46. Kapitel - Die Letzte
Alles ging drunter und drüber. Nichts, rein gar nichts war mehr, wie es einmal gewesen war. Newt war jetzt der Anführer der Lichter, da Alby um sein Leben kämpfte. Minho und Thomas hatten dem Labyrinth getrotzt. Sie hatten eine Nacht überlebt und dazu noch einen Griewer getötet. Nichts davon war schon einmal passiert und dies wussten alle Lichter ganz genau. Seitdem Thomas auf der Lichtung angekommen war, gab es eine Veränderung nach der anderen.
Also, hieß es zurücklehnen und warten? Würde alles schlimmer werden oder machten wir doch Fortschritte?
Na ja, ich wusste es nicht. Jedoch, hoffen war etwas, was ich konnte. Ich konnte hoffen, dass alles wieder gut würde, oder dass wir einen Ausgang aus dem Labyrinth fanden. Trotzdem, ob die Welt da draußen eine bessere war, war ungewiss, für die anderen, nicht für mich.
Obwohl Newt mir einmal gesagt hatte, dass ich mir diese Erinnerungen nur einbildete, sie Träume waren, war ich der festen Überzeugung, dass das alles real war. Und wenn das wirklich der Fall war, dann war die Welt eine totale Katastrophe.
"Nicht zu fassen! Du bist wie ein Mädchen vom Griewer weggelaufen, mein Lieber!", ein Lachen war die Folge, ich wurde stutzig, "Hey, hör auf! Das ist ja unmöglich!", jetzt konnte ich der Stimme eine Person zuordnen. Es war Liv.
"Autsch!", nun kam die Läuferin in mein Blickfeld und was ich sah, ließ mich grinsen. Liv rieb sich ihre Schulter und Minho stolzierte selbstbewusst neben ihr her, dann erhob der Asiate seine Stimme: "Jeder muss manchmal flüchten. Und ja, den Schlag gegen deine Schulter hast du verdient."
"Also ich hab' gehört, dass man keine Mädchen schlägt", konterte Liv und streckte ihm ihre Zunge entgegen.
"Dafür müsstest du 'mal eines sein."
"Huh, das nimmst du zurück!"
"Und was, wenn nicht?", wollte er ganz ruhig wissen.
"Dann sehe ich keinen Grund mehr, diese Beziehung aufrechtzuerhalten", Liv grinste süffisant und inzwischen war ich bei den beiden Neppdeppen angelangt.
"Hey!", grüßte ich sie und gesellte mich zu ihnen. Die Hüter hatten gerade eine Besprechung gehabt, in welcher die letzte Nacht besprochen worden war. Minho und Thomas waren zwar heute erst zurückgekehrt, doch das Leben auf der Lichtung musste weitergehen. Zumindest hatten die beiden den ganzen Vormittag und Mittag etwas Schlaf bekommen. Dennoch sah man Minho in diesem Moment an, dass er die letzte Nacht noch nicht verarbeitet hatte.
Wie denn auch, fragte ich mich.
Minho und Thomas waren dem Tod ausgeliefert gewesen, ihm nur mit Glück entkommen. Auf der Lichtung war deswegen keine Ruhe eingetreten. Immer noch kämpfte Alby um sein Leben, würde höchstwahrscheinlich sterben. Ebenfalls waren heute keine Läufer ins Labyrinth gegangen. Sie trauten sich nicht hinein, weil Ben und Alby beide am helllichten Tag von einem Griewer attackiert worden waren.
"Gut, dass du hier bist, Rosy", Liv machte eine Handgeste, "Er hier hat mich geschlagen und das nur, weil ich ihn ausgelacht habe. Einfach kindisch."
"Ich und kindisch? Ich war nicht diejenige, die mir die Zunge gezeigt hat", Minho hatte sie unterbrochen und sah seine Freundin grinsend an. Das schwarzhaarige Mädchen kniff seine Augen deswegen zusammen und trotzte.
