Michael gegen Luzifer
Song: Five Finger Death Punch - Brighter Side of Grey
Achtung Triggerwarnung!
Seit zwei Tagen sitze ich in dieser Hölle, nicht mal zum Essen gehe ich. Ich bekomme zu jeder Mahlzeit ein Tablett vor die Tür gestellt, doch von dem Essen rühre ich nicht viel an, denn es kommt mir sowieso wieder hoch. Nicht einmal etwas zu trinken behält mein Magen in sich, weshalb es nie lange dauert, bis ich ins Bad renne und mich übergebe.
Sie haben mir einen Bleistift und ein weißes Blatt Papier gegeben, mit dem ich machen soll, was ich möchte. Ich soll zeichnen oder schreiben, meine Gedanken zu Papier bringen. Allerdings ist es mir vor lauter Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen nicht möglich, etwas zu zeichnen, zumal meine linke Hand sich in Gips befindet und ich mit Rechts schreibe, als wäre ich gerade in die erste Klasse gekommen. Trotzdem sitze ich am Schreibtisch, drehe den Bleistift auf dem Blatt und starre vor mich hin. Selbst als es klopft, bleibe ich sitzen, rühre mich nicht. Es ist Zeit für das Abendessen.
Dieser verfluchte Penner! Wahrscheinlich hat er es so verordnet, dass ich nicht in den Speisesaal gehen soll. Ich wette, dass er mich bevormundet, dass er alles wieder gut machen will, dabei kann er mich einmal ganz tief an der Rosette lecken! Er hat uns alleine und im Stich gelassen, sich nie wieder blicken lassen. Das kann ich nicht verzeihen. Er war kurz vor Papas Tod da und dann war er spurlos verschwunden. Er hat sich aus dem Staub gemacht, als wir ihn am meisten brauchten. Das kann er nicht wieder gut machen, nicht durch unnötige Taten und nicht, indem er tut, als wolle er mich schützen.
Ich fahre mir mit der rechten Hand durch meine verknoteten Haare und seufze, ehe ich mich erhebe und zur Tür gehe, um das Tablett an mich zu nehmen. Als ich die Tür öffne, steht Timo mit dem Essen in der Hand davor. Mit einem ausdruckslosen Blick schließe ich die Tür direkt wieder, bevor er etwas sagen kann. Er soll nicht einfach so tun, als könne man acht Jahre innerhalb weniger Tage nachholen und so tun, als sei nichts geschehen.
"Mika, lass mich bitte rein." Durch die dicke Tür klingt sein Betteln dumpf, als sei er weit weg, als würden uns keine sieben Zentimeter massives Holz trennen. Und trotz meiner aggressiven Aufforderung, er solle sich verpissen, öffnet er die Tür, während ich mich schon wieder auf den Weg zu dem Schreibtisch mache, um mich wieder nutzlos davor zu setzen und die Zeit tot zu schlagen. Er stellt das Tablett mit dem Essen neben mir auf dem Tisch ab.
"Kannst du nicht hören? Ich sagte, du sollst verschwinden!" Gereizt blicke ich ihm in die Augen und könnte schwören, es seien meine eigenen. Nur dass meine puren Hass zeigen und keine Freundlichkeit.
"Ich möchte mit dir sprechen." Sein Tonfall ist ruhig, die Hände hat er verschränkt und er schaut mich auffordernd an. Beinahe schon herausfordernd.
"Ich will aber nicht mit dir reden!", gebe ich patzig von mir und drehe mich weg. Auch wenn ich mir gerade vorkomme, wie ein kleiner Junge, dem seine Mutter kein Eis gekauft hat, soll er nicht erwarten, dass ich so tue, als sei alles in bester Ordnung.
"Ich weiß, du bist sauer, weil wir einander lange nicht gesehen haben, aber lass es mich dir erklären." Jetzt drehe ich mich wieder zu ihm und stehe auf, damit ich ihm geradewegs in die Augen sehen kann, ohne mich ihm unterlegen zu fühlen. Dabei wird mir kurz schwummrig und mein Herz beginnt zu rasen.
"Ich scheiße auf deine Erklärungen! Schieb sie dir sonst wo hin oder erzähl die irgendjemandem den das interessiert!"
Ich will irgendwas zerschlagen. Vielleicht sein Gesicht, damit man die Verwandtschaft vorerst nicht mehr erkennen kann. Aber der Gedanke, ihm vors Schienbein zu treten, ist nochmal genugtuender. Vielleicht versuche ich auch, ihm ins Auge zu spucken. Mal sehen ob ich treffe. "Mika, du bist hier, weil deine Mutter mich darum gebeten hat, ein Auge auf dich zu habe. Sie hätte dich auch woanders unterbringen können." Ich schnaube verächtlich.
"Wie schön für sie, dass sie so tut, als bedeute ich ihr noch was." Der Gedanke daran tut weh.
Meine Mutter hat sich die letzten Jahre weder um mich gekümmert, noch hat es den Anschein gemacht, als wolle sie es tun. Viel lieber hat sie ihren Typen gefickt!
