„Wollte fragen, wie es mit Elisabeth gelaufen ist."
„Warte, ich hole meine Jacke." Noch so ein Ding, das typisch für Colin war. Immer wenn er nachdenken wollte, musste er raus aus seiner vertrauten Umgebung. Meistens endete das dann mit einer dummen Aktion. Eigentlich hatte der Tag vor einem Vierteljahr genauso angefangen. Der Unterschied war nur, dass sich mir dieser Tag tief in mein Gedächtnis gebrannt hatte.
Es hatte damit angefangen, dass der Postbote eine Postkarte in den richtigen Briefkasten mit dem Namen Schumann geworfen hatte. Ich wünschte, er hätte sich wenigstens vertan, aber nein. Wenn man ein bisschen Glück brauchte war es natürlich völlig ausgeschöpft. Beziehungsweise gar nicht mehr vorhanden.
Die Postkarte war eigentlich ziemlich unscheinbar, ein schönes Motiv mit der Golden Gate Bridge die im Sonnenlicht funkelte und das Meer in den Hintergrund stellte. Aber das Wichtige war der Text auf der Rückseite der Postkarte.
Zu seinem Unglück hatte auch noch Colin selbst die Karte gefunden, als er unüblicherweise selbst die Post geholt hatte. Richard hätte sie vielleicht in tausend winzig kleine Schnipsel zerrissen und Colin hätte niemals etwas davon erfahren.
Aber Colin hatte die Karte sofort entdeckt und mit nach oben genommen, wo er den Text auf der Rückseite entdeckt hatte. Und ich hatte ihn genau drei Stunden später auf dem Dach entdeckt, die Postkarte immer noch in seinen Händen.
„Was ist das?" Er hatte mir die Karte wortlos weitergereicht. Colin, vielleicht willst du mich ja besuchen und wir können zusammen die Brücke besuchen? Von wem das war, war glasklar. Colins Mutter hatte nach sechs Jahren ohne Kontakt also wieder das Bedürfnis, ihren Sohn mit eigenen Augen zu sehen. Vielleicht ja, um sich zu vergewissern, dass er wirklich real war und nicht nur ein Hirngespinst, dass sie sich ausgedacht hatte.
„Schlampe." Das war mir einfach so rausgerutscht und amüsierte Colin sichtlich. Immerhin lachte er, wenn es auch ein ziemlich trockenes Lachen war.
„Stimmt."
„Was denkt sie sich denn dabei? Dass du nach all den Jahren einfach wieder zu ihr zurückkommst und die Jahre vergisst, in der sie euch aus ihrem Leben ausgesperrt hat?"
„Weißt du was, Isabella? Ich mache einfach dasselbe. Wenn sie glaubt dass eine Postkarte alles ändern kann, dann hat sie sich geirrt." Er sprang auf die Füße und schnappte sich die Postkarte, die ich immer noch fassungslos in meiner Hand hielt.
Dann ging er, ganz langsam, auf den Rand des Dachs zu und blieb nur einen Schritt entfernt stehen. Die gerade mal dreißig oder vierzig Zentimeter hohe Metallabdeckung würde ihn nicht daran hindern zu fallen, würde er einen falschen Schritt machen. Dann riss Colin die Karte einmal in der Mitte durch und ließ die zwei Teile der ehemalige Postkarte los.
Sie wurden vom Wind weggetragen und segelten langsam nach unten, bis ich sie aus den Augen verlor. Komischerweise habe ich die beiden Teile nie mehr gefunden, so sehr ich auch auf der Straße danach gesucht hatte. Vielleicht hatte sie ja Richard gefunden und in den Müll geschmissen. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie weitergeht worden waren, bis die Absicht hinter der Karte so weit weg war, dass man sie schon fast wieder vergessen hatte.
Wir hatten Collins Vater nie von der Karte erzählt und ich glaube, dass Colin auch nicht eine Sekunde darüber nachgedacht hat, das Angebot seiner Mutter anzunehmen. Ich bin gespannt, ob im nächsten Geburtstagspaket noch solch eine Karte aufzufinden sein würde oder ob Colins Mutter es bis dahin aufgegeben hatte, das Verhältnis mit ihrem Sohn doch noch zu verbessern.
Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass die Karte sowieso nur aus einer Laune heraus entstanden war. Denn Menschen veränderten sich nicht, zumindest ihr Grundverhalten. Und das Frau Schumann oder wie auch immer sie inzwischen hieß eindeutig kein Familienmensch war, war ziemlich klar.
Als Colin jetzt die Wohnungstür unbeachtet des lauten Geräusches hinter sich zufallen ließ, war mir klar, dass er nicht so ausgeglichen war, wie er es im Moment vorgab. Zusammen liefen wir die Treppen bis ins Erdgeschoss hinunter. Colin schien eindeutig aufzuatmen, als er nicht mehr von vier Wänden umgeben war, die ihn einengten.
Ich wusste dass wir weg musste von den überfüllten Straßen der Stadt, also übernahm ich die Führung und keine drei Minuten später wurde der Lärmpegel der Stadt von den Blättern der Bäume im Stadtpark gedämpft, die langsam ihre Farbstoffe verloren und nun ein Meer aus roten, orangenen und gelben Bäumen bildeten. Eigentlich war es ein traumhafter Herbsttag und wir waren bei weitem nicht die einzigen Spaziergänger im Park, die sich auf den ausgewiesenen Wegen tummelten.
„Sie hat sich von dir getrennt?", gab ich eine Vermutung ab, als die Stille zwischen uns alles andere zu übertönen schien.