"Und, gibt's 'was Neues?", wechselte ich das Thema, denn wenn die beiden einmal diskutierten, gab es kein Zurück mehr. Dann war das Zurück nämlich schon längst gestorben, doch da mir das Zurück lebendig besser gefiel, war ich froh, dass mein Themenwechsel angenommen wurde.
"Thomas ist Läufer geworden", berichtete Liv stolz und ich konnte nur anerkennend nicken, "trotzdem muss er eine Strafe im Bau absitzen, da er gegen eine der Regeln verstoßen hat", redete sie weiter und ich wollte gerade etwas erwidern, als eine Sirene erklang. Ein Geräusch, das mein Herz zu einem Stillstand brachte.
Wir blickten uns irritiert an.
"Das kann nicht sein...", Minho sah hinüber zur Box und auch ich blickte in die Ferne.
"Dem Anschein nach doch", sprach ich leise, anschließend setzten wir uns in Bewegung.
Sofort rannten auch alle anderen Lichter zur Box und wir versammelten uns um diese herum. Es wurde wild miteinander getuschelt, jeder war ahnungslos.
"Was soll denn das?", murmelte Newt und zwängte sich in die erste Reihe.
Als etwas Zeit verstrichen war, kam die Box an die Oberfläche und die Gitterflügel wurden hastig zur Seite geschoben. Im Anschluss darauf sprang Newt in die Box hinein, dann kehrte Ruhe ein. Es war so, als ob er in eine andere Dimension gesprungen wäre, denn nichts außer Funkstille erreichte uns. Sofort drängten sich alle enger zusammen. Jeder wollte einen Blick in die Kiste erhaschen. Zu meinem Glück stand ich ganz vorne und als ich einen zögerlichen Blick riskierte, verschlug es mir die Sprache.
Newt stand geschockt in der Box und sah auf ein Mädchen hinab. Ihr regloser Körper lag auf dem Gitterboden. Sie sah tot aus.
Das Mädchen war groß, schlank und trug ein blaues Oberteil, darüber ein weißes Hemd und eine dunkle Hose. Ihre dunklen Haare lagen neben ihrem Kopf am Boden, ihre rechte Hand neben ihrem Gesicht. Der Mund war einen Spalt breit geöffnet.
"Es ist ein Mädchen, aber ich denke, dass sie tot ist...", flüsterte Newt und beugte sich nach unten. Anscheinend hatte er irgendwas entdeckt und im nächsten Moment zog er einen Zettel aus der rechten Hand des Mädchens.
Verwirrung huschte über sein Gesicht, anschließend begann er, das Geschriebene laut vorzulesen: "Sie ist die Letzte. Für immer."
Alle tauschten verwunderte Blicke miteinander aus, doch plötzlich passierte es, etwas Unvorstellbares.
Das dunkelhaarige Mädchen schnappte nach Luft und riss seine Augen auf. Ich erschrak, dennoch erschreckte mich das nächste Wort noch viel mehr: "Thomas!", keuchte der Neunankömmling, dann drehten sich die Augen des Mädchens in seinen Augenhöhlen und man konnte nur mehr das Weiße sehen. Sie wurde wieder bewusstlos.
Alle Blicke schnellten zu Thomas in unseren Reihen, der nicht wusste, was er tun sollte, infolgedessen fragte Gally: "Findet ihr immer noch, dass ich überreagiere?"
Die Ankunft eines neuen Frischlings, wenn man das Mädchen denn als einen bezeichnen konnte, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Weitere Unruhe brach auf der Lichtung aus, doch Newt und die Hüter gingen einigermaßen gut mit der Situation um. Es wurde beschlossen, dass das Mädchen zu Jeff und Clint gebracht würde. Alby sollte in eine Hütte verlegt werden, da er bald zu einer Gefahr für andere werden könnte.