"Sie weiß nicht mehr weiter, Mika." Ich zucke die Schultern.
"Ist mir doch egal, dann soll sie weniger saufen, vielleicht bleiben ihr dann noch ein paar Gehirnzellen übrig, damit sie denken kann." Ein falsches Lächeln liegt auf meinen Lippen. Es fühlt sich mit meinem vor Hass sprühenden Blick an, als mutiere ich gleich zum Joker. Ein Wahnsinniger, ein Psychopath.
"Ich weiß, eigentlich müsste sie ebenfalls hier sein, um sich einem Entzug zu unterziehen, aber wir wissen beide, dass dies nicht geht." Wir beide schweigen für einen Moment, ehe Timo seufzt. "Sie will zu Hause bleiben, um bei Chiara zu sein."
"Dass ich nicht lache! Du hast absolut keine Ahnung, Timo, also halt bitte dein Maul und verzieh dich jetzt!" Ich drehe mich um, mittlerweile kraftlos.
Ich hasse es, dass meine Mutter mich unbedingt hier unterbringen musste. Von mir aus hätte es jede x-beliebige Anstalt sein können, in der ich nicht auf den Mann getroffen wäre, der immer noch im Raum steht. Ich merke seinen Blick in meinem Rücken, als ich mich vornüber auf das unbequem harte Bett fallen lasse.
"Iss bitte wenigstens etwas, Mika. Tu mir den Gefallen." Timo seufzt. Schritte entfernen sich von mir.
"Wenn du so lange da bleibst, damit ich dir auf deinen feinen Anzug kotzen kann, mach ich es."
Ohne ein weiteres Wort schließt er die Tür hinter sich und lässt mich wieder alleine.
Es ist schwer, nicht die Fassung zu verlieren, wenn nach so vielen Jahren jemand vor dir steht, der dich einst in eine Schlucht geworfen und dir dabei eine gute Reise gewünscht hat.
Kaum bin ich alleine, merke ich das verdrängte Pochen in meinen Schläfen. Ich könnte schwören, dass sich irgendein Bauarbeiter in meinem Kopf eingenistet hat und nun mit einem Presslufthammer meinen Schädel demoliert.
Die Schmerzen werden von Sekunde zu Sekunde unerträglicher, nichts hilft, kein Lavendel, keine kontrollierte Atmung. Nicht einmal etwas zu trinken hilft, da ich es so oder so wieder auskotzen werde, sobald es in meinen Magen fließt.
Dass das Geschirr auf dem Boden zerspringt, bekomme ich lediglich durch eine Wolke aus Watte mit. Mein ganzer Körper schmerzt. Er sehnt sich nach der Befriedigung, nach der Heilung, nach der Freude. Meine Seele braucht Frohsinn, Hoffnung und einen Lichtblick. Doch ich habe mir all das freiwillig nehmen lassen. Jede Sekunde meines elendigen Daseins frage ich mich, wieso ich es getan habe. Warum habe ich den Schritt getan, einen Entzug zu machen?
Dieser Schritt zerstört mich. Es fühlt sich an, als wenn jeder Knochen bricht, jede Sehne reißt und jeder Muskel platzt.
Mein Blick schweift zu den weißen Scherben am Boden. Müde lasse ich mich neben ihnen auf die Knie sinken, meine Sinne werden wieder schärfer, als ich das Porzellan betrachte, eine große Scherbe aufhebe und sie in meiner Hand wiege. Mein innerer Luzifer drängt, es zu tun, doch mein innerer Michael hält dagegen. In meinem Kopf fechten sie einen Kampf aus, den Luzifer zu gewinnen scheint.
Ich drücke die Scherbe auf meinen linken Oberarm und ziehe langsam einen Schnitt in mein Fleisch, die Kamera in der Ecke ignorierend. Meine Augen brennen, Michael hat verloren, teilt mir seinen Schmerz mit, lässt eine Träne nach der anderen meine Augen verlassen. Der Dämon hat erneut über mich gesiegt. Der Genugtuung kann kein Dämon widerstehen und der Teufel schon gar nicht. Mit einem weiteren Schnitt bestrafe ich mich für diese Tat, für meine Gedanken, die klarer zu werden scheinen. Die innere Unruhe lässt nach, meinen Körper spüre ich kaum noch. Mehr ist es ein Kribbeln, das in den Fingerspitzen besonders stark ausgeprägt ist. Der Fokus meines Schmerzes liegt auf den Wunden. Langsam kann ich die Lider schließen, doch die Tränen versiegen nicht.
Ein Schluchzen verlässt meine Kehle, als ich gedämpft Schritte wahrnehme, die sich eilig nähern.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter, es fühlt sich an, als verschwinde Luzifer und ich lasse die Scherbe fallen. Meine Hände zittern, als ich versuche, sie zu wieder aufzuheben. Vor meinen Augen taucht die Gestalt meines Vaters auf, als ich die Augen öffne. Er schüttelt den Kopf, Enttäuschung liegt in seinem Blick.
"Wie konnte es nur so weit kommen?", höre ich ihn sagen.
