Ängstlich trat ich weiter an den Rand und suchte den weißen Flaum nach einer Spur von ihnen ab. Nichts.
"Es geht ihnen sicher gut", versuchte Susan mich zu beruhigen. "Immerhin ist er unser Ausbilder. Er hat selbst gesagt, er fängt uns auf."
Ich nickte langsam.
"Es wäre aber besser, wenn ihr mir meinen Job nicht allzu schwer machen würdet", ertönte seine dunkle Stimme von unten.
Plötzlich flog er direkt vor uns, Bella sicher im Arm. Sie klammerte sich zitternd an seinen Hals; vor Angst die Augen fest zusammengepresst.
"Bella", atmete ich erleichtert auf.
Vorsichtig drehte sie den Kopf und sah mich an. Ihre Augen waren jetzt ganz groß und in ihnen spiegelte sich noch immer die Angst.
"Es ist jetzt alles gut", flüsterte ich leise und nahm sie in den Arm. "Du bist sicher. Du bist in Sicherheit. Es ist alles wieder gut."
Ihr ganzer Körper bebte, während ich ihr langsam über den Rücken strich.
"Susan, du bist dran", wandte sich Dan an die Frau hinter mir.
Ihr erster Flug lief ohne Probleme ab. Sie war noch ein wenig unsicher, erreichte aber ohne große Schwierigkeiten wieder den Turm.
Robert trat als Letzter an den Rand.
"Alles gute", flüsterte Bella ihm schüchtern zu und er grinste.
Dann hob er ab und entfernte sich von uns. Plötzlich sackte er ein paar Meter nach unten, fing sich aber wieder, bevor Dan den Boden verließ. Unsicher lachend kämpfte er sich wieder nach oben und kehrte zum Turm zurück.
Sobald er landete, konnte ich Bella in meinen Armen erleichtert aufatmen hören.
"Gut, nun, da wir das hinter uns haben, machen wir uns an die nächste Übung", meinte Dan und lief die Treppe wieder nach unten.
Schnell folgten die vier ihm. Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick über die Wolkendecke stieg auch ich die Stufen hinunter.
"Das hier sind eure Trainingsstäbe. Wenn ihr eure Ausbildung abgeschlossen habt, bekommt jeder von euch seinen eigenen Stab. Aber bis dahin behaltet ihr die hier bei euch und übt damit", erklärte Dan und gab jedem von uns einen metallischen Stab.
Aufgeregt nahm ich meinen entgegen. Solche Stäbe benutzten die Engel, die jeden Mittag die Gaben brachten! Ich sah ihn mir noch einmal genauer an. Irgendetwas an ihnen sah anders aus, aber was?
"Aber bevor ich euch den Umgang damit beibringe, müsst ihr noch die wichtigste Regel hier wissen:", lenkte der Ausbilder mit ernster Stimme die Aufmerksamkeit wieder auf sich, "Wer einem gefallenen Engel in irgendeiner Weise hilft, teilt ihr Schicksal!"
Seine Worte hallten verhängnisvoll durch den Raum und erstickten meine Aufregung im Keim.
"Was?!", entfuhr es mir ungläubig. "Wir dürfen ihnen nicht helfen? Warum? Mir wurde gesagt, dass ich ausgewählt wurde, weil ich Mitleid für sie habe! Was soll das?"
Die anderen vier schwiegen betreten.
"Die gefallenen Engel sind für ihr eigenes Schicksal verantwortlich. Es ist ihre Schuld, dass sie zu dem geworden sind, was sie sind und daran kann niemand etwas ändern. Am allerwenigsten ihr", erwiderte Dan erbarmungslos. "Das himmlische Gericht hat über ihre Bestrafung bestimmt und jeder dort unten, ist rechtmäßig dort."
Fassungslos starrte ich ihn an. Das konnte er nicht ernst meinen.
"Aber die Hölle ist schrecklich!", rief ich aufgebracht. "Ihr kümmert euch nicht einmal um die Schattenmonster!"
"Das hat seine Gründe", wies Dan mich scharf zurecht. "Und das wirst du alles noch im Laufe deiner Ausbildung erfahren."
Verärgert sah ich mich zu den anderen um. Keiner von ihnen sagte etwas.
"Aber ihr seid Engel! Wie könnt ihr euren Kameraden so etwas schreckliches antun?", wandte ich mich wieder an den Mann vor mir. "Habt ihr euch die Hölle überhaupt einmal angesehen?"
"Und ihr", wandte ich mich an die anderen vier. "Wisst ihr überhaupt, wie die Körper dort unten aussehen?"
"Sie sind zerkratzt, von den Fußsohlen ist kaum noch etwas übrig und Flügel, Beine und Arme sind von Bissspuren übersehen", murmelte Robert düster.
Scott, Susan und Bella schauderten.
"Und ihre Augen sind so leer und hoffnungslos wie ein Gebirgssee", fügte ich mit belegter Stimme hinzu. "Und du willst mir weismachen, dass sie das verdient haben?" Meine Stimme zitterte, als ich mich wieder an Dan wandte. Ich konnte einen dicken Kloß in meinem Hals spüren.
Der Engel schwieg eine Weile, ehe er sich schließlich räusperte: "Fahren wir fort."
Ich sagte nichts mehr. Meine Knöchel traten weiß hervor, als ich das kalte Metall umklammerte.
Das ist nicht richtig!
"Jeder von euch besitzt ein Licht", erklärte Dan und zog einen Stab aus seinem Gürtel.
Seiner war ein bisschen länger und um einiges Schöner als unsere. Seiner war nicht grau, sondern weiß mit hellgrünen Linien.
