
9. Kapitel 3/4
"Sie ist vollkommen erstarrt", die Stimme drang dumpf zu mir durch. "Außerdem ist sie eiskalt. Denkst du, der Anblick war zu viel für sie?"
"Sie ist jung", die weibliche Stimme klang sehr vertraut - auch wenn ich sie eine Weile nicht mehr gehört hatte. "Und sie leidet mit den gefallenen Engeln. Das muss ein großer Schock gewesen sein."
Schritte ertönten und verklangen. Dann herrschte Stille.
"Alexa", die Stimme war sanft und warm.
Langsam konnte ich spüren, wie die Wärme zu mir zurückkehrte, meine erfrorenen Glieder wieder zum Leben erweckte, mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit holte und den Schmerz aus meinen Füßen vertrieb.
"Melissa", flüsterte ich, als ich die Stimme endlich einer Person zuordnen konnte.
Ich drehte den Kopf und sah sie auf dem Stuhl sitzen.
"Sie spricht", grinste sie und zwinkerte mir zu. Dann wurde sie ernst. "Schrecklicher Anblick, nicht wahr?"
Ich nickte langsam.
"Unmenschlich."
"Sei vorsichtig, ja?", bat sie mich mit einem sanften Lächeln. "Deine offene Meinung könnte dich noch in Schwierigkeiten bringen."
"Tut mir Leid", murmelte ich und stand von der Liege auf.
"Du kannst mich jederzeit besuchen", erwiderte sie nur. "Und du musst weder unter Schock stehen, noch Blasen an den Händen haben dafür."
"Ich geb mir Mühe", ich brachte ein schwaches Lächeln zustande.
"Ach ja, sie haben gesagt, du kannst dir den Rest des Tages freinehmen und dich ausruhen", rief Melissa mir noch hinterher.
Gedankenverloren saß ich auf meinem Bett, die Flügel über das Laken ausgestreckt, die Hände ineinander verschlungen.
Wenn ich nicht aufpasste, fingen sie wieder an zu zittern. Sowohl meine Hände, als auch meine Flügel. Ich kniff die Augen zusammen und ließ den Kopf sinken, meine Schultern angespannt nach oben gezogen.
Mein Kopf war vollkommen leer und doch stand mir ein Bild vor Augen. Dieses eine Bild. Ich konnte ihre leeren, blassen Augen der Leiche vor mir sehen und wurde erneut in die Tiefe hinabgezogen.
Schwer atmend riss ich die Augen auf und löste meine Hände voneinander. Zitternd trat ich ans Fenster und heftete meine Augen in Richtung des Turms. Er würde mir jetzt guttun.
Hoffentlich...
Ich breitete meine Flügel aus und verließ mein Zimmer. Langsam änderte ich die Richtung - genoss den Wind in den Federn - und stieg nach oben, zur Kuppel des Turms.
Der dunkelblaue Marmor kam in Sicht; er glänzte herrlich in der Sonne. Ich atmete erleichtert auf und ließ mich darauf sinken. Ich griff nach der Spitze und hielt mich an ihr fest.
Das ist besser...
Ich seufzte und schloss die Augen, ließ die Wärme der Sonnenstrahlen meine Kälte vertreiben. Und gemeinsam mit der Wärme kehrte auch langsam meine Ruhe wieder zurück. Ich atmete tief ein und aus, ließ meine Gedanken laufen, bis sie von selbst zum Stillstand kamen.
Die Beerdigung der gefallenen Engel!
Abrupt öffnete ich meine Auge. Das hatte ich total vergessen!
Aber inzwischen sind sie damit wohl schon fertig.
Enttäuscht setzte ich mich, die Beine im Schneidersitz.
Wenn ich den gefallenen Engeln helfen will, muss ich stark sein! Ich muss mehr von ihrem Leiden sehen, damit ich weiß, was verändert werden muss! Ich muss durchhalten.
Ich seufzte wieder und schloss die Augen. Wie einfach es doch wäre, alles einfach jemand anderem zu überlassen. Sich keine Gedanken mehr machen zu müssen. Die Augen vor all diesem Leid zu verschließen.