"Tut mir leid!", wimmere ich und versuche, ihn mit meiner Hand zu erreichen. Er soll nicht enttäuscht oder sauer sein. Er soll mich in seine Arme schließen, mir über den Rücken streichen und sagen, alles wird wieder gut, alles kommt in Ordnung. Ich brauche den von ihm ausgesprochenen Mut, um das durchzustehen.
Seine Gestalt verschwimmt vor meinen Augen.
"Lass mich nicht allein, bleib bei mir!" Ich rufe, stehe auf und stolpere nach vorne. Versuche, ihn zu erreichen, mich in sein hellblaues Hemd zu krallen, doch ich greife ins Leere. Ich falle nach vorne, lande auf dem Boden. Die Kraft, mich aufzufangen, ist mir entglitten. Ich pralle auf den harten Boden und rolle mich auf der Seite zusammen. Schluchzer erschüttern meinen Körper, Übelkeit dringt in den Vordergrund meiner Sinne. Ich kann sie nicht bekämpfen, gebe ihr nach und erbreche, bevor ich nichts mehr fühle, höre oder sehe.Nicht einmal die Nässe meines erbrochenen spüre ich noch.
Als ich wieder aufwache, ist es dunkel im Zimmer. Ich liege in dem harten Bett, ein Kuscheltier in meinen Armen. Ich kann mich nicht erinnern, ins Bett gegangen zu sein oder ein Kuscheltier genommen zu haben.
Benommen rolle ich mich auf die Seite und schalte das kleine Licht auf dem Nachtschränkchen an. Dann betrachte ich das Kuscheltier in meinem linken Arm.
Es ist mein Shaymin, ein weißes Pokémon, das einem Igel gleicht. Auf seinem Rücken befindet sich grünes Fell, in dem seitlich eine pinke Blume hängt. Welche Blume es ist, weiß ich nicht, interessiert hat mich das noch nie. Doch es war schon immer mein Lieblingspokémon. Früher habe ich dieses Spiel, Perl, immer auf meinem DS gespielt, um der Realität zu entfliehen. Immer, wenn meine Mutter von ihrem damaligen Freund flachgelegt wurde. Immer habe ich mich in diesen Momenten unter meiner Bettdecke verkrochen, versucht, die Geräusche um mich herum auszublenden, mich auf das Spiel zu konzentrieren.
Anfangs hatte es nie funktioniert, doch nach einigen Monaten fing ich an, eine Passion für Musik zu entwickeln, als mein bester Freund mir einen iPod zu meinem Geburtstag schenkte. Mit der Musik in meinem Kopf konnte ich meine Umgebung endlich ausblenden.
Er war es auch, der mir dieses Shaymin schenkte, als Trost, damit ich mich nicht in den Schlaf weinen musste.
Der Gedanke an ihn lässt meinen Brustkorb schmerzlich zusammenziehen. Ich hatte ihn vor meiner Abreise nicht mehr gesehen, sondern ihm lediglich eine Nachricht hinterlassen, dass ich auf unbestimmte Zeit weg sein würde. Ob es ihm gut geht? Ein Schmerz in meinem Herzen, den ich nie gefühlt habe, lässt mich zusammenzucken. Das Gefühl kommt mir bekannt vor, doch kann ich es nicht zuordnen.
Stöhnend setze ich mich in dem unbequemen Bett auf und fröstle direkt, als die Decke, die mich zuvor gewärmt hat, runter rutscht. Statt meines Pullovers trage ich ein weißes T-Shirt. Ich erinnere mich an nichts mehr. Nur noch, dass Timo bei mir gewesen war. Oder war das auch nur ein Traum?
Ich krame unter meinem Kopfkissen nach meinem iPod, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und entsperre den Bildschirm, öffne die Musik und suche in meiner Playlist nach beruhigenden Liedern.
Unbewusst bleibe ich bei Brighter Side of Grey von Five Finger Death Punch hängen, starre drauf und spiele es letztendlich ab.
Als ich das Licht wieder ausschalten möchte, entdecke ich einen Zettel auf dem kleinen Schrank, der neben dem Bett steht. Wenn du aufwachst, nimm diese Tablette ein, steht drauf. Daneben liegt eine kleine, gelbe Tablette in einem Schälchen. Ich nehme sie ein, ohne darüber nachzudenken, welcher Wirkstoff sich darin verbirgt. Die Tablette zergeht auf meiner Zunge, löst sich auf und hinterlässt einen gemischten Geschmack, bei dem ich nur Orange identifizieren kann.
Ich knipse die Lampe aus, rolle mich auf die Seite, schließe die Augen, nachdem ich das Lied von vorne gestartet habe. I' writing this in case I'm gone tomorrow, I' writing this in case I've moved along. There's something that I hope you'll remember, That life is not a game, it's a song. So take the best parts of me, locked away without the keys and know that I'm forever by your side.
Mit diesem Text in meinem Kopf drifte ich immer weiter ab. Weg von der Klinik, weg von all meinen Sorgen. Hin zu Juli, um ihn zu bitten, mir zu vergeben.
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