Ein Geschenk
Michi wurde immer nervöser neben mir. Sie rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Natürlich ließ ich mir Zeit. Ich wollte nicht schon wieder mit ihr streiten. Sie war hier meine einzig richtige Vertraute. Zumindest empfand ich dies gleich vom ersten Moment an. Doch mir blieb nichts anderes über. Ihr aus dem Weg zu gehen, war keine Option für mich.
Also legte ich meinen Löffel nieder und lehnte mich zurück. Die Schüssel vor mir verschwand umgehend und Michi starrte mich an.
„Ja ich bin so weit, lass uns in den Park gehen. Da können wir reden", gab ich ihr Antwort auf ihre unausgesprochene Frage.
Sie sprang in die höhe wie ein Ball, welchen man zu fest auf den Boden aufgeschlagen hatte.
„Na endlich. Komm, wir nehmen den schnellsten weg", sprach sie so schnell, das sie beinahe einige Buchstaben verschluckte.
Michi nahm mich an die Hand und zog mich regelrecht aus dem Saal hinaus. Natürlich galt mein letzter Blick Taryn. Welcher mir genauso sehnsüchtig nachblickte. Es schmerzte bereits, wenn ich nicht in seiner Nähe war. Wir waren verbunden, verbunden durch ein Band. Welches so stark war, dass niemand dieses Band zerstören konnte. So fühlte es sich für mich an. Wir gingen erneut einen anderen Weg. Diesen Weg kannte ich noch nicht.
„Dies ist der Engelsweg. Für uns der schnellste Weg hinaus. Allerdings trifft man hier hin und wieder auf die Erzengel. Wenn dies geschieht, sieh sie nicht an, sprich sie nicht an. Sonst landest du erneut in dem Empfangsraum. Alle deine Seelen sind verloren, du beginnst von vorne. Außerdem sind die Schmerzen unglaublich stark", flüsterte sie mir zu und sah sich aufmerksam um.
Nun verstand ich auch, warum Noah mich darauf aufmerksam gemacht hatte. Warum Steve so wütend war. Wenn dies immer wieder geschah, konnte man niemals weiter kommen. Dies war also der Grund, für das Auftauchen der Dämonen und der Erzengel. Sie versuchten, das gewonnene nichtig zu machen. Doch warum geschah dies bei Taryn und mir nicht? War es weil wir zusammenarbeiteten? Oder gab es noch einen anderen Grund? Was es auch war, wir mussten es herausfinden.
Um uns herum wurde es immer heller. Das leuchten war mollig warm und ich fühlte mich geborgen. Als mein Blick zu Boden glitt, blieb ich erstaunt stehen. Wir wandelten auf Wolken. Wunderschönen weißen flauschigen Wolken. Es war als würden wir schweben. Es gab nichts im Vergleich zu den dunklen steinigen Schluchten des Dämonenweges. Dort war es heiß und stickig. Beängstigend. Hier war es friedlich, schön. Links neben mir vernahm ich eine Bewegung. Instinktiv wandte ich mich ihr zu. Mein Herz begann zu Rasen. Es war Gabriel, welcher unmittelbar neben uns auf einer Wolke stand. Ich blickte ihm unvermittelt in seine dunkelblauen Augen. Die Angst in meinem Inneren, drohte mich zu verspeisen. Ich hatte genau das getan, was ich laut Michi nicht tun sollte. Auch sie stand neben mir wie versteinert. Ihr Blick war auf die Wolke zu ihren Füßen gerichtet.
„Was tust du? Hast du ihn etwa angesehen?", erschien ihre Stimme plötzlich in meinem Kopf. Sie war so laut, das es nachhallte.
„Ich fürchte ja", wisperte ich, ohne den Blick von diesem wunderschönen Geschöpf zu wenden.
Gabriel richtete sich aufrecht, intensivierte seinen Blick. Ein flüchtiges Lächeln, wie er es mir in London schenkte, umspielte seine makellosen vollen Lippen. Erneut neigte er seinen Kopf und ich tat es ihm gleich. Dann stand er auf und breitete seine Perlmuttfarbenen Flügel aus. Ein Schlag und er stand unmittelbar vor mir. Michi neben mir ging in die Knie. Die Hände schützend über ihren Kopf gefaltet. Die Augen fest verschlossen. Meine Beine begannen zu zittern. Blitzartig verteilte sich dieses Zittern über meinen ganzen Körper aus. Gabriel war gut drei Köpfe größer als ich. Er blickte noch immer lächelnd auf mich hinab. Seine mächtige Hand umschloss sanft meinen Kiefer und zwang mich so, ihn anzusehen. Flüchtig berührte er meine Wange, welche stark zu kribbeln begann. Es war keineswegs unangenehm. Eher beruhigend.
