23 Die Wiese unter dem Baum
Auf dem Flur war es still.
Ich sah niemanden. Auch Theo nicht.
Nur Brunos Stimme hörte ich aus einem der Zimmer dringen.
Ich wanderte an der Wand entlang zu dem Bild mit der Blume. Mit dem Finger fuhr ich die Linien nach. Beschrieb Bögen und Kreise. Striche und Kurven. Ließ meine Gedanken in den Garten wandern, dorthin, wo ich mit Klara gesessen und die blauen Blumen gepflückt hatte.
Mamas Blumen hatten so schön gerochen. Das Bild duftete nicht.
Ich konnte bis heute nicht verstehen, warum sie böse auf mich gewesen war, als ich ihr erzählt hatte, dass wir sie gepflückt hatten.
Die saphirblauen Blätter, schienen im Licht der Sonne zu glitzern und zauberten ein Lächeln auf mein Gesicht.
Meine Hand war wie von selbst zu den Stengeln gewandert, doch streichelte ich die Blumen nur.
"Komm schon!", forderte Klara mich auf, "Eine schadet doch nicht. Da sind so viele andere."
"Meinst du?", hatte ich unsicher gefragt und sie hatte zustimmend genickt.
Ich pflückte die Blume. Und nicht nur diese. Auch viele andere. So viele, bis keine blau schimmernden Blumen mehr im Beet zu sehen waren. Dafür brachte ich meine Schätze in die Sandkiste.
Ich bereitete ihnen ein Bett aus Sand. Begoss sie mit Wasser.
Einigen, die nicht ganz so leuchtend waren, zupfte ich die Köpfe ab und ließ sie Schwimmen. Sie trieben in einem Eimer auf der Wasseroberfläche.
Mit dem Finger stupste ich sie an und freute mich, dass sie so schön schaukelten. Es war herrlich.
Doch das schaukeln brachte uns auf eine andere Idee.
"Lass uns auch schaukeln.", schlug Klara vor und ich nickte begeistert. Wir gingen ums Haus herum nach vorne.
Hier stand ein Baum. Ein großer, alter Baum. Mit vielen dicken Ästen. An einen von ihnen hatte mein Vater eine Schaukel gebunden, auf die ich mich jetzt setzte.
Klara gleich neben mir.
Mit den Beinen holte ich Schwung und stieg immer höher in den Himmel hinauf.
Mein Herz freute sich. Klara freute sich. Und ich? Ich freute mich auch. Freute mich, weil Klara sich freute.
Weil der Wind meine Haare zauste und ich mit jedem Auf und Ab das Gefühl hatte zu fliegen.
"Wenn ich groß bin, will ich richtig fliegen.", lachte ich und schloss die Augen. Weit ließ ich mich nach hinten fallen und flog auf der Schaukel durch die Luft.
"Warum warten?", fragte Klara lachend. "Wir können doch jetzt schon fliegen. Wie der Wind."
"Ich meine aber richtig! Ohne die Schaukel.", gab ich zu bedenken. Klara nickte zustimmend.
"Ich doch auch."
Mein Blick glitt zu einem Haus. Eine Scheune. Gleich neben dem Haus wo ich wohnte.
"Wir müssen nur hinaufsteigen und die Arme ausbreiten, dann trägt uns der Wind davon.", sagte sie zuversichtlich und ich seufzte verträumt.
"Eines Tages machen wir das.", pflichtete ich ihr bei und schloss wieder die Augen. Ließ mich tragen. Vom Wind. Von der Sommerlichen Briese, die durch die Äste strich und mir die Haare streichelte. Mich vergessen ließ, was ich erlebt hatte.
Ich vergaß auch die Tage, die verstrichen. Die Tage ohne Klara. Ich war einsam.
Allein. Obwohl Theo immer wieder kam um mit mir zu malen. Um mit mir zu reden. Um mich zu Dr. Franklin zu bringen, die wollte, dass ich mit Bruno anstatt mit Theo zu ihr kam.
Ich ging auch hin. Mit Bruno. Doch stellte ich mich vor das Fenster und sah den Flocken beim fallen zu. Schnee. Viel zu weiß. Dafür war der Himmel blau. Zwar eher grau, aber das machte nichts. Ich mochte auch diese fast blaue Farbe. Sie war immer noch besser als das Weiß, in das der Schnee die Bäume hüllte, die unten an der Straße standen.
Ich verließ das Büro von Dr. Franklin. Kehrte zurück und ging ohne etwas gesagt zu haben. Viele Male.
Sie redete auf mich ein, doch ich hörte nicht zu.
Ich hörte zwar, dass sie etwas sagte, doch was wusste ich nicht.
Mir fehlten die Sterne. Mir fehlte der Himmel und langsam fehlte mir auch Klara.
Wir hatten gemeinsam auf der Schaukel gesessen. Wir hatten gemeinsam unter dem Baum auf der Wiese gelegen. Wir hatten zusammen die Sterne angesehen.
Der Wind hatte die Blätter hin und her geweht, nur ganz leicht. Hatte sie gestreichelt und sie tanzend durch die Luft getragen.
