3 Dr. Franklin
"Katrina?", betrat eines Tages eine junge Frau mein Zimmer. Ich kannte sie. Sie hieß Luna und ich mochte sie. Klara mochte sie nicht.
"Was will die schon wieder?", wollte sie wissen, doch unsere Besucherin beachtete sie nicht.
"Kommst du?", fragte sie mich, wie so oft und wie so oft wollte Klara wissen: "Gehen wir endlich raus?"
Wohin gehen wir wohl? Fragte ich mich auch und hüpfte von meinem Bett. Alles was anders war, als das, was ich immer machte, war gut.
Doch...
"Dr. Franklin will mit dir sprechen."
Oh. Ach so. Dachte ich enttäuscht und konnte Klaras aufbrausenden Zorn spüren, der über mich hinweg schwappte.
"Was will denn der Drachen schon wieder von ihr?!", fauchte sie Luna an, doch ignorierte die junge Frau Klara. Wie immer eigentlich.
Alle ignorierten sie. Nur ich nicht.
Was Dr. Franklin wohl von mir wollte, hätte ich auch gerne gewusst, doch wagte ich die Frage meiner Freundin nicht zu wiederholen und nestelte unbehaglich an meinem blauen Pullover herum.
"Sie möchte nur mit dir reden. Das weißt du doch.", Luna lächelte mich aufmunternd an. Mit ihrem Schlüssel schloss sie eine Gläserne Tür auf, hinter der es eine kleine Treppe gab. Es war nicht die zum Dach. Leider.
"Siehst du welchen Schlüssel sie genommen hat.", deutet Klara auf den Bund, den Luna gerade wieder in ihre Kittelschürze steckte, "Los! Nimm ihn dir!"
"Nicht jetzt!", zischte ich Klara zu. Das Herz schlug mir bis zum Hals, obwohl ich nicht vor hatte den Schlüssel zu nehmen.
Oder sollte ich vielleicht doch?
"Natürlich! Schnapp ihn dir! Die Gelegenheit ist günstig!", drängte Klara, doch ließ ich meine Hände nur in meine Hosentaschen gleiten und blickte sehnsüchtig auf die Tasche, in der der einzige Weg in die Freiheit steckte.
"Gott! Katrina! Du bist so ein Schisser!", fauchte Klara genervt, "Glaub ja nicht, dass ich mit zu dieser bescheuerten Ärztin komme!"
"Bitte!", flehte ich sie an, doch als ich mich nach ihr umdrehte war sie weg.
Ich hätte es mir denken können. Sie hasste Dr. Franklin. Dabei war die Ärztin wirklich nett.
"Ich hol dich in einer halben Stunde wieder ab.", sagte Luna freundlich und klopfte an die Tür, hinter der sich das Zimmer von Dr. Franklin befand.
"Dr. Franklin? Katrina Miller ist jetzt da.", meldete sie mich an und ließ mich dann vorbei ins Zimmer gehen.
Es sah aus wie immer.
Ein Schreibtisch. Ein Stuhl. Ein Tisch. Ein Sessel. Eine Couch. Ein Bücherregal.
Blumen! Die waren neu! Und blau! Sofort ging ich zur Fensterbank hinüber und versteckte meine Nase in den herrlichen Blüten.
"Gefallen sie dir?", wollte Dr. Franklin wissen und gesellte sich, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, zu mir. Ich nickte.
"Ich habe sie extra für dich mitgebracht.", fuhr sie freundlich fort, wofür ich ihr ein Lächeln schenkte. "Deine Mutter hat mir erzählt, dass du blaue Blumen magst."
In Gedanken versunken nickte ich.
Ob ich sie wohl mit in mein Zimmer nehmen durfte? Sicher nicht. Oder?
Mit großen Augen sah ich die Ärztin an. Sie lächelte.
"Wollen wir uns nicht setzten?", fragte sie mich einladend und deutete zur Couch und dem Sessel hinüber, doch ich wollte bei den Blumen bleiben. Sie rochen himmlisch.
Ganz süß. Nach Sommer und frischer Luft. Nach Erdbeeren und grünen Erbsen. Kirschen. Pflaumen und Äpfeln. Nach Freiheit.
"Du kannst sie auch mit zum Tisch nehmen.", schlug Dr. Franklin vor, als ich ihrer Einladung nicht folgte.
