Lügen über Lügen
»Du darfst jetzt nicht ausflippen...«
Das war der letzte Satz den ich von Nick wahrgenommen hatte, denn allmählich sah ich auch was dort oben gelagert war.
Ich war zwar anwesend und hörte was Nick sagte, aber ich verstand es nicht. Ich war wie in Trance.
Ich starrte vor mich hin und entdeckte eine Sache an der Wand.
Nick sagte schon gar nichts mehr und wühlte nur in irgendwelchen Sachen rum.
Die Taschenlampe spendete nicht genug Licht um genau zu erkennen was das alles war.
»Conni in den Nachbarhäusern ist wieder Licht«, sagte er als er das Fenster zu machte.
Ich schaute die Treppen hinunter in den Flur. Auch da war wieder Licht.
»Mit etwas Glück ist hier oben noch funktionstüchtiges Licht«, meinte Nick plötzlich.
Er tastete sich an der Wand entlang und versuchte einen Lichtschalter zu entdecken.
Nach so einer gefühlten Ewigkeit hatte er ihn endlich und eine schwache, aber dennoch funktionstüchtige alte Lampe ging flackernd an. Sie brauchte ein paar Minuten bis sie hell genug war, damit wir alles sehen konnten.
Erst zu diesem Zeitpunkt wurde uns das ganze Ausmaß in diesem Raum klar.
»Oh mein Gott«, kam es nur aus mir raus.
Dieser gesamte Raum war voll mit Sättel, Zaumzeug, Hufeisen, Fotos, gemalte Bilder, Fotoalben, Goldene Turnierschleifen, Pokale und Zeitungsartikel. Alle waren von oder über meiner Mutter?!
»Wie ist das möglich?!« Nick hörte in meiner Stimme nur noch Unverständnis und Wut.
Auch Nick war überfordert mit der Situation und versuchte sich in Worte zu fassen.
»Also das ist... ich weiß nicht... Ähm... Wow!«, stammelte er.
»Wow, das fasst es wohl ganz gut zusammen, aber garantiert nicht im positiven Sinne«, sagte ich immer noch im Schock.
Ich ging rüber und setzte mich an eine Kiste mit Zeitungsartikeln. Das Gewitter zog langsam vorüber und es blitzte nicht mehr ganz so oft.
Ich laß den ersten Artikel.
»Dreizehnjähriges Ausnahme Talent!« Stand ganz vorne auf der Titelseite.
»Nachwuchsreiterin Mathilde Steiner und ihre 8 Jährige Reitponystute Petit Four im Bundeskader, Sieg in der Vielseitigkeit - mal wieder.« Laß ich weiter.
Nächste Zeitung.
»Mathilde Steiner, kleines Mädchen ganz groß. Zierliche 1,45m fliegen mit robuster 1,75m Stute durch den Parcours - Sieg.«
»Mathilde Steiner - Rosige Zukunft.«
Mathilde Steiner... Turnier... Mathilde Steiner... Sieg... Pferde...
All das laß ich über Seiten lang und mein Leben war eine einzige Lüge.
Es waren unzählige Zeitungen über meine Mutter, die meisten waren nur kleine Zeitungsredaktionen, hier aus der Region. Aber es waren auch große Zeitungsredaktionen die sich um die Storys rund um die ach so tolle Mathilde Steiner rissen. So ein scheiß dachte ich mir.
Zwei Artikel waren aber nicht speziell über die junge Mathilde, sondern über ihre Familie. Über meine Familie!
»Gegen Gebot - junge spitzen Stute zieht für 500.000€ zu den Steiners.«
Wow dachte ich mir, 500.000€ für eine junge Stute? Woher kam nur das ganze Geld?
Ich nahm den anderen Zeitungsartikel in die Hand.
»Margarete und Heinz Steiner - Züchterpaar in nächster Generation.«
Dieser Zeitungsartikel war schon sehr alt, das Papier war viel gelblicher als die anderen.
Das Datum auf der Zeitung konnte ich erst nach einer kurzen Zeit entdecken. 11.09.1975.
»Das müssen meine Großeltern in jungen Jahren sein«, meinte ich aufgeregt zu Nick und hielt ihn die Zeitung direkt unter die Nase.
»Stimmt, und das müssen wohl meine Großeltern in jungen Jahren sein.« Nick zeigte auf das Ehepaar neben meinen Großeltern.
