
27. Kapitel - Zwecklos
Newts Sicht:
Ich schritt über die Lichtung, die in goldenes Licht getaucht war. Die Sonne war am Untergehen und ein weiterer Tag war zu einem Ende gekommen. Langsam kehrte wieder Alltag ein, da sich die Aufregung um Chuck beruhigt hatte. Die Arbeiten an der Küche kamen ebenfalls gut voran und das Gröbste schienen wir hinter uns zu haben.
"Na?", nahm ich wahr. Mein Blick schweifte nach links, wo Minho ging. Woher er gekommen war, wusste ich nicht. Ich war nach dem Abendessen noch im Garten gewesen.
"Was na?", fragte ich nach und musterte den Läufer neben mir. Minho war ein guter Freund von mir, den ich nie missen wollte.
"Ich hab' dich gesucht", erklärte er mir, verschränkte seine Finger hinter seinem Hinterkopf. Von der Seite aus schielte er zu mir herüber und ich hob beide Augenbrauen.
"Warum?"
"Liv ist auf der Aussichtsplattform. Ich geh' jetzt auch zu ihr und du kommst mit."
"Und?"
"Wir können den Tag ausklingen lassen?"
"Ich weiß nicht", erwiderte ich, was bei mir so viel wie: 'Ich hab' keine Lust', hieß.
"Bitte?"
"Ich bin müde."
"Rosaly ist auch dabei. Sie ist schon bei Liv.", aus irgendeinem Grund nahm Minhos Gesicht einen stichelnden Ausdruck an. Er grinste mich an und ich konnte mich gerade noch davor bewahren, nicht dramatisch mit meinen Augen zu rollen.
"Das heißt jetzt was?", fragte ich, doch es stellte sich als ein Fehler heraus. Im nächsten Moment spürte ich Minhos Ellenbogen zwischen meinen Rippen, was mir ein Zischen entlockte.
"Du weißt, was ich meine."
"Nein."
"Tu' nicht so, Newtie", machte Minho einfach weiter und ignorierte meinen genervten Blick.
"Nur Liv nennt mich so", erklärte ich müde, was Minho selbstverständlich wusste.
"Ja, weil ich von Liv nämlich 'was ganz Bestimmtes gehört hab'."
Was ist es jetzt schon wieder, fragte ich mich in meinen Gedanken.
In der Gegenwart blieb ich stehen. Meine Arme waren vor meiner Brust verschränkt und Minho stellte sich mir gegenüber. Als er sich mir jedoch näherte und etwas in mein Ohr flüstern wollte, drückte ich ihn weg.
"Keine dummen Spiele", verlangte ich.
Minho hob entschuldigend seine Hände und lachte: "Gut, gut, wie du willst, aber wenn ich's dir normal sage, ist es nicht unterhaltsam. Obwohl, warte, es ist doch unterhaltsam, weil ich deinen Gesichtsausdruck besser sehen kann."
"Bitte, sag' es einfach."
"Liv ist zu einem Entschluss gekommen, dem ich vollkommen zustimme, und zwar, dass du, mein Freund, und Rosaly perfekt zusammenpasst."
Selbstverständlich rollte ich nun dramatisch mit meinen Augen und setzte mich in Bewegung.
"Nein, nein, nein, denk' doch 'mal nach!", holte Minho zu mir auf, "Die Lichtung sieht alles und ihr zwei versteht euch sehr gut. Vielleicht mehr als gut, hm?"
"Du bist bescheuert.", ich schüttelte meinen Kopf.
"Also, magst du sie nicht?"
"Nein, ähm, ich mein', ich mag sie, normal halt", erwiderte ich schulterzuckend.
Ich probierte, mir meine leichte Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, denn Fakt war, dass ich Rosaly mochte. Nicht auf eine romantische Art und Weise selbstverständlich.
Und was ist das vor ein paar Tagen gewesen, fragte mich meine innere Stimme und fiel mir damit in den Rücken.