Die Vase mit den Blumen dicht an die Brust gepresst setzte ich mich auf das Sofa. Immer wieder steckte ich die Nase in die Blüten und sog tief ihren Duft ein.
Ich wollte ihn mir einprägen. Ganz fest. Ich wollte ihn im Gedächtnis behalten, nur für den Fall, dass ich sie nicht mit in mein Zimmer nehmen durfte.
"Wie geht es dir heute?", wollte die Ärztin wissen.
Ich zupfte an einem Blütenblatt. Strich zart mit den Fingern darüber und machte ein betrübtes Gesicht. Die Blumen waren toll! Daran lag es nicht, aber es waren eben nur Blumen.
Der Wind fehlte.
Die warme Sonne.
Der Geruch von frisch gemähtem Gras das auf der Erde trocknete. Der, von schwitzenden Pferden, wenn sie die schwer beladenen Wagen mit dem Heu nach Hause zogen.
Die Stimmen der Vögel. Die, der Hunde, wenn wir an ihren Gärten vorbei fuhren.
"Geht's dir nicht gut?", fragte Dr. Franklin weiter als ich nicht reagierte und jetzt schüttelte ich den Kopf.
"Fehlt dir was?", wollte sie als nächstes wissen.
Ich nickte.
"Was denn?"
Tja, jetzt wurde es schwierig. Warum war denn Klara nur nicht hier? Sie könnte der Ärztin sicher sagen, was wir wollten.
Sie konnte so viel besser sagen, was wir brauchten. Sie wusste so gut, was ich wollte, auch wenn sie manchmal etwas über das Ziel hinaus schoss. Wie damals...
"Tut der Arm noch weh? Oder das Bein?", schlug die Ärztin vor, doch seufzte ich nur traurig auf. Die Blumen hatten ihren Reiz verloren.
Sicher. Sie waren toll. Und sie dufteten auch verführerisch, aber es waren nur Blumen.
Ob ich wohl in den Garten durfte, wenn ich sie darum bat? Oder würde sie es mir verbieten? Aufs Dach ließ sie mich bestimmt nicht, dabei würde ich da noch viel lieber hingehen als in den Garten.
Ich wusste, auch Klara hätte das Dach bevorzugt. Sie liebte den Wind beinahe noch mehr als ich. Sie liebte es zu fliegen. Und den Wind in den Haaren.
Ich erinnerte mich auch.
An die wehende Luft am liebsten. Wenn ich rannte und sprang, peitschte er mir ins Gesicht, doch das war nichts im Vergleich zu dem einen Mal!
Das war das schönste, was ich je erlebt hatte. So frei wie damals war ich noch nie gewesen.
Ich seufzte erneut, was Dr. Franklin als ein 'Ja' interpretierte.
"Ich werde dir etwas aufschreiben, damit es besser wird.", sagte sie wohlwollend und notierte etwas auf einem Blatt Papier.
Sehnsüchtig schaute ich es an. Wenn Klara jetzt hier wäre, würde sie mir sagen, dass ich es einfach nehmen sollte. Dass ich das Blatt und auch den Stift einfach nehmen und etwas malen sollte.
Ob ich vielleicht...? Es wäre ganz einfach. Ich müsste nur die Hand ausstrecken und nach dem Blatt greifen.
Mein Blick huschte zu Dr. Franklin, die mich aufmerksam beobachtete.
"Möchtest du?", sie hielt mir tatsächlich ihren Stift hin. Unter ihrem Blatt zog sie ein weiteres hervor, das sie mir zuschob.
"Malst du gerne?", fragte sie weiter und ich wollte nicken. Tat es auch.
"Ich kann Frau Merten sagen, dass sie dir Malstifte geben soll.", schlug Dr. Franklin vor und legte den Kugelschreiber direkt vor mich auf das Blatt. Ich wagte nicht den Blick davon zu heben.
Durfte ich die Hand ausstrecken? War das kein Trick? Würde sie Luna Merten dann nicht sagen, das sie mir Stifte geben sollte, wenn ich den Schreiber nahm?
Mein Blick huschte zu Dr. Franklin, die etwas auf ihrem Zettel notieren wollte. Aber ihr Stift lag bei mir.