Auf dem Bild waren außerdem noch eine große braune Stute und ein schönes Fohlen mit einer goldenen Schleife um den Hals zusehen.
Nick zeigte auf das Gebäude im Hintergrund und meinte: »Das war mal ein Gebäude bei uns auf dem Hof, eine kleine Scheune.«
Wir wühlten schweigsam weiter.
Auf den ganzen Bildern von meiner Mutter fiel mir nach einer gewissen Weile etwas Entscheidendes auf.
Sie war glücklich beim reiten, auf den Turnieren, einfach im Sattel. Sie lachte viel und war überall mit einem breiten Grinsen zu sehen. Bis zu einem gewissen Punkt zumindest.
Die ältere Mathilde lachte nicht mehr auf den Fotos, am unglücklichsten sah sie auf den Turnieren aus.
»Guck mal Nick, sie sieht traurig aus. Vielleicht hat sie ja verloren«, sagte ich und gab ihm das Bild.
»Stimmt sie sieht sehr traurig aus, aber verloren hat sie definitiv nicht. Die goldene Schleife ist die Siegerschleife.« Nick fiel noch etwas auf.
»Das ist doch die Stute vom Zeitungsartikel, oder irre ich mich?«
Nick hatte recht, das war die junge Stute.
Es machte mich alles nur noch stutzig.
Warum war sie unglücklich wenn sie so ein tolles Pferd hatte und auch noch gewann?
Für mich machte das alles keinen Sinn.
Nick fand nach kurzer Zeit einen kleinen Brief.
Aller liebste Candy,
es tut weh dich mit dem Wind ziehen zu lassen.
Du durftest nicht lange auf dieser Erde weilen und dein Sohn niemals über die Wiese galoppieren sehen.
Du bist für den Sieg geboren und als liebende Mutter gestorben.
Mach's gut schöne Maus, hoffentlich bist du gut oben angekommen...
Diese Schrift kannte ich nicht und mit dem Namen Candy konnten wir erstmal auch nichts anfangen.
Dieser Brief ging mir nicht mehr aus dem Kopf und ich legte meine Prioritäten beim durchsuchen der Kisten auf Stuten und alles was mit dieser Candy zu tun haben könnte.
Ich fand einen neuen Zeitungsartikel.
»Großer Verlust - junge Erfolgsstute nach Geburt gestorben.«
Es ging um diese junge Stute die für 500.000€ von meiner Familie gekauft worden war.
»War das vielleicht Candy gewesen?«, fragte ich Nick und zeigte ihm den Artikel.
»Hmm vielleicht«, meinte er schulterzuckend.
Er wendete sich mir wieder ab und widmete sich seiner Kiste.
Er fand eine kleine Zeichnung der Stute, auf der hinten stand: »Als Candace 08 geboren - als Candy gestorben...«
»Candace 08«, wiederholte er nachdenklich.
»Was ist damit?«, fragte ich aufgeregt.
»Ich hab den Namen schon Mal gehört, aber ich weiß nicht mehr wo.«
Er überlegte weiter, kam zunächst aber erstmal nicht drauf.
Meine Kiste war leer und ich widmete mich dem Ganzen was nicht in Kisten verpackt war.
Das Erste was mir ins Auge fiel, war eine große Leinwand mit vielen Fotos von Mama auf vielen verschiedenen Pferden.
Die meisten waren Grauschimmel gewesen, aber es gab auch dunkelbraune, schwarze und fuchsfarbende. Auf den meisten Bildern sprang Mama gerade über Hindernisse oder hatte eine goldene Schleife an der Trense, aber es gab auch Bilder mit sehr hübschen Fohlen.
Ich entdeckte ein neues Bild. Es war wirklich ein idyllisches Bild auf einer Lichtung im Wald.
Das Pferd, was ich als Rocky identifizierte, schaute in die Kamera und wurde von der spätsommerlichen Sonne angestrahlt.
Ich drehte das Bild um und zu meiner Überraschung stand dort Candy und nicht Rocky.
»Guck mal, das ist Candy!« Ich zeigte ihm das Bild und er meinte plötzlich: »Conni...« Er hatte ebenfalls ein Foto in der Hand.