Die Szene in London schoss an meinen Augen vorbei. Ich sah es, als würde ich uns selbst zusehen. Wie ein Film. Aus den Augen des Erzengels, welcher vor mir stand. Ich sah die verflochtenen Hände, von Taryn und mir. Erneut lächelte Gabriel. Dies war meine Bestätigung. Ich musste mich nicht vor ihm fürchten. Er würde mir nichts tun. Dann riss er eine seiner Federn aus und hielt sie mir hin. Sein Blick war durchbohrend, aber freundlich. Er nahm meine Hand und legte seine schimmernde Feder ab. Nickte ein letztes Mal, wandte sich ab und flog davon. Perplex stand ich da und sah noch immer in die Richtung, in die er verschwunden war. Er hatte mir eine seiner Federn geschenkt. Doch warum und zu welchem Zweck? Was sollte ich damit tun? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Dies war alles so grotesk. Michi stand derweil wieder auf ihren Beinen und starrte mich mit offenem Mund an.
„Was...was war das denn!?", schrie sie mit schriller angsterfüllter Stimme.
„Ich habe keine Ahnung", gab ich flüsternd zurück.
Mein Blick wanderte zurück auf die Feder, welche ich in meinen Händen wog. Sie begann immer mehr zu schimmern. Bis das leuchten so hell wurde, dass es für unsere Augen kaum noch erträglich war. Ich schloss meine Augen. Dennoch spürte ich, wie sich in meinen Händen etwas tat. Die weiche Struktur der Feder verschwand allmählich. In meinen Händen begann sich etwas zu formen. Etwas was viel kleiner war, als die Feder des Engels. Es war auch nicht mehr warm, sondern eher kühl. Durch meine geschlossenen Lieder nahm ich wahr, wie das leuchten allmählich verschwand. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und blickte erstaunt in meine Hände. Die Feder war verschwunden. Stattdessen hielt ich eine silberne Kette in meinen Händen. Eine silberne Kette mit einem wunderschönen Anhänger, in dessen Mitte eine Perlmuttfarbene Perle eingeschlossen war. Erstaunlicherweise kam diese Kette mir sehr bekannt vor. Zumindest die Form des Anhängers. Ich sah zu Michi, welche noch immer mit offenem Mund neben mir stand.
„Was ist das?", hauchte sie ehrfürchtig. Ihre Augen funkelten.
„Auch das weiß ich nicht", gab ich mit stockendem Atem von mir.
„Leg sie an. Das ist ein Geschenk eines Erzengels. Niemand darf dies erfahren, hörst du! Rede mit niemandem darüber", sprach sie nun schnell und leise.
Ich nickte ihr zu und zog die Kette mit zittrigen Händen an. Ich ließ sie unter meinem Gewand verschwinden. Kaum hatte der Anhänger meine Haut berührt, fühlte ich mich gelassener. Ruhiger. Die Wärme, welche ich zuvor von der Feder verspürte, floss nun durch den Anhänger der Kette auf mich über. Dennoch wusste ich nicht so genau, was ich davon halten sollte.
„Lass uns hier verschwinden, bevor noch etwas Seltsames geschieht. Wobei dies kaum noch zu übertreffen ist", sprach Michi und sah sich achtsam um.
„Da bin ich ganz deiner Meinung", antwortete ich und setzte mich in Bewegung.
Erst als wir den Park erreicht hatten, schien sich auch Michi etwas zu entspannen. Sie lenkte mich an die erste freie Bank und setzte sich hin. Ihr Blick schrie mich förmlich an. Also nahm ich neben ihr Platz.
„Und jetzt raus mit der Sprache! Was genau ist euch geschehen? Warum hat Taryn dir die erste Seele überlassen? Und warum in Gottes Namen hast du ihn geküsst!?", schossen ihre Fragen nur so auf mich ein.
Ich nahm tief Luft und begann zu erzählen. Ich erzählte ihr von London. Wie schnell wir Raja gefunden hatten. Das alle Menschen uns wahr genommen hatten. Wie die Dämonen uns verfolgten. Wie ich Taryn's Gabe adaptiert hatte und wie die Erzengel auf die Erde kamen. Ich ließ nichts aus, nicht das kleinste Detail verschwieg ich ihr. Auch auf die Gefahr hin, dass wir erneut zu streiten begannen. Denn ich wusste genau, das ihr einiges ganz und garnicht gefallen würde.
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