
9. Kapitel 1/4
"Viel Spaß!", rief ich den anderen hinterher und winkte noch einmal.
Dann breiteten sie ihre Flügel aus und verließen die Marmorplatte. Seufzend sanken meine Schultern herab und ich kehrte ins Gebäude zurück.
"Also, ich will natürlich nicht, dass die Engel bestraft werden", murmelte ich, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, "aber ein wenig langweilig ist es ja schon."
"Es ist ein gutes Zeichen, wenn unsere Abteilung wenig zu tun hat", lächelte der Engel auf der anderen Seite des Tisches.
"Ich weiß", meinte ich. "Aber es ist trotzdem langweilig.
Die Woche ist schon bald um und wir haben keinen einzigen Auftrag bekommen! Und die anderen arbeiten fleißig, um ihre Aufgaben zu erfüllen.
Ich seufzte erneut und drehte den Kopf auf die andere Seite.
Bella schien sich an die Leichen der gefallenen Engel gewöhnt zu haben. Nach dem ersten Auftrag war sie ganz blass zurückgekehrt und hatte am ganzen Körper gezittert.
Robert scheint sich gut um sie zu kümmern.
Ich grinste bei dem Gedanken. Die beiden würden ein süßes Paar abgeben!
Robert war bereits von seinem Job in der Unterwelt an die Leichen gewöhnt und schien mit der Aufgabe gut zurechtzukommen. Susan war ständig auf Patrouille und Scott gab sein Bestes, die Schattenmonster zu beseitigen.
Alle haben sehr viel weniger Freizeit, als in den letzten acht Monaten. Nur ich nicht. Ich habe mehr als zuvor in meinem ganzen Leben!
"Weißt du, du musst nicht hier herumsitzen", lächelte mich der Engel mitleidig an. "Wir schicken dir einen Vogel, wenn ein Auftrag reinkommt."
Ich nickte und stand auf.
"Okay", murmelte ich deprimiert.
Dann verließ ich das Gebäude. Mein Blick wanderte an dem Marmor hoch und blieb schließlich am Turm hängen.
Also wieder nach oben?
Immerhin wurde es dort nie langweilig.
Nachdenklich rieb ich meine Fußsohle. Ich konnte noch immer die feine Narbe spüren, die der Schnitt dort hinterlassen hatte. Ich hatte am Ende total vergessen, dass ich noch die Heilerin hatte aufsuchen wollen und es war innerhalb eines Tages von selbst geheilt.
"Okay, es steht fest: Du stalkst mich", fing ich an zu lachen, als hinter mir das Geräusch von Flügeln laut wurde.
"Woher wusstest du, dass ich es bin?", wollte Kaspar schmollend wissen und trat neben mich.
"Weibliche Intuition." Ich grinste ihn an.
"Wäre ein wenig peinlich gewesen, wenn du dich geirrt hättest", gab er zu Bedenken und setzte sich.
"Ich sitze jetzt seit acht Monaten täglich hier oben und nicht einmal ist ein Engel außer dir aufgetaucht", erwiderte ich und lehnte mich zurück. "Die Wahrscheinlichkeit war also ziemlich gering."
"Warum bist du nicht bei der Arbeit?", wechselte Kaspar schließlich das Thema.
"Ich soll mich um die Angeklagten kümmern, aber es gibt gerade keine Angeklagten", erklärte ich seufzend. "Also habe ich frei - sie schicken mir aber einen Vogel, wenn etwas passiert."
In dem Moment flog ein weißer Vogel anmutig durch die Luft, drehte und landete auf meinem Bein. Das Licht löste sich aus seinem Gefieder und floss in meine Hand.
"Ein Angeklagter wird bald hier ankommen, also triff dich mit uns am östlichen Rand der Wolke."
"Ein Auftrag", fasste ich erstaunt zusammen.
Schnell stand ich auf.
"Viel Spaß", wünschte Kaspar mir noch, bevor ich davonflog.
Ich winkte ihm noch einmal und steuerte dann auf den genannten Rand der Wolke zu.
Gemeinsam mit zwei anderen Engeln erwartete ich die Ankunft der Gerichtsvollzieher. Es dauerte eine Weile, aber schließlich sah ich drei Engel von Osten auf uns zukommen. Der ältere Mann in der Mitte musste der Angeklagte sein, denn die beiden Engel an seiner Seite hatten seine Arme fest im Griff.