»...Ich weiß wo ich Candace 08 gehört habe.«
Nick zeigte mir ein Bild von meiner Mama und Sabine auf zwei Pferden. Die Pferde sahen noch ziemlich jung aus. Sabine und Mama hingegen mussten schon so um die 16 Jahre alt gewesen sein.
Es war ein unglaublich schönes Bild, denn Mama und Sabine sahen ausnahmsweise mal unglaublich glücklich aus. Die Pferde standen auf einer Wiese und grasten, Mama und Sabine lagen auf dem Bauch und ihre Köpfe waren in Richtung der Pferdehintern. Dort muss auch derjenige gestanden haben der das Foto gemacht hat. Es sah einfach unglaublich schön aus.
»Das Pferd auf dem Mama liegt ist Candace 08, hab ich recht?«. Ich dachte wirklich ich kannte die Antwort schon und war überrascht als Nick meine Aussage verneinte.
»Nicht ganz, das ist Candys Sohn. Also Candace 08 ist Rockys Mutter und jedes Mal wenn wir mit ihm auf einem Turnier waren hab ich den Namen gehört.«
»Wie jetzt? Das ist Rocky?«, fragte ich entsetzt.
»Ja genau, das ist Rocky und das auf deinem Foto ist seine Mutter, Candace. Deshalb dachtest du dass, das Rocky ist, sie waren ja echt zum verwechseln ähnlich.«
Er hatte Recht, ich hatte die beiden verwechselt und wenn man es wusste, dann lag es eigentlich auch nur auf der Hand, dass eine Blutsverwandtschaft vorlag.
Wir durchwühlten weiterhin alle Kisten und es haute mich um. Mein ganzes Leben lang belog meine Mutter mich und ehrlich gesagt war ich ein bisschen wütend auf sie. Selbst zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht ganz klar gewesen, dass Rocky Mamas Pferd war. Eigentlich lag es ja total auf der Hand, aber auf dem Dachboden, zu diesem Zeitpunkt, hatte ich ein Brett vor dem Kopf.
Ich fand eine neue Kiste, eine Kiste nur mit Candys Sachen. Eine Trense, ein Lederhalfter, ein Stallhalfter und eine dicke Mähnensträhne fiel mir zuerst ins Auge. Dort drunter lagen viele Briefe und mal wieder Zeitungsartikel.
Ich öffnete einen wunderschönen Brief und dies zu lesen war einfach nur Herzzerreißend.
Allerliebste Candy,
du gehst und ich bleibe.
Du gehst und ich reite.
Du gehst und der Wind zieht weiter...
Ich drehe mich im Kreis seitdem du nicht mehr da bist. Deine Box ist leer, dein Wiehern nicht zuhören.
Deine Nüstern ganz kalt und deine Augen für immer geschlossen...
Du gingst und ich blieb.
Du gingst und ich ritt.
Du gingst und der Wind zog weiter...
Ich spürte die Mischung aus Trauer und Wut in diesem Brief.
Es war schrecklich.
Ich musste kurz pausieren bis ich mich der Kiste erneut annahm. Ich fühlte mich auf einmal sehr unwohl und unberechtigt diese privaten Dinge zu durchwühlen. Ich laß intimste Gedanken und bewertete diese auch noch.
Ich fühlte mich zum kotzen.
Doch dann fiel mir ein, dass ich es ja anders nie so erfahren hätte - meine Mutter hätte es mir nicht gesagt, da war ich mir sicher.
Diese Kiste wurde uninteressant, es war nur noch dasselbe drinnen. Zeitungsartikel, Anteilnahme an Mama wegen Candy, Persönliche Briefe und Bilder.
Ich suchte mir eine neue Kiste.
Diese Kiste war ausnahmsweise viel kleiner und kindlicher gestaltet. Es schien so als wenn diese Kiste viel früher angelegt worden war.
Als ich die Kiste aufmachte lag oben drauf ein lilafarbenes Ponyhalfter. Es war noch dreckig, obwohl es wohl Jahrzehnte nicht mehr benutzt worden war.
Auf dem zweiten Blick fiel mir auf, dass dieses Halfter mit einem Namen bestickt worden war.
»Petit Four«, laß ich laut vor.
Mein Finger strich über die dreckige Stickerei.
Es lag wieder ein Brief in der Kiste und ich laß:
Petit Four, meine schöne Petit Four,
seitdem du weg bist tut jeder Schritt in den Stall weh.