Vor ein paar Tagen, als Rosaly dich umgerannt hat und ihr euch in die Augen gesehen habt? Deine Hand auf ihrer Wange. Du hast so ein komisches Kribbeln im Bauch gespürt.
Nein, beharrte ich in meinen Gedanken, verbannte meine dumme innere Stimme. Ich sperrte sie in eine Box und warf diese in einen tiefen Brunnen, der in meinen Gedanken hauste. In diesem befanden sich alle Dinge, über die ich nicht nachdenken wollte. Jedoch, manchmal schaffte es ein Gedankengang, zu entkommen und mir aufzulauern.
"Ich glaub' dir nicht", meinte Minho natürlich.
"Dann tu' es halt nicht", erwiderte ich knapp und bemerkte im nächsten Moment, wo ich überhaupt hingegangen war.
Vor mir ragte der Aussichtsturm in die Höhe und ich blieb stehen. Minho kam ebenfalls zu einem Halt und lachend schlug er mir gegen meine Schulter.
"Hast du so sehr an Rosaly gedacht, dass du unbewusst hierher gegangen bist?", dunkle Augenbrauen zuckten provozierend.
"Du nervst!", ich schlug Minhos Hand fort, behandelte sie so, als wäre sie ein nerviges Insekt. Ganz Minho war ein nerviges Insekt.
"Schon gut, schon gut", beschwichtigte er immer noch grinsend, zuckte mit seinen Schultern und nickte zur Aussichtsplattform, "Ich bin zwar immer noch der Überzeugung, dass schon bald dein Herz für ein ganz bestimmtes Mädchen schlagen wird, aber jetzt lasse ich dich 'mal in Ruhe. Und weil wir jetzt hier sind, kommst du mit nach oben."
Nach diesen Worten, bekam der Junge noch einen fiesen Blick von mir, anschließend näherte er sich der Plattform. Minho kletterte die Leiter nach oben, wobei ich zu ihm sagte: "Kletter schnell, oder ich zieh' dich an deinen Füßen nach unten."
"Das würdest du nicht tun."
"Wirklich?", fragte ich fies und griff nach seinem rechten Fuß, der eine Spur über meinem Kopf war. Kurz zog ich an Minhos Fuß, was ihm einen kleinen Schrei entlockte, doch als er nach mir trat, ließ ich locker.
Infolgedessen kletterte ich jedoch ebenfalls nach oben, wobei ich mich fragte, warum ich es überhaupt tat. Schon immer hatte ich die Höhe verabscheut, aber seit meinem Versuch, mir selbst das Leben zu nehmen, konnte ich die Höhe beinahe nicht mehr ertragen. Mir wurde schwindelig und übel, wenn ich in die Tiefe blickte. Gleichzeitig fühlte sich der Untergrund Meilen entfernt an. Normale Symptome einer Höhenangst, mit denen ich fortan leben müsste.
So schlimm, dass ich nun nicht auf die Aussichtsplattform könnte, war sie jedoch nicht. Nach Minho kam ich oben an. Meine Augen entdeckten zwei Mädchen und blaue Augen landeten auf mir. Rosalys Mund verzog sich zu einem Lächeln.
An sich eine normale Geste, wenn das Schicksal mir nicht einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst hätte. Plötzlich fielen mir Minhos Worte wieder ein, dann meine innere Stimme. Schlussendlich machte mein Magen einen kleinen Salto und ich entschloss in diesem Moment, noch ein ernstes Wörtchen mit meinem unreifen Kopf zu reden.
Rosaly und ich sind bloß befreundet.
Mit diesem Entschluss erwiderte ich Rosalys Lächeln. Bedauerlicherweise spürte ich von der Seite aus stechende Blick von Minho und Liv. Die beiden Strünke schienen eine Verschwörung geformt zu haben, doch zum Glück waren sie Läufer und ich müsste sie nur am Abend und in der Früh ertragen.
