29. Kapitel - Epische Ausmaße
Ein neuer Tag, ein neuer Start, oder?
Nein.
Also bitte? Man konnte nicht behaupten, dass sich die Sachen, die am Vortag passiert waren, auf einmal in Luft auflösen würden, obwohl ich mir genau das im jetzigen Augenblick am sehnlichsten gewünscht hätte.
Zu meinem Bedauern musste ich einmal wieder einen Brechreiz unterdrücken und das mit höchster Disziplin. Nur einmal so nebenbei erwähnt. Der Auslöser war, wie erwartet, Christine.
Sie kam auf mich zu und trampelte sich ihren Weg frei. Natürlich immer darauf bedacht, schön mit dem Hintern zu wackeln. Ihre Hüften schwangen von links nach rechts und sie war in ihrem Element. Wahrscheinlich versuchte sie so, selbstbewusst zu wirken. Ich fand es jedoch nur amüsant.
Kurz, bevor sie bei mir angekommen war, schubste sie noch einen Lichter grob zur Seite. Dieser Lichter hatte sie eben nicht bemerkt, jedoch war das nicht so schlimm, denn als der Junge aus dem Weg gestoßen wurde, wurde er sofort wieder daran erinnert, dass Christine hier, na ja, extra existierte.
Was haben sich die Macher des Labyrinths nur dabei gedacht, SIE hier 'reinzustecken?
Anscheinend nichts Gutes.
Natürlich war unsere liebreizende Christine nicht allein, denn ihr kleiner Dackel Abbygail war ihr dicht auf den Fersen. Reservierter und nicht allzu grob, denn unbeholfen wie sie eben war, stolperte sie ihrer Freundin hinterher. Leid tat sie mir trotzdem nicht.
Ich hatte überhaupt keine Lust, mit ihnen zu reden, und überlegte hart, ob ich nicht einfach in irgendeine Pfütze springen könnte. Aber da keine in der Nähe war und weggelaufen ebenso keine Möglichkeit war, blieb ich einfach auf meinem Fleck stehen und musterte die zwei Mädchen, die immer näherkamen. Christine war wie ein nerviges Insekt, welches sich festgekrallt hatte. Also eine kleine, widerwärtige Zecke, die ich nicht mehr beseitigen konnte.
Gerade, als ich mir die Brünette mit einem Insektenkopf vorgestellt hatte, kam sie wenige Zentimeter vor mir zum Stehen. Nur einmal nebenbei: viel zu nah, also zehn Meter waren schon zu nah, wirklich. Ich ging einen Schritt zurück und musste in ihre vor Selbstbewusstsein tropfende Visage blicken. Hatte man ihr eigentlich schon einmal gesagt, dass sie wirklich wie ein Raubvogel aussah, der auf der Lauer lag? Ich bezweifelte dies.
"Also, da du gestern so aufbrausend warst, dachte ich mir, dass ich dir Zeit zum Abreagieren gebe, damit wir nun in Ruhe reden können", hörte ich Christine im nächsten Moment ihre Stimme erheben. Und wahrscheinlich hatte ihr auch niemand gesagt, dass sie sich wie ein Ferkel anhörte, das einen Hyperventilationanfall starb und quietschte. Ja, das kam ihrer Stimme schon ganz nah, mhm.
Gute Metapher, Rosaly, lobte ich mich infolgedessen selbst und klopfte mir innerlich auf meine Schulter.
Gut, vielleicht war ich innerlich oft nicht viel besser als Christine, doch im Gegensatz zu ihr lebte ich meine Gedanken nicht an anderen aus.
"Hm, wie soll ich das jetzt auffassen?", fragte ich desinteressiert und hob beide Brauen weit in die Höhe.
"Ich wollte eben nur eines klarstellen, und zwar, dass ich mich nicht mehr von dir vor allen anderen zum Narren halten lassen werde, meine Liebe", drohte sie irgendwie und ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust. Sie war indessen wieder nähergetreten und tippte mir mit ihrem spitzen Fingernagel gegen die Brust. Ich blickte über ihre Schulter und konnte Abbygail sehen, die ihre Hände verschränkt hatte und bestimmt nickte. Dass sie gerade Christines Gesichtsausdruck nachahmte und ebenfalls die gleiche Frisur trug wie sie, ließ ich außen vor.
Nicht einmal ein paar Sekunden später, schlug ich Christines Hand weg und zog meine Stirn kraus. Was ihr Problem war, wusste ich immer noch nicht, aber schließlich war es mir egal. Sie musste halt immer aus einer kleinen Sache einen riesigen Klonk machen.
Unmöglich.
"Du tust mir wirklich leid, weißt du", sprach ich, "Wenn ich eines deiner Probleme bin, das dir in der Nacht den Schlaf raubt, dann ist das echt traurig. Ich meine, sieh dich doch 'mal um", ich ließ meine Hand über die Lichtung schweifen, "Hier ist genügend Platz, um einander aus dem Weg zu gehen, und ich finde, dass das eine überaus tolle Idee ist."