Aber das machen bereits alle anderen hier oben. Wenn ich ihnen also nicht helfe, tut es niemand.
Entschlossen stand ich auf und breitete meine Flügel aus.
Ich sollte wohl besser schon einmal recherchieren, wie das alles abläuft. Wenn ich meine Sache nicht gut mache, wird daraus nichts!
"Geht es dir wieder besser?", fragte der Mann von gestern besorgt und musterte mich. "Du musst da nicht wieder runter, wenn du nicht willst."
"Doch, ich schaffe das", erwiderte ich mit fester Stimme und sah ihn entschlossen an. "Und danach würde ich auch gerne an der Beerdigung teilnehmen."
"Wie du willst", meinte er, noch immer ein wenig unsicher. "Wir gehen sowieso nur einmal am Tag runter."
"Was hältst du von der Hölle?", fragte ich langsam, während wir gemeinsam mit den anderen zum Rand der Wolke gingen.
"Es ist schlimm dort", sagte er vage.
"Und?", wollte ich weiter wissen.
"Na ja, der Ort ist so schlimm, damit hier oben niemand gegen die Regeln verstößt, oder?", gab er zu bedenken. "Ist es damit nicht berechtigt?"
Enttäuscht wandte ich den Blick ab.
"Was hältst du von der Hölle?", gab er die Frage an mich zurück, als die anderen langsam nach unten flogen.
"Es ist ein grausamer Ort, an dem die gefallenen Engel jegliche Hoffnung verlieren und vermutlich traumatische Erlebnisse durchstehen müssen. Ich kann nicht verstehen, wie irgendwer das für gerecht halten kann!", antwortete ich ehrlich und ein wenig hitzig.
"Aber sie wussten, was ihnen bevorsteht, also haben sie es doch wohl in Kauf genommen, meinst du nicht?", warf der Engel ein.
"Und was ist, wenn sie einfach nur das getan haben, was sie für richtig hielten? Vielleicht wollten sie einfach nur helfen und alles besser machen?", entgegnete ich stur.
Ich konnte sehen, dass der Mann es vorzog, nicht weiter darauf einzugehen.
Wir erreichten den Boden und warteten auf die Menschen von der Leichenbeseitigung.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sie um die Ecke bogen, erneut zwei Leichen hinter sich herziehend. Schweigend legten sie die Füße auf den Boden und entfernten sich.
Die Gerichtsvollzieher zogen ihre Stäbe und die zwei leblosen Körper begannen zu schweben.
"Gehen wir", meinte der Engel und wir stiegen wieder nach oben.
Nachdenklich hielt ich an und sah zurück.
In den Büchern stand nicht viel über die Hölle. Ich werde wahrscheinlich selbst nachforschen müssen.
"Ist alles in Ordnung, Alexa?", fragte der Engel besorgt, während die anderen zwei bereits in den Wolken verschwanden.
"Mir geht's gut", erwiderte ich schnell und holte zu ihm auf.
Auf der Marmorplatte angekommen, folgte ich den drei Engeln zu einem Gebäude weiter am Rand. Es war nichts so groß wie die anderen und es befanden sich kaum Engel darin.
Stimmt ja, Dan hat mal erzählt, dass Seher nur unter Engeln geboren werden.
Und Kaspar hat mir erzählt, dass hier oben nicht sehr viele Kinder geboren werden.
Eine ältere Frau trat zu uns. Sie hatte ihr helles, blondes Haar - durch das sich bereits regelmäßig graue Strähnen zogen - zu einem Dutt nach hinten gebunden. Die hellgrünen Augen musterten mich sanft.
"Du hast ein sehr schönes Licht, Mädchen", meinte sie mit einem Lächeln, als ihr Blick an mir herabglitt. "Damit kannst du wundervolle Dinge tun."
"Danke", stammelte ich verlegen und griff mir an die heißen Wangen.
Dann seufzte die Frau: "Ihr habt also zwei weitere für mich."
Sie ging mit gerader Haltung an uns vorbei, durch das goldene Gitter und zum Rand der Wolke.
