2 - Katerstimmung
Scheiße.
Tamara wusste nicht mehr wie sie nach Hause gekommen war, alles was sie merkte, war der kräftige Arm der ihre Taille umklammert hielt wie einen Teddybären und das gleichmäßige Atmen neben ihrem Ohr. So sanft wie möglich versuchte sie den Arm von sich zu schieben, doch er ließ nicht von ihr ab. Schließlich schubste sie ihn mit einem entnervten Seufzen weg und setzte sich auf.
Hämmernde Kopfschmerzen schienen ihren Schädel zu spalten und sie presste sich die Hände an die Schläfen, in der Hoffnung es würde den Schmerz ein wenig lindern. Doch ohne Erfolg. Es hatte noch nie etwas gebracht und doch versuchte sie es immer wieder.
Langsam und vorsichtig stand sie auf, wickelte die Decke um sich und tapste zu ihrer Handtasche in der Ecke des Zimmers. Ein leises Knurren ertönte hinter ihr und mit einem Ruck glitt die Bettdecke von ihrem Körper. Fluchend schnappte sie sich das nächstbeste Kleidungsstück um sich zu bedecken, traurigerweise ein viel zu großes T-Shirt, dass ganz sicher nicht ihr gehörte, und blickte den Dieb wütend an. Noch immer selig schlafend lag er in ihrem Bett, hatte ihre Decke um sich gewickelt und sein, noch leicht verschwitztes, und leider nicht mehr ansatzweise so attraktives Haupt auf ihrem Kissen abgelegt.
Schnaubend griff sie nach ihrer Handtasche, warf direkt zwei Aspirin ein, packte den Türgriff und warf noch im Hinausgehen eine Männerhose nach ihrem, mittlerweile sehr ungebetenen, Gast. Dann knallte sie die Tür hinter sich zu, in der Hoffnung, dass seine Kopfschmerzen die Ihren noch übertrafen.
Nachdenklich machte sie sich auf den Weg ins Bad, sammelte im Vorbeigehen die fieberhaft ausgezogene Kleidung ein und überlegte, warum sie plötzlich so einen Hass auf ihren One-Night-Stand empfand. Gestern hatte sie ihn schließlich noch mehr als attraktiv gefunden, auch wenn sie sich mittlerweile ziemlich sicher war, dass dies nur am Alkohol gelegen hatte. Beim Anblick einer kaputten Vase neben dem Bücherregal, die offensichtlich umgestoßen wurde und in ihrer Erinnerung, gestern noch heil gewesen war, machte sich die, lange verdrängte Erkenntnis in ihr breit. Sie musste dringend hiermit aufhören. Seit Monaten bestand ihr Leben aus Partys, Alkohol, Sex und dem Kater, den die Unmengen an Drinks verursachten. Ihr drohte mit der Kündigung ihres Jobs im Supermarkt, da sie zu den letzten Schichten nicht erschienen war und ohne das Geld, konnte sie die Miete nicht zahlen.
Ein leises Poltern ertönte von oben und schnell schloss sie die Badezimmertür hinter sich. Vielleicht bestand ja eine Chance, dass sie nicht mehr mit ihm reden musste. Vielleicht würde er ja einfach das Haus verlassen. Ihr wäre das vollkommen recht. Doch, wie es meistens war, erfüllte sich ihr Wunsch nicht. ,,Hallo?". Es klopfte an der Tür und Tamara stöhnte genervt auf. ,,Hey, ich weiß, dass du da drin bist. Was ist los? Doch nicht bereit für Runde zwei?". Dreckiges Lachen ertönte und Tamara drehte sich der Magen um. ,,Nein", antwortete sie daher so kalt wie möglich, ,,Verschwinde einfach aus meiner Wohnung! Das gestern war einmalig, wir werden uns ab heute nie wieder sehen und wag es gar nicht erst mich nach meiner Nummer zu fragen".
,,Ach, komm schon!". Er ließ einfach nicht locker! ,,Nein, vergiss es! Der einzige Grund aus dem das alles passieren konnte war Alkohol und jetzt bin ich stocknüchtern, also verzeih dich!". Stille. Dann konnte Tamara hören, wie sich schwere Schritte entfernten, zur Eingangstür gingen und wie sich endlich die Tür schloss. Endlich.
Aus irgendeinem Grund vollkommen erledigt, ließ sie sich an der Wand hinabsinken, umschlang ihre Knie mit den Armen und vergrub den Kopf darin. Alles fühlte sich falsch an, ihre Situation, ihr ganzes Leben. Sie hatte in den letzten Jahren ihren gesamten Ehrgeiz, alle ihre Träume und Wünsche für die Zukunft und damit jeglichen Ansporn verloren. Nichts hielt sie mehr davon ab in das Loch der Partyszene zu rutschen, das Loch, dass sie als Kind so unbedingt hatte umgehen wollen.