"Besser gesagt", korrigierte er sich. "Jede eurer Seelen strahlt ein Licht aus. Dieses Licht variiert von Person zu Person, wobei es bei Menschen meist schwächer ist. Die Menschen, die ein ungewöhnlich starkes Licht haben, werden ausgewählt, um Engel zu werden."
Überrascht starrte ich auf seinen Stab. Ein leichter Schimmer umgab ihn.
"Dieses Licht könnt ihr mit anderen teilen", fuhr Dan fort. "Und zwar mithilfe dieser Stäbe. Ihr könnt euer Licht auch umformen. Zum Beispiel zu Essen, Wind, Erde - alles mögliche eben. Nur Lebewesen sind davon ausgeschlossen."
Ich sah unauffällig zu Bella. Sie sah ihn fasziniert an, saugte jedes Wort auf, das er sagte.
Normalerweise hätte ich das auch getan, aber meine Gedanken hingen immer noch an der Regel, die er uns genannt hatte.
"Wenn ihr in euch hineinfühlt, solltet ihr in der Lage sein, eine Wärme zu spüren. Entfacht sie, bis sie euren ganzen Körper ausfüllt", erklärte der Ausbilder.
Ich atmete tief ein und schob den Gedanken an die Regel beiseite - fürs erste.
Ich horchte in meinen Körper. In der Gegend meines Herzens konnte ich tatsächlich eine Wärme spüren, die mir vorher noch nicht aufgefallen war. Ich konzentrierte mich darauf und beobachtete, wie sie größer und größer wurde, bis sogar meine Zehen davon kribbelten.
"Gut", meinte Dan zufrieden.
Überrascht blinzelte ich und sah auf meinen Stab hinab. Auch ihn umgab jetzt ein leichter Schimmer, genau wie die Stäbe von Bella, Scott, Susan und Robert.
"Diese Wärme könnt ihr aus euch herausströmen lassen. Ihr müsst es euch nur vorstellen", sagte der Ausbilder. "Bella, du zuerst."
Nervös trat das Mädchen vor, den Stab an die Brust gedrückt. Sie atmete tief ein und aus.
Plötzlich kam ein helles Licht von der Spitze ihres Stabs. Es war warm und sanft und umhüllte jeden einzelnen von uns. Ein Lächeln breitete sich auf Bellas Gesicht aus und sie lockerte ihren Griff. Fasziniert schwenkte sie den Stab ein wenig herum und betrachtete die goldene Linie aus Licht, die er hinter sich herzog. Es war einfach unglaublich!
Das Licht wurde weniger und verblasste schließlich ganz, aber das Gefühl der Wärme hallte immer noch in mir nach.
"Das war sehr gut", lobte Dan sie lächelnd. "Robert, du bist dran."
Glücklich trat Bella wieder neben mich und wir sahen zu, wie der junge Mann mit den rostroten Haaren vortrat.
Auch er atmete erst einmal tief ein und aus. Ein leichtes Flackern kam von dem Stab. Das Licht war definitiv warm, aber es fühlte sich zögerlicher an, unsicherer. Es flackerte erneut und das Licht verblasste.
"Gut. Alexa", rief Dan mich mit einer Handbewegung nach vorne.
Robert reihte sich wieder ein und ich trat vor. Ich horchte in mich hinein; ich konnte die Wärme überall spüren. Ich versuchte, sie in Richtung Stab zu lenken. Tatsächlich konnte ich fühlen, wie sie langsam zu meiner Hand floss. Meine Handflächen schienen mit dem kühlen Metall zu verschmelzen und dort, wo ich den Stab berührte, wurde es ganz warm - beinahe heiß. Aber nichts tat sich. Es war, als würde meine Haut die Wärme abblocken, sie nicht durchlassen. Ich runzelte die Stirn und drückte stärker, umklammerte den Stab fester. Konzentriert kniff ich die Augen zusammen. Ich konnte den Druck an meinen Handflächen spüren, aber sie gaben nicht nach.
"Das ist in Ordnung", sagte Dan freundlich. "Es ist der erste Versuch. Wir werden noch viel mehr üben."
Ich nickte ein wenig enttäuscht und trat wieder in die Reihe zurück.
"Scott", winkte Dan den Schwarzhaarigen nach vorne.
Der junge Mann stellte sich breitbeinig hin und atmete laut aus und ein, den Stab nach vorne gestreckt.
Nichts geschah.
Mit einem Schulterzucken ließ Scott die Arme sinken und trat zurück. Ich musterte ihn verwirrt. Was war das denn?
Als letzte trat Susan vor, den Stab locker in der Hand. Sie hielt ihn leicht nach vorne und starrte konzentriert auf die Spitze. Ein blasser Lichtstrahl kam daraus hervor, kaum genug, um die hölzerne Truhe neben Dan zu erhellen, in der die Trainingsstäbe gelagert wurden. Aber ansonsten war hier auch nicht viel mehr zu beleuchten. Im Gegensatz zu den Gängen war es hier beinahe langweilig.
Das Licht erlosch wieder und Susan trat zurück, ebenfalls etwas zerknirscht. Aber wenigstens hatte sie überhaupt etwas rausbekommen.
"Okay, das war's auch schon für heute", meinte Dan und klatschte in die Hände. "Ich bringe euch zu euren Zimmern zurück. Wenn ihr wollt, könnt ihr noch ein wenig üben, oder schlafen, oder reden, oder was Auszubildende ebenso machen."
Damit marschierte er los, uns fünf im Schlepptau.
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Vergesst nicht zu voten :D
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