In diesem Augenblick blieben sie jedoch ruhig und zusammen ließen wir den Abend ausklingen.
Rosalys Sicht:
Mein Kopf dröhnte und mein Puls klang in meinen Ohren wider. Ein Schlag nach dem anderen, dann der nächste. Langsam, so, als ob es ein Kampf um Leben und Tod wäre. War es vielleicht auch.
Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, doch es war unmöglich. Unmöglich, mich überhaupt zu bewegen. Unmöglich, meinem Schicksal zu entkommen, weil es ein Messer hatte und einen verfolgte. Immer bereit, einem die scharfe Klinge in den Rücken zu rammen, wenn man nicht achtsam wäre.
Wo ich mich befand, wusste ich nicht. Ich hörte nur viele Stimmen, die miteinander tuschelten, jedoch war ich viel zu schwach, um mich hätte wehren zu können. Ich wollte meine Hände bewegen, zwecklos. Ich wollte wissen, wo ich war, zwecklos. Ich wollte kämpfen, zwecklos. Alles hatte keinen Sinn. Der Sinn war längst verloren gegangen.
Es war gar wie ein Stein, den man ins Wasser geworfen hatte. Zuerst existierte viel Elan und Energie. Der Stein hatte die Wasseroberfläche aufgewühlt und diese in Schwingung versetzt. Ein Kampf.
Das Wasser nahm sich den Stein, als wäre er sein Eigentum, obwohl dieser doch noch zuvor am Ufer gelegen hatte. Das Schicksal hatte ihn in seine Hände genommen und fallen gelassen.
Der Stein ging unter und ihn je wiederzufinden, war ebenso zwecklos.
ZWECKLOS. . .
Plötzlich riss ich meine Augen auf und wollte mich bewegen, jedoch war dies ebenso unmöglich. Meine Hände und Füße waren irgendwo festgemacht und als meine Sicht klarer wurde, erkannte ich woran: Meine Hände waren mit Gurten an einer Liege gefesselt. Angst beschlich mich sofort.
Ich riss an den Gurten, doch meine Hände bewegten sich langsam und schwach. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, mein Puls pochte in meinen Ohren. Das Pochen verstärkte aber nur den Schmerz in meinem Kopf und ich hörte zu kämpfen auf. Mein Kopf war leer und ich fühlte mich ausgelaugt. Ich konnte mich nur mehr daran erinnern, dass ich meine Gruppe verloren hatte. Nun gehörte ich zu den Verlorengegangenen.
Meine Augen musterten den Raum und ich stellte fest, dass es ein Labor war. Alles war sauber, fast schon steril. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als eine Frau auf mich zukam. Sie sprach durch ihren weißen Mundschutz zu mir, jedoch konnte ich ihre Worte nicht verstehen, da sie gedämpft von meinen Ohren wahrgenommen wurden. Es war so, als ob meine Ohren durch eine Watteschicht gedämpft waren und ihre Stimme schien deswegen weit entfernt an einem anderen Ort zu sein.
Die Brünette näherte sich immer weiter und als sie mich erreicht hatte, wickelte sie mir ein Band um den Oberarm. Ich war irritiert, dennoch beschlich mich sofort ein ungutes Gefühl und bald bestätigte sich dieses.
Die Frau holte eine metallene Spritze hervor. Sie funkelte im Schein der Lampen. Die in einem Laborkittel gekleidete Dame klopfte mit ihren Fingern gegen die Flüssigkeit im Zylinder der Spritze, nachdem sie sie aus einer Durchstechflasche aufgefüllt hatte. Ein schlanker Daumen drückte den Kolben in die Höhe und ein paar Spritzer schossen aus der Nadel. Ein grauenhafter Springbrunnen.
Ich beobachtete das ganze Szenario mit purem Entsetzen und als die Frau fertig war, stach sie mir die Nadel ohne zu zögern unter die Haut.