Aber alles in ihrem Leben war irgendwann verloren. Wünsche. Ziele. Erinnerungen. Ihre Eltern, und die gleich zweimal.
Als Tamara acht Jahre alt gewesen war, war sie auf der Straße aufgewacht, bei strömendem Regen unter einer schäbigen Brücke, wo sich außer ihr, nur abgewrackte Obdachlose befanden. Sie erinnerte sich an absolut nichts mehr. Gar nichts. Sie wusste nicht nur nicht, wie sie unter diese Brücke gekommen war, nein, sie wusste überhaupt nichts mehr. Ihr ganzes, vorheriges Leben war wie gelöscht.
Tamara war halb verhungert durch den Regen gelaufen, auf der Suche nach einem Ort zum Schlafen und Essen. Eine Woche lang hatte sie auf der Straße gelebt, bei umliegenden Supermärkten containert, bis sie schließlich an eine Polizeistation kam, die sofort das Jugendamt kontaktierte. Damals wusste sie noch nicht, was die Polizei oder das Jugendamt waren, die einfachsten Dinge kannte sie nicht, als hätte man nicht nur ihre Erinnerung, sondern auch jegliche Kenntnisse der Welt gelöscht.
Sie wusste wie man mit Besteck vernünftig aß, wie man Englisch sprach und kannte jegliche Höflichkeitsetikette. Aber Straßenverkehr? Elektrizität? Feuerwehr, Polizei und Notarzt? Das alles waren völlig fremde Dinge für sie, mit acht Jahren musste sie all das erst kennenlernen, während ihr Umfeld sich hinter ihrem Rücken fragte, woher das kleine Mädchen kam, dass zwar ein 12-Gänge Menü im Nobelrestaurant ohne Patzer hinter sich brachte, aber bei der Überquerung einer Straße scheiterte.
Nach acht langen Monaten im Kinderheim, kam sie schließlich zu den Bennets. Ein älteres Ehepaar, freundlich, liebenswürdig, und die besten Eltern die Tamara sich je hatte vorstellen können. Doch dann, nur zwei Wochen nach ihrem achtzehnten Geburtstag, waren sie in einem Autounfall umgekommen.
Das folgende Jahr war das anstrengendste in Tamaras ganzen Leben, alleine und verletzt erstickte sie förmlich in Papierkram und Vorschriften, doch sie hielt immer den Kopf über Wasser und baute sich ihr eigenes, wackliges Leben auf.
Dann kam der zweite Tiefschlag. Tyler, ihr Freund, beim dem sie zu der Zeit gewohnt hatte, kam eines Abends nach Hause, in den Armen eine wunderschöne, langbeinige Brünette mit Kaugummiakzent und den vollsten Lippen die Tamara je gesehen hatte. Tyler bemerkte sie nicht einmal. Er war zu sehr damit beschäftigt seine neue Flamme aus- und ins Schlafzimmer zu ziehen.
Die Beziehung der Beiden, Tamara fand am nächsten Morgen heraus dass sie Tawny hieß, dauerte damals schon zwei Monate an und Tyler hatte gedacht, dass sie an diesem Abend Nachtschicht bei ihrem Zweitjob als Postbotin gehabt hatte. Nur war sie überraschend krank geworden und hatte daher beschlossen die Schicht abzublasen, obwohl sie das Geld dringend brauchte. Tyler schmiss sie daraufhin aus der Wohnung, wobei Tamara sich sicher war, dass mittlerweile Tawny ihren Platz eingenommen hatte, und sie war wieder obdachlos.
Es brauchte sie zu ihrem Glück nur zwei Wochen, dafür aber unzählige Termine bei der Bank um eine neue Wohnung zu finden, die sie auch bezahlen konnte. Irgendwann musste sie ihren Job bei der Post aufgeben und arbeitete nur noch im Supermarkt, obwohl ihr auch hier bald eine Kündigung drohte. Und nun war sie hier, allein, gefangen in einem Alltag, den sie früher gefürchtet hatte. Und immer noch fürchtete. Doch sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte und Alkohol und Partys halfen ihr ein wenig die Vergangenheit zu vergessen. Zumindest redete sie sich das ein. In Wahrheit, machte es alles nur viel schlimmer.
Müde stieg sie in die Dusche, wusch jeglichen Schweiß ab und schlüpfte schließlich in ihre Arbeitsuniform beim Supermarkt. Wenn's ihr schon irgendwie aus ihrem Loch klettern wollte, konnte sie ja hier anfangen. Doch ein einziges Klopfen an der Eingangstür ihrer kleinen, schäbigen Wohnung, erstickte jegliche Vorsätze und würde Tamaras Leben vollkommen aus den Fugen reißen.
,,Tamara!"
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