Christine schnaubte nur, wobei ihre Nasenflügel ein großes Ausmaß annahmen, okay, ein episches Ausmaß annahmen.
"Ich finde, dass ich eine Entschuldigung verdient habe", meinte sie stattdessen.
"Ha!", lachte ich, was meinem Gegenüber nicht gefiel; Christines Augen verengten sich zu Schlitzen.
"Deine Reaktion ist der beste Beweis, dass du dich hier nicht benehmen kannst", setzte sie fort, doch ich unterbrach sie: "Ich kann mich nicht benehmen?", fragte ich und ging einen Schritt auf das Mädchen zu, "Ich war nicht diejenige, die auf jemand anderes zugeschritten ist, um ihr zu drohen, oder? Habe ich mich gestern wie ein Neppdepp verhalten, indem ich Chuck als Griewer-Fraß bezeichnet habe? Du solltest dich eigentlich bei Chuck entschuldigen. Und ebenfalls bin ich nicht die Person gewesen, die zuerst in den privaten Raum eines anderen eingedrungen ist!", provozierend tippte nun ich ihr gegen ihre Brust. Eine Geste, die ihr nicht gefiel.
Wir funkelten uns an und unsere Augen waren auf derselben Höhe. Blitze schienen von unseren Blicken auszugehen und selbstverständlich bekamen Christine meine Worte nicht.
Sie griff nach meinem Handgelenk. In meinem Inneren kam das Verlangen auf, sie an mich zu ziehen, ihr darauf die Füße wegzuziehen und sie vor mir am Boden liegen zu sehen.
Stattdessen fragte ich spottend: "Und, was machen wir jetzt? Ziehen wir uns etwas an den Haaren und kratzen uns unsere Augen aus?", meine Stimme war mit Vorfreude gefüllt. Ich musterte sie eingehend und stellte zufrieden fest, dass Christine unsicher wurde. Nur etwas, doch sie schien vom Gedanken, wir prügeln uns und brechen eine der Regeln auf der Lichtung, nicht angetan zu sein.
Im Augenwinkel erkannte ich, wie die ersten Lichter auf uns aufmerksam wurden, aber ich ignorierte sie.
"Mit deiner großen Klappe wirst du wahrscheinlich Ähnliches bewirken", hisste Christine, doch ich zuckte nur mit meinen Schultern.
"Dann geb' ich dir den Tipp, den Daumen bei einer geschlossenen Faust auszulassen, wenn du mich schlagen willst. Kinnhaken tun ebenso sehr weh, aber pass auf, dass du dir deine Hand nicht brichst. Ich würde meine linke Seite bevorzugen."
Ich klimperte lieb mit meinen Wimpern. Man konnte Christine ansehen, wie sie mich gerne schlagen wollte, doch es nicht durfte.
Herrlich.
Was ist jetzt, Christine?
Wo ist dein Selbstbewusstsein?
"Du", zischte sie mich an, verstärkte ihren Griff um mein Handgelenk, was mein Herz schneller schlagen ließ. Jedoch, ich konnte mein Gegenüber nicht weiter provozieren, denn eine Stimme unterbrach uns schneidend: "Das reicht. Ihr geht jetzt sofort auseinander!"
Christines und mein Blick schnellten zur Seite. Rechts von mir entdeckte ich niemand geringeren als Newt.
Er hatte seine Arme vor seiner Brust verschränkt und sein Blick ließ keinen Spielraum für eine andere Interpretation übrig. Er gab uns genau eine Chance, die Christine ergriff. Zwar schien sie kein Fan von Newt als Albys rechte Hand zu sein, doch sie gehorchte.
Im nächsten Moment wurde mein Handgelenk befreit und gespielt verletzt meinte ich: "Aua..."
Mein Handgelenk war etwas rot, aber nicht ausreichend, um genug zu schmerzen. Aus diesem Grund waren Christines Abschlussworte: "Heuchelei! Du spielst ein dummes Spiel!"
Infolgedessen drehte sie sich in Blitzgeschwindigkeit um. Jedoch, bevor sie sich endgültig aus dem Staub machte, warf sie mir noch einen ihrer tödlichen Blicke zu und verschwand mit wehenden Haaren, gefolgt von ihrem Dackel.
"Du spielst ein dummes Spiel...", wiederholte ich ihre Worte augenverdrehend und schritt langsam an Newt heran. Mit ihm waren auch andere Lichter anwesend und aus irgendeinem Grund sahen sie mich seltsam an. Wahrscheinlich hatten sie mir als an sich ruhige Person einen solchen Charakterzug nicht zugetraut. Jedoch, was sollte ich sagen? Ich steckte eben voller Überraschungen.
"Lass uns in den Garten gehen", meinte ich neben Newt unbekümmert und setzte mich in Bewegung.
"Ja, während du mir erzählst, was das eben war", verlangte er und so geschah es schlussendlich. Eine Strafe bekam ich von Newt nicht, dafür eine Tadel, dass ich mich nicht auf jemanden wie Christine einlassen sollte. Ebenfalls war auch er verwundert gewesen, dass ich aufbrausend sein konnte.