Ich weiß nicht woher ich den Mut nahm, aber ich würde ihr den Stift wegnehmen. Eilig griff ich danach und zog ihn dicht an meine Brust. Doch das war nicht sicher genug und so setzte ich mich drauf.
Mit einem scheppern fiel die Vase, die ich zwischen den Beinen abgestellt hatte zu Boden.
Erschreckt schaute ich auf das, was ich angerichtet hatte, doch mein Schatz war sicher.
"Dachtest du, ich würde dir den Stift wieder wegnehmen?", fragte mich die Ärztin in ihrem Selbstgespräch, dann fügte sie hinzu: "Du kannst ihn behalten. Ich habe noch mehr."
Dr. Franklin stand auf. Als sie vom Schreibtisch zurückkehrte, hatte sie zwei Stifte dabei. Einen Bleistift und einen Kugelschreiber.
Den Bleistift legte sie auf das Blatt vor mir. Mit dem Schreiber schrieb sie auf ihren Zettel.
Verstohlen schielte ich zu ihr hinüber.
Sah, wie sie Striche, Linien und Bögen beschrieb. Kurven verbanden sich mit Geraden. Parallelen zog sie und Kreise.
Gebannt verfolgte ich was sie tat. Dabei huschte mein Blick immer wieder von ihrem Blatt zu meinem, von dort auf den Boden, wo die wunderschönen, blauen Blumen in einer Pfütze Wasser schwammen.
Die Vase war intakt. Aus Plastik oder Metall wurde mir klar.
Mein Blick haftete an den Blumen. Eine lag über meinen nackten Füßen. Ihre zarten blauen Blütenblätter kitzelten mich. Und das Wasser, das mir unter die Sohlen lief war kühl.
Fast so kühl wie das Wasser des Sees, in dem ich geschwommen war.
Vor so vielen Jahren.
Die Sonne stand ganz hoch am Himmel und es war fürchterlich warm. Der See lag lockend vor mir, doch Mama hatte mir verboten ins Wasser zu gehen.
"Komm schon Katrina.", quengelte Karla, "Mir ist heiß! Ich will schwimmen."
"Ich kann doch noch nicht schwimmen.", warf ich zögerlich ein, "Und Mama hat es verboten.", fügte ich leise hinzu.
"Deine Mama verdirbt uns jeden Spaß! Komm schon Kati."
Mit in die Seiten gestemmten Händen sah sie mich an und nickte energisch. Und als ich den ersten zögerlichen Schritt Richtung Wasser setzte, strahlte sie begeistert.
"Das wird toll! Es ist ganz frisch! Du wirst sehen!"
Daran, dass ich nicht schwimmen konnte dachte ich nur noch kurz und Klara wusste das.
"Ich bring es dir bei.", versicherte sie mir, als meine Füße die Wasseroberfläche durchbrachen.
"Katrina? Katrina?!", rissen mich Dr. Franklins Worte aus meinen Gedanken. Verträumt sah ich sie an. Mit den Zehen wackelte ich auf und ab und genoss das leise Plätschern, dass ich erzeugte.
"Malst du mir auch etwas?", wollte die Ärztin wissen und deutete auf ihr Bild, das sie mir zugeschoben hatte.
Eine kleine Blume prangte auf dem weißen Blatt.
Ich hasste das Reine weiß. Aber ihre Blume die sie mit wenigen, schwarzen Strichen auf das Papier gemalt hatte, gefiel mir.
Zögerlich nickte ich. Zog meine Hand unter meinem Bein hervor, wo ich noch immer den Schreiber versteckte und hob eine der blauen Blumen vom Boden auf.
Legte sie neben das noch rein weiße Blatt und nahm den Bleistift zur Hand, der dort lag. Meinen Schatz noch immer sicher verborgen.
Nachdenklich drehte ich den Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor ich Dr. Franklin in die Augen sah.
Sie nickte mir aufmunternd zu und ich wusste, wenn Klara jetzt hier gewesen wäre, hätte sie die Augen verdreht.
"Dumme Schnäpfe!", hätte sie gesagt, "Sie will dich nur austricksen. Fass ja den Stift nicht an!"
Aber Klara war nicht da und deshalb beging ich wohl den größten Fehler meines Lebens.
-------------
1708 Worte
11.04.17
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro