3 - Auf falschen Wegen
"Wähle dir einen Reisebegleiter und dann erst den Weg."
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Am dritten Abend meiner Reise bemerkte ich, dass wir von unserem Kurs abgekommen waren.
Um meine These zu belegen, stellte ich mich bei unserer Ankunft am nächsten Lagerplatz mit dem Rücken zum Norden und starrte ins Himmelsgewölbe. Die Sonne hatte heute besonders stark auf meinen Schädel geschienen und mir wahrscheinlich die letzten Reste meines Verstandes verbraten. Doch eines konnte ich — den Sternenhimmel als das erkennen, was er war: Ein Wegweiser nach Hause.
Ich nutzte die Gunst der Dämmerung, um den Stern meiner Vorfahren zu finden und musste abermals feststellen, dass er nicht direkt vor uns lag, wie er es eigentlich müsste, sondern etwas zu weit rechts. Wir waren in nordöstliche Richtung geraten, anstatt unseren südöstlichen Kurs zu halten. Da hatte ich die Orientierungsfähigkeit des Kamelführers offenbar überschätzt.
Ein tiefer Seufzer entkam meiner Brust. Wenn wir zu stark von unserer Route abwichen, dann würde sich meine Ankunft in Jaradin verzögern.
Die Anweisungen meiner Eltern waren jedoch klar gewesen. Ich solle exakt bei Vollendung meines neunzehnten Sternenzyklus zu ihnen ins nomadische Leben zurückkehren. Dafür würden sie in der Oase auf mich warten.
Das war nicht gerade etwas, was Nomaden gerne taten. Das Warten. Kasbahren waren bekannt für ihre Ungeduld. Rastlose Menschen, die stets das Weite suchten. Mir war schmerzlich bewusst, dass meine Eltern über eine Verspätung alles andere als erfreut sein würden.
Ich biss mir auf die Unterlippe und beschloss, den Kamelführer darauf anzusprechen. Schliesslich war er von Sitty bezahlt worden. Er war verpflichtet, ihrem Auftrag nachzukommen, sonst würde er den zweiten Teil der Bezahlung von meinen Eltern nicht erhalten. Ich wusste, wie knauserig und exakt mein Vater war. Abmachungen waren eine Frage der Ehre und wenn sich eine Partei nicht daran hielt, dann würde er auch nicht zahlen.
Eine hässliche Szene könnte uns auf dem Kamelhof von Jaradin blühen. Ich sah es schon vor mir.
Besser nicht.
Entschlossenen Schrittes ging ich durch unser Zeltlager und hielt Ausschau nach dem Kamelführer. Einmal mehr war mein Zelt fernab aller anderen aufgestellt worden, als sei ich eine Aussätzige, der man am liebsten aus dem Weg ging. Von niemandem in ein Gespräch verwickelt zu werden, hatte auch seine Vorteile. Das gab mir mehr Zeit, mich auf meine Bücher zu konzentrieren, welche ich nur nachts im schwachen Licht einer Öllampe lesen konnte — dann, wenn meine Augen vor Müdigkeit bereits brannten. Ich schaffte immer nur ein paar wenige Seiten.
Ich durchquerte das gesamte Lager, aber fand den Kamelführer nicht. Er musste irgendwo in einem Zelt stecken, dachte ich mir. Dann würde ich bis zum Abendessen warten müssen, um dies zu klären. Ich ging gerade an einer Jurte vorbei, da griff ich ein paar Worte auf, die darin gesprochen wurden.
„Und wo soll diese Höhle sein?", fragte der eine, dessen Stimme ich als jene des weissbärtigen Mannes identifizierte.
Meine Grossmutter hatte mein Gehör gut geschult. Als Windflüsterin lag es ihr besonders am Herzen, dass ich die Klänge der Wüste erkennen und Gefühle aus der Stimmlage von Menschen herausfühlen könne. In dieser Stimme schwang Besorgnis und ein Hauch Misstrauen mit.
„In Qarda."
Ich blieb abrupt stehen. Das war der Kamelführer, der geantwortet hatte. Hier steckte der Kerl also. Ich trat einen Schritt näher an die Zeltplane, um besser lauschen zu können.
„Die Nekropole von Qarda?", hakte der Alte nach. „Bist du dir sicher?"