Um all das kümmerte sich Newt. Er ging mit den anderen fort und in meinem Inneren verspürte ich das Verlangen, mit ihm zu reden, ihm nahe zu sein. Ich wollte meine Arme um Newt schließen, denn ich wusste, dass in seinem Inneren die Welt auf dem Kopf stand. Newt sprach nicht oft über seine Gefühle, doch das brauchte er nicht. Ich wusste auch so, dass es ihm in diesem Moment schlecht ging.
"Was machen wir jetzt?", fragte Liv, als sich alle anderen von der Box entfernt hatten. Nur Thomas war bei uns geblieben.
"Wenn ich das nur wüsste", erwiderte Minho, "So 'was hat es noch nie gegeben. Ich mein', wie kann das Mädchen deinen Namen wissen?"
Alle Blicke landeten abermals auf Thomas, der sich durch seine Haare fuhr.
"Ich weiß es nicht...", murmelte er, "Ich kann mich ja an nichts erinnern. Vielleicht hat sie mich gekannt?"
"Sie sollte sich aber an nichts erinnern können. Wir alle tun es nicht", erklärte Liv streng, ihre Arme waren vor ihrer Brust verschränkt.
Ja, wir sollten uns nicht an etwas erinnern können.
In diesem Moment wäre eine gute Möglichkeit gewesen, den anderen von meinen Erinnerungen zu erzählen, doch ohne Zweifel hätte ich damit nur mehr Chaos ausgelöst.
"Bei einem muss ich Gally recht geben", meinte Liv und bekam unsere ganze Aufmerksamkeit.
"Dass ich diese Worte aus deinem Mund höre.", Minho hob eine Braue.
"Ha, lustig! Nein, Gally hat in dem Sinne recht, dass etwas nicht stimmt. Ich will Thomas nichts unterstellen, da er einer von uns ist, aber vielleicht hat seine Ankunft wirklich etwas damit zu tun, dass alles aus dem Ruder läuft? Nicht, dass Thomas exakt damit 'was zu tun hat, aber vielleicht hat seine Ankunft im Labyrinth einen Schalter umgelegt. Das Labyrinth funktioniert seit Jahren gleich. Es verändert sich, seine Tore öffnen und schließen sich zu exakt derselben Zeit. Die Griewer kommen nur am Tag 'raus."
"Worauf willst du hinaus?", fragte ich das Mädchen vor mir.
"Ich will damit sagen, dass das Labyrinth ein Zeitgefühl hat. Jemand hat es erschaffen, es programmiert. Jetzt hat es jemand verändert, oder es war von Anfang an darauf programmiert worden, ab einem bestimmten Zeitpunkt durchzudrehen. Dieser Zeitpunkt war Thomas' Ankunft."
"Du willst damit also sagen, dass all das hier geplant ist?"
"Zufall wird es nicht sein", erwiderte Liv auf die Worte ihres Freundes, "und Thomas wird sich als normaler Junge nicht selbst in die Box gesteckt haben."
"Es wird sich also etwas verändern", schlussfolgerte Thomas, "In letzter Zeit sind für euch Dinge passiert, die nicht normal sind. Die Griewer..."
"Was haben die Griewer damit zu tun?", fragte Minho.
"Sie sind unser Ausgangspunkt. Ben und Alby sind am helllichten Tag gestochen worden, obwohl sie nur nachts herauskommen."
"Sie sind die erste Veränderung gewesen."
Diese Worte verließen meinen Mund und Thomas nickte eifrig.
"Ja, das ist es; wir müssen zum toten Griewer!"
Ohne weitere Worte wollte Thomas sich sofort in Bewegung setzen, doch Minho trat vor ihn. Er hielt Thomas am Weitergehen ab, fragte: "Was soll der Griewer uns bringen?"
"Habt ihr schon einmal einen untersucht?"
Thomas' Frage löste Stille unter den Läufern aus, dann setzte er fort: "Als ich die letzten Tage Fragen zur Lichtung gestellt habe, hat mir jeder gesagt, dass ihr alles probiert habt, um hier auszubrechen, aber noch nie habt ihr einen Griewer untersucht, weil sie nur in der Nacht herauskommen. Noch nie hat einer von euch eine Nacht im Labyrinth verbracht, weil es den Tod bedeutet, also-"
"Was ist, wenn wir das die ganze Zeit über schon versuchen hätten sollen", schlussfolgerte Liv und ihre Augen glitzerten.