Ich hörte meinen Atem stocken und meine Sicht verschwamm. Plötzlich schnürte sich meine Kehle krampfhaft zusammen. Das Gefühl, als würde man ertrinken, ein widerliches Krampfen im Bauch. Ich spürte, wie ich wegdämmerte.
Jetzt war es endgültig aus.
Kämpfen hatte keinen Nutzen mehr...
"-aly? Rosaly", vernahmen meine Ohren, während ich an meiner Schulter gerüttelt wurde. Meine Lunge fühlte sich mit Sauerstoff und ich blinzelte. Meine Augen nahmen einen pechschwarzen Himmel über mir wahr. Mein Rücken war gegen einen harten Boden gedrückt und meine Ohren kamen ebenso in die Realität zurück.
Ich lag immer noch auf der Aussichtsplattform und war eingeschlafen. Newt war derjenige, der mich angestupst hatte, doch Liv schien diejenige gewesen zu sein, die mich angesprochen hatte.
"Rosaly! Verweilst du noch unter uns?", fragte die Läuferin abermals. Murmelnd rieb ich mir durch mein Gesicht, was allen Antwort genug war.
Während meine Finger über meine geschlossenen Augen rieben, erinnerte ich mich plötzlich an meinen Traum. Mein Herz blieb stehen sowie meine Hände.
Haben mich die anderen geweckt, weil ich einen Alptraum gehabt habe?
Eine andere Angst als die in meinem Traum beschlich mich. Ich vertrieb die Erinnerungen an den Alptraum, während ich mich aufsetzte.
"Ähm, ja. Ich bin noch da, e-entschuldigung", brachte ich verlegen heraus, "Bin ich eingeschlafen...?", fragte ich vorsichtig und blickte den grauen Gestalten entgegen. Newt saß neben mir, sagte jedoch nichts. Von Minho bekam ich dafür eine sarkastische Antwort: "Nein", machte er, "du warst die ganze Zeit über wach."
"Du schläfst sehr viel", stellte Liv fest und sie schienen nicht mitbekommen zu haben, dass ich schlecht geträumt hatte. Selbstverständlich konnte ich nicht wissen, inwiefern mein Traum mein schlafendes Ich beeinflusst hatte. Geschrien oder mich stark bewegt zu haben, schien ich anscheinend nicht getan zu haben.
Aus diesem Grund beruhigte ich mich etwas und meinte: "Na ja, ich schlaf' einfach ein und wach' nicht so leicht von allein auf."
Ich sah zu Liv, die mit ihren Schultern zuckte. Anschließend knackte sie ihre Finger, was mich mein Gesicht zu einer Grimasse verziehen ließ. Ich hasste dieses Geräusch.
"Es ist überaus ruhig ohne dich", sprach Minho wieder, "Wir drei sind schon lange auf der Lichtung und du kannst nicht einfach einschlafen; du musst uns bei Laune halten, so als Ex-Frischling."
"Ach, muss ich das?", fragte ich müde, unterdrückte ein Gähnen. An Schlaf konnte ich jedoch nicht mehr denken. Zu groß war meine Angst, dass sich mein Traum fortsetzen würde.
"Selbstverständlich!", bestätigte Minho lachend.
"Doch nicht jetzt", wandte Newt ein, "Wir haben dich geweckt, weil wir schlafen gehen sollten. Du warst uns natürlich schon voraus."
Auf diese Worte hin zuckte ich nur mit meinen Schultern, stand jedoch mit den anderen auf. Vor mir erstreckte sich eine dunkle Lichtung. Nichts hatte sich verändert; ich war immer noch hier gefangen. Kühle Nachtluft umhüllte mich, doch Freiheit war etwas anderes. In der Ferne ragte dunkel das Labyrinth vor mir auf, doch ich wandte meinen Blick ab, als Newt mich anstupste.
Minho und Liv waren bereits die Leiter hinab geklettert und ich folgte.
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