„Das hatte er mir gesagt. Ich schwöre es beim Namen des letzten Sultans und seinen sieben Söhnen! Wir sind nur noch einen Tagesritt davon entfernt."
Ich kniff die Augen zusammen. Das war also der Grund, weshalb wir vom Kurs abgekommen waren. Er führte uns absichtlich in nordöstliche Richtung, zur Totenstätte von Qarda. Ein kühler Wind zog an meiner Kleidung, als hätte ich alleine mit dem Gedanken an diesen unheimlichen Ort die Geister der Verstorbenen geweckt. Ich schlang die Arme enger um meinen Oberkörper.
„Und wo genau sollen wir suchen? Warst du schon mal dort? Qarda hat zigtausende Hohlräume und Schächte, einige mit Felsen oder Türen versperrt, andere, die ins Nichts führen. Willst du alle dreihundert Gräber durchsuchen oder wie?"
Eine Gänsehaut zog mir über die Arme bis zu meinem Nacken. Sie wollten Gräber schänden?
Ein trockenes Lachen. „Nein."
„Wir werden Tage brauchen!"
„Es hiess, vor dem richtigen Eingang wachse eine Wüstenrose mit Blütenblättern so zart und rosig wie die Lippen einer Jungfrau", erwiderte der Kamelführer. Er hielt inne und ich konnte mir vorstellen, wie ein breites Grinsen sein Gesicht zierte. Obwohl ich es nicht sah, spürte ich es in seinen Worten. „Das wird wohl kaum so schwer sein zu finden."
Ein Seufzen, das vom weissbärtigen Mann kommen musste. „Ich weiss nicht. Mir wäre jeder andere Ort lieber, aber kein Friedhof. Was, wenn wir einem Ghul begegnen?"
„Mahmud." Der Kamelführer klang nun fast so, als spreche er mit einem Jungen. Die Erwähnung der leichenfressenden Dämone schien ihn nicht zu beängstigen. Ich fühlte Spott in seiner Stimme. „Die Kammer soll bis zur Höhlendecke mit Gold, Silber, Perlen, Saphiren und Rubinen gefüllt sein. So viel, dass sich jeder seine Taschen bis zum Bersten füllen kann!"
Erst als mir die Luft ausging, merkte ich, dass ich aufgehört hatte, zu atmen. Alkhizana — die Schatzkammer im Felsen. Davon sprachen die zwei. Ich kannte die Legende noch aus meiner Kindheit. Meine Mutter hatte mir die Geschichte einst erzählt, als ich kränklich im Bett lag und ihre Nähe brauchte. In der Legende hiess es, dass ein Sohn des letzten Sultans vor dem Zerfall des Reiches seines Vaters diese Kammer in einer Höhle erbaut habe. Gut verborgen und schwer zu finden, um die wertvollen Gegenstände seiner Blutlinie vor Räubern und Plünderern zu bewahren. Eine geheime Schatzkammer eines untergegangenen Sultanats.
Die Kasbahren liebten solche Erzählungen.
„Dir ist bewusst, dass wir in grosse Schwierigkeiten geraten könnten, wenn man uns entdeckt."
Die Stimme des weissbärtigen Mannes riss mich aus meinen Gedanken und holte mich wieder in die Realität zurück. Ich stand noch immer vor ihrem Zelt und lauschte mit.
„Niemand wird etwas hören oder sehen", erwiderte der Kamelführer und ich war mir sicher, dass er dabei die Schultern zuckte. Was für ein arroganter Kerl.
„Und was machen wir mit der Kleinen?" Sorge schwang in der Stimme des Alten und da realisierte ich, dass er von mir sprach.
Der Kamelführer grunzte. „Der Klotz am Bein?"
Am liebsten hätte ich laut und abschätzig mit der Zunge geschnalzt, doch ich blieb stumm. Ich hatte ja schon von Anfang an das Gefühl, dass er mich als Ballast betrachtete. Es so zu hören, fand ich dennoch unverschämt.
„Die Kasbahrin", antwortete der Alte. Immerhin nahm er mich als ganzen Mensch wahr. Anders als der dämliche Kamelführer und seine restliche Reisegesellschaft. „Müssen wir sie nicht in vier Tagen in Jaradin abladen?"