"Siehst du den da?", hatte sie mich gefragt und in den Himmel gedeutet, "Der ist der hellste."
"Findest du?", hatte ich gefragt und auf einen Punkt etwas weiter links gezeigt, "Ich finde den Heller als den."
Natürlich hatte Klara widersprochen und den Kopf geschüttelt. Doch dann hatte ich plötzlich keine Sterne mehr gesehen. Nur noch einen dunklen Umriss, der ihr Licht verschluckte.
Klara war aufgesprungen. Ich nicht.
Ich war liegengeblieben.
Ich hätte auch gar nicht aufstehen können.
Etwas hatte mich festgehalten. Niedergedrückt. Etwas Großes. Schweres.
Ein Ast. Sagte ich mir. Ein Ast ist auf mich gefallen. Auf mich drauf gefallen und hat mich festgehalten.
Es muss ein Ast gewesen sein.
Aber hatten Äste Hände? Hatten Äste Münder?
Ich spürte die Tränen über meine Wangen laufen. Spürte die schwere, die mich erdrückte, wie damals. Spürte, wie sich etwas auf meinen Mund presste, wie etwas meinen Hals zusammen schnürte, wie ich keine Luft mehr bekam.
Ich wollte schreien. Wollte, dass der Druck verschwandt. Wollte, dass das, was mich erdrückte wieder verschwand.
Sterne tanzten vor meinen Augen. Wie damals. Sterne, die blitzend durch meinen Kopf zuckten. Ich lag auf dem Boden. Über mir war es hell. Viel heller als der Sternenhimmel, doch der Druck, der mir die Luftabdrückte ging nicht weg.
Ich bekam keine Luft. Hände. Ich spürte Hände an meinem Körper. Sie griffen an meinen Hals. An meine Beine. In meinen Rücken.
Ich spürte, wie das Licht verblasste, spürte, wie das weiche Gras mich einhüllte. Spürte, wie der Druck nachließ, wie die Dunkelheit über mich hereinbrach.
Wie Damals.
Doch damals war ich aufgewacht und hatte den Schmerz gespürt. Ich hatte das Blut gesehen. Das dunkel an meinen Beinen klebte. Das an meinen Händen haftete. Hatte Mühe mit dem Atmen gehabt.
Doch als ich diesmal aus dem Schlaf erwachte, war nur mein Gesicht von Tränen nass. Nicht von Blut. Meine Hände waren weiß und rein. Neben meinem Bett saß ein Mann Und hinter dem Mann...
"Klara.", hauchte ich erstickt und schluckte heftig, "Du bist wieder da!", ich freute mich. Freute mich so sehr, dass ich vor lauter Freude zu weinen begann. Ihre funkelnden grünen Augen sahen mich forsch an, wie immer.
"Türlich!", knurrte sie, "Ich muss dich mal wieder aus der Scheiße ziehen! Warum denkst du dir so einen Scheiß aus?!", sie war sauer. Und ich wusste warum.
"Es ist nie passiert! Das weißt du!"
"Doch Klara.", hauchte ich erstickt, "Es ist passiert. Erinnerst du dich?"
"Waran Katrina? Woran soll Klara sich erinnern?", hörte ich Theos leise Stimme in meinen Gedanken, doch mein Blick galt nur Klara.
"Erinnerst du dich an die Sterne Klara. An die Sterne, die plötzlich weg waren?"
"Nein.", sagte sie trotzig, doch ich wusste, dass sie sich erinnerte und so sprach ich weiter.
"An die groben Hände?"
"Nein!"
"An den Geruch nach Schnaps? Den nach Pfeifenrauch?"
"NEIN! Katrina! Hör auf!", schrie Klara mich an, aber Theo sagte: "Woran erinnerst du dich noch?"
"An den Wind. Er trug mich weg. Ließ mich fliegen, weil Klara mir nicht helfen wollte."
"Ich konnte dir nicht helfen!", schrie sie aufgebracht, "Ich war ein Kind! Ich konnte dir nicht helfen!"
"Ich war auch ein Kind. Und ich konnte Fliegen. Bis in den Himmel. Die Sterne kamen immer dichter. Sie flackerten, bevor sie dunkel wurden. Aber ich flog. Unter den Blättern. Unter dem Baum. Mit dem Wind. Ich flog und doch blieb ich dort. Ich konnte sehen, was er tat."
"Nein, dass konntest du nicht. Wir waren gar nicht da. Wir sind geflogen. Zu den Sternen. Erinnerst du dich Katrina? Erinnerst du dich an die Sterne?", flehte Klara mich jetzt beinahe an.
"Ja. Die Sterne waren schön.", nickte ich in Erinnerungen versunken, "Aber der Schmerz war nicht schön."
"Nein. War er nicht. Deshalb haben wir ihn vergessen.", sagte Klara bestimmt, doch ich redete weiter, als hätte ich nie etwas anderes getan.
"Weißt du, was auch nicht schön war?", fragte ich sie.
"Was?", wagte Klara zu fragen und ich sah sie an. Mit Tränen in den Augen. Mit schmerzendem Hals und Schmerzen im Bauch. Auch mein Kopf schmerzte. Meine Arme und Beine. Irgendwie schmerzte plötzlich alles.