Gegen Abend stand ich auf der Lichtung und ließ meinen Blick über diese schweifen. Für die Verhältnisse der Lichter war es ruhig, vielleicht sogar zu ruhig, aber mir sollte es recht sein.
Ich hatte wieder einen Tag bei den Hackenhauern gemeistert, also konnte ich stolz auf mich sein, oder? Ne, Spaß beiseite.
Ich schlenderte gerade über die Lichtung und hing meinen Gedanken nach. Newt war zu Alby gegangen und sie besprachen anscheinend irgendwas, von dem ich, und viele andere Lichter, ausgeschlossen waren. Nun denn, ich hatte etwas Zeit für mich, aber irgendwie war mir jetzt schon langweilig geworden. Ja, ihr habt richtig gehört, jetzt schon. Was ich damit meinte? Na ja, sagen wir einmal so, Newt war erst vor nicht einmal einer halben Stunde gegangen und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Natürlich liebte ich das Alleinsein, aber es gab auch solche Tage, an welchen man einfach Gesellschaft brauchte. Tage, an denen ich Newt nerven wollte. Er war nämlich die einzige Person, die meine nervigen Phase ertrug. Auch wollte ich diese nicht an anderen Personen ausleben.
Ich mein', Zart hätte verdient, dass man ihn nervt, aber dann nervt er mich zurück.
Mein Blick schweifte umher und wenn man gerade an Gesellschaft dachte, dann war sie da. Im nächsten Augenblick erblickte ich eine kleine zierliche Gestalt mit blonden Haaren. Emilia.
Sie war damit beschäftigt, irgendwelche Gemüsekörbe in die Küche zu tragen, und schien eine helfende Hand zu benötigen. Ich entschloss mich, ihr Gesellschaft zu leisten, und beschleunigte meinen Gang daher. Obwohl dies gar nicht nötig gewesen wäre, da das Mädchen abrupt stehen blieb, hechelnd die Körbe auf den Boden stellte und sich ihre anscheinend schmerzende Seite hielt. Sie atmete schnell und sprach wirre Sätze, die an niemanden spezifisch, außer vielleicht dem Schicksal, gerichtet waren. Dass sie mit sich selbst sprach, kommentierte ich mit einem kleinen Grinsen. Als ich neben Emilia zu einem Halt kam, strich sie sich gerade eine Haarsträhne keuchend aus ihrem Gesicht.
"Hey!", rief ich freudig aus und Emilia drehte sich erschrocken zur Seite, um mich mit geweiteten Augen ansehen zu können.
"Rosaly! Warum. Erschreckst. Du. Mich. So. Dermaßen?!", kreischte sie abgehakt und atmete tief ein und aus. Ich versuchte, ein schelmisches Grinsen zu unterdrücken, und sah sie deswegen nur mit Augen an, die natürlich möglichst unschuldig wirken sollten.
"Na ja, ich hab' dich die Körbe tragen sehen und da dachte ich mir, dass ich dir helfen werde", antwortete ich beglückt und hob zwei ihrer Körbe vom Boden auf. Sie schaute mich kurz skeptisch an und versuchte anscheinend, meine Worte samt Gesichtsausdruck zu analysieren, wobei sie ihren Kopf nach links kippte, jedoch gab sie schnell auf und im nächsten Moment erschien wieder ihr typisches Emilia-Lächeln auf ihren Lippen.
Was man unter so einem Lächeln verstehen konnte? Ich erklär's euch: Also stellt euch Emilia einmal bildlich vor eurem inneren Auge vor. Klein, zierlich, circa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, blonde, meist durch ihre Zöpfe gewellte Haare und blaue Augen, die sich über einer kleinen Stupsnase befanden, welche von tausenden Sommersprossen geziert war. Ihr Lächeln ging fast von einem bis zum anderen Ohr, plus, sie hatte eine kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Das war das typische Emilia-Lächeln.
Auf dem Weg zur Küche redeten und alberten wir herum. Natürlich brauchten wir somit viel zu lange, um die Küche zu erreichen, aber Emilia hatte mir erzählt, dass das kein Problem wäre, da Pfanne so oder so gerade nicht da war. Er war ebenfalls bei Albys Besprechung und somit erklärte das auch, warum Emilia die Körbe ganz allein tragen musste.
Emilia erzählte mir viel über sich selbst. Belangloses ließ ich einmal außen vor, aber wusstet ihr, dass ihr Lieblingsfarbe Gelb und ihre Lieblingstiere Schmetterlinge waren? Natürlich nicht, aber diese Tatsachen waren sehr interessant. Emilia erzählte mir auch, wie es ihr ergangen war, als sie auf die Lichtung gekommen war, und dass sie sich schon von Anfang an mit Pfanne vertragen hatte und sie deswegen unbedingt in die Küche gewollt hatte.
Ich lächelte die ganze Zeit auf dem Weg und als wir die Küche betraten, war ich mir sicher, dass ich Emilia nun ein ganzes Stückchen besser kannte.
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