Neugierig folgte ich ihr. Sie zog ihren langen Stab und klopfte mit dem Ende einmal auf den Boden. Es rumpelte leicht und dann schob sich langsam eine andere Marmorplatte unter der Wolke hervor. Sie war definitiv aus demselben Material - sie hatte sogar das gleiche Muster.
Langsam betraten wir die Plattform, die sich langsam wieder in Bewegung setzte. Sie entfernte sich von der Wolke und sank immer tiefer, bis wir uns direkt über den Wolkendecke befanden.
Die Frau drehte sich zur ersten Leiche um, die sich daraufhin in die Luft erhob und an uns vorbei über den Rand der Plattform schwebte. Langsam senkte sich der Köper herab, bis es so aussah, als würde er in den Wolken ein Bad nehmen.
Ein leises Pfeifen ertönte. Es klang wie der Wind und doch so unendlich traurig, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Selbst das Licht, das von der Frau ausging, war traurig. Es umhüllte den Körper, bis der anfing zu verblassen. Die Konturen lösten sich auf, wurden schwammiger und wurden als Nebelschwaden schließlich eins mit den Wolken.
Das gleiche passierte mit dem zweiten Körper.
Als schließlich der letzte Nebelschleier in die Wolkendecke eingetreten war, nahm die Frau ihren Stab zwischen ihre Hände.
Sie fing an zu sprechen und das traurige Pfeifen verschwand: "Möget ihr in Frieden ruhen und von all euren Sünden gereinigt werden, sodass ihr - frei von Hass - über uns alle wachen möget."
Das Licht um sie herum schien zu tanzen. Einen langsamen, traurigen Tanz, der gleichzeitig auch Hoffnung brachte. Dann setzte erneut das Pfeifen ein - und dieses mal klang es friedvoll und warm.
Lächelnd wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht.
"Du bist ein liebes Mädchen", sagte die Frau, als sie meine Tränen bemerkte. "Du bist die Erste, die bei der Beerdigung eines gefallenen Engels geweint hat."
Immer noch weinend bedankte ich mich bei ihr. Ihr Lächeln wurde breiter und sie griff nach meiner Hand. Mit der anderen wischte sie mir die Tränen weg.
"Dein Mitgefühl wird doch noch weit bringen", prophezeite sie und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
Ihre Wärme flutete in mich und ließ mir ganz warm ums Herz werden.
Die Plattform schwebte zurück und unsere Gruppe löste sich auf.
"Bis morgen dann", verabschiedeten sich die Gerichtsvollzieher von mir und kehrten ins Gebäude zurück.
Auch die Frau ging wieder an die Arbeit.
Alleine stand ich am Rand der Wolke und sah mich um.
Susan, Robert, Bella und Scott arbeiten wahrscheinlich auch noch. Ob Kaspar wohl frei hat?
Entschieden schüttelte ich den Kopf.
Er ist der Oberorganisator. Da hat er sicher viel zu tun. Auch wenn er mich irgendwie immer auf dem Kuppeldach besuchen kann.
Ich unterdrückte ein Kichern und schlenderte los.
"Was ist mit dir? Willst du dich noch ein wenig umsehen, bevor wir auf unsere Wolke zurückkehren?", ertönte eine Stimme nicht weit von mir.
Überrascht drehte ich mich um nach rechts und suchte nach dem Engel, zu dem sie gehörte.
"Ja. Hier ist es so anders als bei uns!", lachte ein junges Mädchen.
Schritte kamen in meine Richtung und im nächsten Moment bog ein Engel um die Ecke. Sie hatte langes braunes Haar, das hinter ihr herwehte. Sie drehte kurz den Kopf und ihre braunen Augen trafen auf meine blauen.
Im nächsten Moment unterbrach sie den Blickkontakt schon wieder und lief weiter. Ich sah ihr hinterher.
Kommt sie von einer anderen Wolke?
Ich war kurz davor, ihr zu folgen, entschied mich dann aber doch dagegen.
"Ich sollte lieber weiter recherchieren", rief ich mich selbst zur Ordnung und lief in Richtung Bibliothek.
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Vergesst nicht zu voten :D
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