"Ich wäre vorsichtig", rieten sie uns, nachdem sie gelandet waren. "Er hat bereits versucht zu fliegen."
Damit hoben sie wieder ab und flogen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Die beiden Gerichtsvollzieher an meiner Seite packten den Mann und wir liefen zur Gerichtshalle. Unsicher betrachtete ich sie.
Was hat der Mann wohl verbrochen? Wie wird seine Strafe lauten?
"Was ist los?", fragte mich der Engel und beugte den Kopf ein wenig, um mir in die Augen zu sehen.
Verwirrt blinzelte ich ihn an. Wir standen bereits vor den geschlossenen Türen des Gerichts. Der Angeklagte war nirgends zu sehen.
"Was hat er getan?", wich ich der Frage aus und starrte das Holz an.
"Keine Ahnung", meinte der Engel nur und zuckte mit den Schultern. Auch der andere schüttelte ahnungslos den Kopf.
"Ihr wisst es gar nicht?", fragte ich ungläubig nach. "Das heißt, ihr folgt einfach blind dem Urteil, ohne überhaupt nachzufragen?"
"Wieso?", entgegnete der Gerichtsvollzieher überrascht. "Die Richter sind gerecht und handeln nach dem Gesetz. Reicht das nicht?"
Fassungslos starrte ich sie an.
Das können sie nicht ernst meinen! Es interessiert sie kein bisschen, ob die Strafe angemessen ist oder nicht!
"Hör mal", versuchte er es mir zu erklären. "Wir können uns nicht alle Verbrechen merken, mit denen wir es zu tun bekommen. Und die Richter handeln so, wie es das Gesetz verlangt. Darauf vertrauen wir."
Unzufrieden betrachtete ich ihn.
"Ich habe ein Urteil gefällt", drang plötzlich eine weibliche Stimme durch die Tür.
Ist das die Richterin?
"Wie es unsere Gesetze vorschreiben, wirst du zum gefallenen Engel erklärt und in die Hölle verbannt."
Ich presste die Lippen zusammen. Die beiden Gerichtsvollzieher öffneten die Tür und holten den Angeklagten wieder ab.
"Und wohin jetzt?", fragte ich bemüht interessiert.
"Zum Heiler", erklärte mir der Mann. "Dort wird ihm die Fähigkeit zu fliegen genommen."
Ich nickte langsam.
Während wir liefen, betrachtete ich den älteren Mann von der Seite. Wut und Kampfgeist lagen in seinem Blick, aber er ließ sich widerstandslos durch den Gang schleppen.
"Ihr seid nichts als Marionetten", knurrte er die Beiden an, als sie ihn zu dem Händler in den Raum schoben. "Ihr werdet benutzt und ihr merkt es nicht einmal."
Verwirrt musterte ich ihn.
Was meint er?
Der Heiler trat hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Flügel. Sie erzitterten, öffneten sich in abgehackten Bewegungen und fielen dann reglos nach unten. Die Fäuste des Mannes zitterten. Ich war mir sicher, dass er versuchte, sie zu bewegen - aber sie reagierten nicht auf seine Befehle.
Würde ich genauso reagieren? Würde ich auch versuchen, mit aller Macht eine Reaktion zu erzwingen?
Mitleidig betrachtete ich ihn. Er starte voller Hass auf den Boden.
Ich blinzelte überrascht. Irgendwie hatte ich erwartet, dass sein Blick jegliches Gefühl verlieren würde.
Also wird ihnen mit mit ihren Flügeln nicht gleichzeitig ihre Identität geraubt? Sie können dort unten noch immer sie selbst sein? Aber ... wieso sind ihre Blicke dann so ... leer? Ist es die Hölle selbst?
Sie bricht ihren Geist?
"Jetzt müssen wir ihn nur noch in die Hölle bringen", sagte der Mann neben mir ruhig.
Ihn schien das kein bisschen zu treffen.
Hat er sich daran gewöhnt? Obwohl ... er muss diesen Wandel zwischen Kampfgeist und Hoffnungslosigkeit nicht sehen. Das passiert vermutlich erst, wenn er schon lange wieder weg ist.
Ich erschauderte.
Ein grausamer Ort.
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Vergesst nicht zu voten :D
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