Ich nickte vor mich hin. Ja, das mussten sie, aber weil wir bereits zu weit vom Weg abgekommen waren, würden wir eine ganze Nacht lang durchmachen müssen, um rechtzeitig ...
„Manche, die in die Wüste schreiten, kommen nicht zurück", flüsterte der Kamelführer. Mir wurde augenblicklich kalt, als ich realisierte, was er da andeutete. Ich wich einen Schritt zurück.
„Aber der zweite Antei—", wollte der Weise einwenden, da wurde er vom Karawanenführer unterbrochen.
„Wenn wir Qarda erreichen und ich meine Taschen mit Gold und Edelsteinen füllen kann, was interessieren mich dann noch zwanzig Dinaren!" Sein Lachen triefte vor Spott.
Für einen Moment war es still in ihrem Zelt. Ich konnte spüren, wie der alte Mann die Worte verarbeitete. „Wenn du von Anfang an wusstest, dass wir nicht gesehen werden sollten, warum hast du dann eine Unschuldige mitgenommen?"
„Ich wusste es nicht von Beginn an. Der Wanderer sprach mich erst kurz vor Aufbruch an und gab mir den Hinweis, nach Qarda zu gehen", knurrte der Kamelführer, als sei das eine gute Entschuldigung. „Die Kleine hat einfach Pech gehabt. Aber seit wann ist das Leben schon gerecht?" Die Frage hing wie ein dunkler Vorbote in der Luft.
„Was willst du damit sagen?", fragte der Weissbärtige und ich meinte zu vernehmen, wie seine Stimme zitterte.
Als der Kamelführer antwortete, klang seine Stimme rau und bedrohlich. „Ich will damit sagen, dass wir sie loswerden, bevor sie Verdacht schöpft."
Ich zuckte so stark zusammen, dass der Schreckenslaut nicht mehr gestoppt werden konnte. Der Schrei verliess meine Kehle und hallte über die Zelte. Augenblicklich knallte ich mir die Hände vor den Mund, jedoch war es zu spät.
„Was war das?"
Stoffe raschelten, Knie knacksten. Sie mussten sich erhoben haben. Ich drehte mich um und nahm meine Füsse in die Hand. So schnell ich konnte, sprintete ich zu meinem Zelt. Ich musste verschwinden.
„Bleib stehen!", hörte ich den Kamelführer hinter mir rufen.
Doch ich rannte weiter. „Sitty!", stiess ich im Lauf aus. Ich hoffte so, dass sie mich hören würde. Dass ich noch nicht zu weit weg von Kesh war, dass die Winde sie nicht mehr rechtzeitig erreichen würden. „Sitty, ich bin in Gefahr!"
Ausser Puste erreichte ich mein Zelt, riss die Plane auf und stürzte auf die Knie. Mit zitternden Händen packte ich alle meine Sachen zusammen, stopfte die Bücher in meine Tasche und rollte meine Decke zusammen. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Wo ich mich verstecken sollte. Überhaupt — was ich tun sollte!
„Sitty!", flehte ich, doch der Wind, der an meinen Zeltplanen flatterte, blieb stumm. Ich erhob mich und gerade als ich aus dem Zelt schlüpfen wollte, wurde ich mit einem Fusstritt in die Brust zurück ins Innere geschleudert. Rücklings fiel ich zu Boden.
„Hier geblieben", knurrte der Kamelführer, als er in mein Zelt trat und auf mich herabblickte. In seiner Hand blitzte etwas Metallisches auf. Ein Säbel, die Klinge so lang wie mein Unterarm.
Mir blieb das Herz in der Brust stehen. So würde es also enden, mein Leben. In einem Zelt mitten im Nirgendwo. Aufgeschlitzt und ausgeblutet. Wahrscheinlich würde er meinen Körper den Aasgeiern überlassen, sobald er mit mir fertig war. Niemand würde wissen, was mit mir geschehen war. Weder Sitty, noch meine Eltern.
Ich kroch tiefer in mein Zelt, während er einen Schritt auf mich zutrat.
„Wärst du doch bloss nicht so verdammt neugierig", grollte er. „Dann hätte ich das hier", er hob den Säbel, sodass ich einen Blick auf dessen geschwungene Klinge werfen konnte, „angenehmer gestalten können."