„Hm. Nein. Eigentlich habe ich mich von ihr getrennt." Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Verstehe." Deswegen hatte sie sich sofort an den nächsten geschmissen. Ich wollte noch etwas sagen, aber Colin kam mir zuvor.
„Ich habe es ihr nicht gesagt", platzte es aus ihm heraus. „Das geht sie einfach nichts an. Außerdem habe ich schon seit längerer Zeit das Gefühl, dass sie das mit dem Freund und Freundin Ding zu weit treibt." Ich unterdrückte ein Kichern, weil Colins und Elisabeths Vorstellungen einer Beziehung sich eindeutig unterschieden.
„Und dein Vater? Was hat er gesagt?"
„Also, eigentlich habe ich es ihm nicht so richtig gesagt." Ich seufzte.
„Colin."
„Ich hab ihm die Bewerbungsunterlagen hingelegt."
„Und...?"
„Na, wenn er nach Hause kommt findet er die, liest es sich durch und bildet sich dadurch eine Meinung. Keine Diskussion, gar nichts."
„Und wenn er es nicht erlaubt?" Der Gedanke war zwar abwegig, aber er war da. Ich betrachtete die Fußgänger, die unseren Weg kreuzten. Ältere Ehepaare, jüngere Alleinstehende mit Hunden oder Familien mit Kindern. Colin und ich stachen dadurch heraus, dass wir die einzigen in unserem Alter waren, die sich diese Uhrzeit ausgesucht hatten, um einen gemütlichen Spaziergang im Park zu machen.
„Dann mache ich es trotzdem", erklärte Colin kurz und einfach. Ich nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Guter Plan. Und jetzt warten wir also bis dein Vater nach Hause kommt und sich den Prospekt ansieht?" Ich legte meinen Kopf in den Nacken und betrachtete den durch die rot gefärbten Blätter der Bäume kontrastierend herausstechenden Himmel.
Ich ging neben Colin her und fühlte mich am genau richtigen Platz in diesem Moment. Hier, neben meinem besten Freund hätte die Zeit stehen bleiben können und wir wären immer weiter gewandert, bis wir den anderen Rand des Parks erreicht hätten. Ich sah zu Colin, der die Schönheit des Moments wohl auch bemerkt hatte und versonnen die Natur betrachtete, die an diesem Ort in Hamburg wirklich einzigartig bezaubernd war.
„Ja." Dann erwiderte er meinen Blick und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Hast du Lust, was Verrücktes zu machen?"
„Machen wir das nicht sowieso schon?" Aber mein strahlenden Augen verrieten mich und Colin umschloss meine Hand mit seiner und fing an zu rennen. Ich hatte das Gefühl, dass wir in diesem Moment mehr teilten als nur die wenigen Zentimeter aufeinander liegender Haut. Emotionen, Gedanken, Eindrücke schlugen auf mich ein und ich rannte wie blind an Colins Seite, die Farben um mich herum ein verschwommenes Gelb, Orange und Rot.
Vielleicht bedeutete ihm das nicht so viel wie mir, aber das hinderte mich nicht daran den Moment zu genießen und vielleicht für ein paar Sekunden so zu tun, als wäre das alltäglich und normal. Der Effekt war zehnmal stärker als jeder Colin-Funke den ich jemals wahrgenommen hatte und ich hatte das Gefühl, als wäre ich betrunken am helllichten Tag. Vielleicht sagte man ja deswegen liebestrunken.
Aber als wir den Park verließen wurde Colin immer langsamer und auch ich blieb kurz darauf stehen, eine Hand auf meiner Seite, die mich im Stich ließ.
„Wohin?" Als Antwort zeigte Colin nur ungenau in eine Richtung. Ich erkannte das Ziel jedoch sofort. Mir kam ein Satz in den Sinn, mit dem ich Colin vor ungefähr einem Jahr konfrontiert hatte.
„Wir sind das genau Gegenteil voneinander, Colin. Du willst immer hoch hinaus und ich... ich will am liebsten hier unten auf der Erde bleiben." Wie ironisch, dass der Satz nun eine noch konkretere Bedeutung bekommen hatte. Dabei hatte ich vor einem Jahr nur die Treppen zur Kirche Sankt Nikolai in Hamburg gemeint und nicht den Weltraum.
„Manchmal findet man seine Träume in Höhen, in denen man sie gar nicht vermutet hätte. Komm, lass es uns ausprobieren?"
Wie hätte ich ihm auch widersprechen können. Natürlich hatte ich seine Hand genommen, auch wenn die Berührung damals noch nicht so viel bedeutet hatte wie heute. Aber natürlich war es nicht so gelaufen wie ich mir das vorgestellt hatte, natürlich nicht. Colin war immer für eine Überraschung gut und auch damals nicht weniger einfallsreich als heute.
Als wir jetzt die Straßen zur Kirche entlangliefen erinnerte ich mich an Colin, der aus heiterem Himmel das Geländer der Gerüste erklommen hatte. Die Kirche wurde zu dieser Zeit gerade saniert seit sich Jahre zuvor einer der großen Steine aus der Außenmauer des Kirchturms gelöst hatte. Seitdem war die Kirche sozusagen eine Vollzeitbaustelle und geschlossen.
Was Colin vorhatte, war nur nicht wahnsinnig gefährlich sondern auch sinnlos. Trotzdem hatte er sich mehr oder wenig elegant auf eines der Gerüste geschwungen, die per kleine Leitern miteinander verbunden waren und sich so an der Seite der Kirche und in absehbarer Höhe auch an den Kirchturm schmiegten, bis sie die Spitze erreichten, die nicht weniger als 147 Meter vom Erdboden entfernt war.
„Colin?" Er schien einen Moment auf mich zu warten und drehte sich am Anfang der Leiter um.
„Kommst du?"
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