"Der Mann über uns. Als wir erwachten. Nach dem Traum.", sagte ich leise und atmete schluchzend auf.
"Erinnerst du dich an den Traum? An den Stein?", wollte Klara jetzt wissen. Ich schüttelte den Kopf. "Nein.", flüsterte ich erstickt.
"Gut.", sagte Klara, doch Theos Stimme forderte sanft.
"Versuch dich zu erinnern Katrina? Was hast du geträumt?"
"Ich weiß nicht."
Ich schloss die Augen. Dachte nach, ohne nachzudenken. Wollte nicht wissen, was passiert war. Was ich mit dem Stein getan hatte. Wollte mich nicht erinnern, was geschehen war, als ich träumte.
"Versuch es Katrina.", bedrängte mich Theo sanft, "Erzähl mir, was du geträumt hast."
"Es war dunkel.", sagte ich und öffnete die Augen wieder. Sah, wie Klara zustimmend mit dem Kopf nickte. "Ja, das war es."
"Ich bekam keine Luft."
"Doch, aber nicht gut.", korrigierte sie mich und diesmal nickte ich.
"Etwas Schweres lag auf mir."
"Ein Ast.", versuchte Klara mir weiß zu machen.
"Nein, kein Ast. Ein Mann. Er war groß."
"Und schwer.", fügte Klara meinen Gedanken hinzu und ich stimmte ihr zu.
"Ja. Schwer auch. Er roch schlecht."
"Nein! Er stank widerlich. Nach Alkohol. Sein stinkender Atem wehte über dein Gesicht. Du hast den Kopf gedreht und da lag er. Der Stein."
"Ja. Ich erinnere mich.", flüsterte ich erstickt und Theo fragte leise: "Woran erinnerst du dich?"
"An den Stein, neben meinem Kopf. Ich habe nach ihm gegriffen. Er war kalt und glatt."
"Er war schwer. Fast zu schwer.", fügte Klara hinzu.
"Stimmt. Ich konnte ihn kaum heben.", pflichtete ich ihr bei und schloss die Augen erneut. Dunkelheit hüllte mich ein, doch konnte ich den Stein in meiner Hand jetzt ganz deutlich sehen. Spürte sein Gewicht und wie ich ihn hochgehoben hatte. wie ich ihn fallen ließ. Auf IHN!
"Ich habe ihn getötet.", flüsterte ich reuevoll, "Ich habe ihm den Stein auf den Kopf geschlagen. Und ihn getötet."
"Wen Katrina? Wen hast du getötet?", fragte Theo eindringlich und ich öffnete die Augen.
Über mir war der Sternenhimmel und eine sommerliche Briese wehte um meine Nase. Ein Hauch nach den blauen Kornblumen, die ich so liebte und nach frisch gemähtem Gras und Heu. Wie damals. In der Nacht, als ich das Fliegen lernte. Als ich lernte, was es heißt zu fallen. Zu sterben. Und was es hieß, zu leben, obwohl ich lieber tot sein wollte.
Leben, mit den Erinnerungen daran, dass ich einen Menschen getötet hatte, der mir so viel bedeutete.
Der mich geliebt hatte. Der mir die Welt zu Füßen gelegt hatte und mich auf Händen trug. Einen Menschen, den ich getötet hatte.
"Wen hast du getötet, Katrina?", wiederholte der Sternenhimmel, der vor meinen Augen verschwamm, als ich die Wahrheit erkannte, eine Wahrheit, die ich immer zu verdrängen gesucht hatte. Eine Wahrheit die mehr Schmerz verursachte als das, was mir sein Körper angetan hatte.
Einen Schmerz, den ich nicht spüren wollte. Einen Schmerz den ich verdrängt hatte, als ich erkannte, was ich getan hatte.
Ich hatte mich unter dem Schweren Körper herausgewunden. Hatte meinen geschundenen Körper nach Hause geschleppt und mich gesäubert.
Ich hatte mich ins Bett gelegt und die Augen geschlossen.
Ich hatte geträumt und vergessen was gewesen war. Vergessen, was ich getan hatte.
Hatte vergessen was Wahr war. Bis jetzt.
"Ich habe meinen Bruder getötet.", flüsterte ich erstickt und ertrank in dem Blau über mir. Ertrank in den Tiefen des Himmels und löste mich auf.
In Tränen. In Trauer. In Schmerz.
Einen Schmerz, der nicht nur auf eine Weise mein Herz zerbrach, sondern auch auf so viele andere.
Die Sterne verblassten. Sie erloschen. Sie gingen und ließen mich allein.
Ich sah sie nicht zurückkommen. Ich hatte die Augen geschlossen. Öffnete sie auch nicht, als ich hörte, dass jemand kam. Öffnete sie nicht, als ich den Schmerz spürte, den mein Arm durchzuckte.
Konnte sie auch nicht mehr öffnen, als mich die Dunkelheit verschluckte und mich in eine sternenlose Finsternis entführte.
Hoffnungslos.
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2019 Worte
19.04.17
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