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich gerade eine Situation erlebte, die es nur in den Anfangszeiten der Lichtung gegeben hatte. Es war ein Moment, in dem eine neue Idee, dem Labyrinth zu entkommen, geboren wurde.
Selbstverständlich waren die beiden Läufer sofort von Thomas' Vorschlag überzeugt gewesen. Sie wollten heute noch ins Labyrinth, doch ein Problem gab es, und zwar, alle Läufer hatten gekündigt. Allein wollten Minho und Liv nicht gehen, weswegen sie die anderen Läufer zwar darüber in Kenntnis setzten, doch Absagen bekamen.
Aus diesem Grund sprachen sie mit Newt, der ihnen, nach langer Diskussion gestattete, eine weitere Besprechung der Hüter zusammenzurufen.
Die Besprechung dauerte nur eine halbe Stunde an, doch gegen Ende hatten Minho und Liv das bekommen, was sie gewollt hatten. Sie dürften ins Labyrinth und drei der Hüter würden mitgehen: Pfanne, Zart und Winston.
All das nur, da der Griewer bloß eine Stunde entfernt sein sollte. Auch Thomas würde mitgehen und ich hatte schon geglaubt, dass Minho und Liv es dabei belassen würden, doch nach der Besprechung fragten sie mich, ob ich mit ihnen wollte. Selbverständlich hatte ich gewusst, dass ich so schnell keine weitere Möglichkeit bekommen würde, um das Labyrinth mit meinen eigenen Augen zu sehen.
Ich hatte also zugestimmt, doch alles im Leben hatten einen Haken. Meiner war, dass ich Newt selbst fragen müsste, ob er mich ins Labyrinth ließ. Das brachte uns in die Gegenwart.
"Und warum denn nicht!", schrie ich. Newt drehte sich ganz ruhig zu mir um.
"Weil das einfach so ist. Du kannst nicht beschließen, ins Labyrinth zu gehen", seine Stimme war ganz ruhig.
"Aber Pfanne und so dürfen, nur weil sie Hüter sind, oder was? Minho und Liv haben es mir angeboten. Alle Läufer haben gekündigt!"
Newt schien meinen Standpunkt nicht zu verstehen, denn er blockte vollkommen ab.
"Ich möchte doch einfach nur wissen, was da drinnen ist. Es sieht so aus, als ob sich alles verändern wird. Weißt du, ich war ganz ruhig. Ich hab' nie nur ein Wort gesagt, da ich gewusst habe, dass ich keine Chance habe, da überhaupt 'reinzugehen. Ich hab's akzeptiert, aber jetzt willst du es nicht begreifen!"
"Du willst es nicht begreifen!", schrie Newt das erste Mal, "Rosaly, das ist Irrsinn! Weißt du eigentlich, was da drinnen ist? Nein, eben nicht. Es ist scheißgefährlich. Du musst natürlich so dumm sein und mit Anlauf in den beklonkten Selbstmord rennen, oder?"
"Wenigstens habe ich keine Angst, so wie du. Ich bitte dich, du sprichst mit so viel Grauen im Gesicht von einem blöden Labyrinth!", meine Stimme zitterte, "Ich will es doch einfach nur verstehen. Ich muss es mindestens einmal gesehen haben..."
Newt biss sich auf seine Unterlippe. Er atmete ein und aus, sein Körper bebte fast.
"Na gut", sprach er bedrohlich ruhig, "Geh' einfach, denn verstehen wirst du es nicht."
Ich schluckte die Worte hinunter, die mir auf der Zunge lagen, dann verließ ich, den Tränen nahe, die Hütte. Ich wischte mir mit meinem Handrücken über die Augen.
"Alles okay?", fragte Liv mich und sah mich schockiert an.
"Ja, lass uns gehen."
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