„Bitte ..." Wahrscheinlich würde alles Betteln und Flehen nichts bringen, doch wollte ich es nicht unversucht lassen. „Lasst mich einfach gehen. Ich werde niemandem etwas sagen. Ich schwöre es!"
Er lachte auf, als würde er meine Gedanken bestätigen: Für Gnade war es zu spät.
„Du hast uns gehört", murrte er und das schien ihm Rechtfertigung genug zu sein.
Ich wusste, dass sie die Gräber Qardas schänden wollten, dass sie deren Schätze rauben wollten. Es war eine unverzeihliche Straftat, die Ruhe der Toten zu stören. Wenn die Ghule sie nicht erwischten, dann würde sie ein Tribunal richten wollen — vorausgesetzt, es erfuhr davon. Zwischen der unbestraften Freiheit dieser Banditen und der Konsequenz ihrer Taten stand nur ich. Eine junge Nomadin, die einfach die falsche Karawane gewählt hatte.
Pech. Ja, als solches konnte man das wirklich bezeichnen.
Die Hand, die seinen Säbel hielt, schwang vor und schmetterte auf mich herab. Ich schrie auf. Ein letztes Mal.
Meinen Arm hob ich über meinen Kopf. Ein Instinkt, der tief in mir steckte und mein Leben schützen wollte. Bevor mich die spitze Klinge allerdings treffen konnte, wurde der Kamelführer zur Seite gerissen. Sein Säbel verfehlte mich um Haaresbreite. Nur die dünne Spitze streifte meine Haut am Kinn. Genug, um sie zu zerschneiden und meinen Gesichtsschleier zu zerreissen. Ein heisser Schmerz jagte mir übers Gesicht.
„Wage es nicht!", hörte ich jemanden rufen.
„Nimm deine Finger von mir!", brüllte mein Angreifer.
Ich öffnete blinzelnd die Augen und erblickte den blauäugigen Mann in meinem Zelt. Er rang mit dem Karawanenführer und hielt ihn in Schach. Am Eingang stand ein zweiter Kerl. Der weissbärtige Mann.
„Komm, schnell!", rief dieser und winkte mich zu sich.
Ohne zu zögern rappelte ich mich auf, packte meine Tasche und sprang aus dem Zelt. Mein Retter kämpfte noch immer gegen den Kamelführer an. Der alte Mann legte seine Hand auf meine Schulter und schob mich weg vom Geschehen.
„Du musst alleine weiterziehen, Kind", sagte er. In seinen Augen sah ich die ehrliche Sorge. Das Bedauern, dass er mich nicht vor all dem hatte bewahren können. „Es ist hier nicht mehr sicher für dich. Nimm dein Kamel und zieh von dannen!"
Ich schüttelte den Kopf, denn das konnte nicht sein Ernst sein. Alleine in den Weiten Tulhaias war ich aufgeschmissen! Selbst als Nomadin glich das einer Selbstvernichtung.
„Ich werde verdursten!", stiess ich aus. Der alte Mann zog mich am Oberarm mit sich. Zu den Kamelen. Offenbar meinte er es ernst.
„Hier, nimm meinen Trinkbeutel", sagte er und streckte mir den Lederbeutel hin, welcher davor noch an seinem Gurt gehangen hatte. „Das wird ausreichen müssen. Teile es gut auf. Es ist noch immer ein langer Weg bis nach Jaradin."
Hinter uns hörte ich, wie der Blauäugige aufbrüllte. Der Kamelführer musste ihn verletzt haben. Panik schoss mir in die Brust und so hievte ich mich auf mein Kamel. Ich wollte nicht ein zweites Mal die Schärfe seiner Klinge schmecken.
Der alte Mann band meine Tasche um die Schultern des Tieres und mit einem festen Schlag auf dessen Hintern trieb er es in den Galopp. Ich wagte keinen Blick mehr zurück, aber am Brüllen des Kamelführers hörte ich, dass er ausser sich vor Wut war.
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Randbemerkungen:
Ich hoffe, euch geht es gut und ihr hattet eine gute Woche.
Najmah wird vom Pech verfolgt, doch ich würde sagen: Das Abenteuer beginnt ;-)
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