Jeder Ritt ist nicht der selbe.
Jedes Wiehern ist nicht deins.
Es ist so als wenn die Sonne niemals wieder scheint...
Die Verabschiedung blieb aus und ich werde dich niemals wieder in meine Arme schließen können...
Ich dachte mal wieder an ein Todesfall, aber ich fand einen zweiten Brief der meinen Blickwinkel komplett ändern sollte.
Ihr Galopp, atemberaubend.
Ihr Trab, raumgreifend.
Ihre Rittigkeit, unglaublich...
So beschrieben die Preisrichter diese tolle Stute auf unserem ersten Turnier.
Mit unserem ersten Sieg.
Mit meiner ersten goldenen Schleife.
Täglich befördert sie mich bis zu den Sternen und kämpfte für mich. Diese kleine Stute hat nerven aus Stahl und ein Herz aus purem Gold.
Die Sterne brachte sie mir tagtäglich...
Ich gab ihr alles und sie gab mir noch so viel mehr...
Wen auch immer sie nun glücklich macht, tue mir ein Gefallen und reite sie bis zum Mond, sie wird dir alles und noch viel mehr geben...
Mein Gehirn brauchte ein paar Sekunden bis der Zusammenhang geknüpft war.
»Schau mal Nick.« Ich gab ihn den Brief in die Hand.
»Anscheinend diesmal keinen Todesfall, dieses Mal ein Verkauf, denke ich mal.« Nick schien genauso Ratlos wie ich, aber wenigstens hatten wir den selben Gedankengang.
Die nächsten Kisten waren alle über verstorbene oder verkaufte Pferde. Keine der Kisten waren aber so Emotional wie die von Petit Four und Candy. Es zerriss mich schon ein wenig bei dem Gedanken, dass meine Mama so einen Kummer spüren musste.
Ich fühlte mich einfach nur noch schrecklich und wollte runter gehen, ich wollte dort weg!
»Nick, gehen wir runter? Ich fühle mich unwohl und ich bin müde.«
»Ist okay Conni, so allmählich sind wir doch auch fertig und es ist glaub ich ziemlich spät.«
Gesagt getan, wir machten das Licht aus und gingen die Treppe wieder hinunter. Den Schrank schoben wir wieder vor den Durchgang und dann schlüpften wir schnell in mein Bett.
Ein Blick auf meinen Wecker, der auf dem Nachttisch stand, verriet uns, dass es schon 4:08 Uhr war. Zu spät dachten wir.
Gerade als wir aber einschlafen wollten fiel das Bild, dass über meinem Bett hing, einfach hinunter.
»Scheiße!«, rief Nick und schreckte hoch.
Das dachte ich auch, schrie es aber nicht so direkt.
Ich versuchte das heruntergefallene Bild wieder aufzuhängen. Der Nagel in der Wand hatte sich aber so verbogen und das Bild wollte einfach nicht mehr hängen bleiben.
Die Aufregung war groß und es nervte mich einfach nur noch.
Auch Nick wollte einfach nur schlafen und nahm mir das Bild aus der Hand. Er versuchte es aufzuhängen und drückte es ein bisschen zu dolle gegen den Nagel - die Pappe auf der Rückseite des Rahmens bekam ein Loch.
»Nicht so schlimm«, meinte ich und wollte es einfach neben mein Bett stellen.
Aus den Augen, aus den Sinn, dachte ich mir.
So war es aber nicht, denn als ich es hinlegen wollte fiel mir auf, dass irgendetwas zwischen dem Bild und der Rückseite geklemmt war.
»Schau mal Nick, dort ist etwas!« Ich war aufgeregt und wollte, dass er sofort guckte.
Er lag schon wieder im Bett und hatte ein Kissen auf sein Gesicht gedrückt.
»Och Conni, ich bin müde, das ist bestimmt nur das Bild.«
»Nein Nick! Das Bild hat eine andere Farbe und dieses Pappengedöns auf der Rückseite ist das nicht!«
Nick setzte sich auf und sah das Bild an.
»Conni du hast Recht, es sieht aus wie ein kleiner Zettel!« Er hörte sich auf einmal auch aufgeregt an und fing an die Bildrückseite zu öffnen.
»Sag ich ja!«, diesen Erfolg ließ ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht nehmen.
Der Bilderrahmen war schnell offen und es war mal wieder ein kleiner Brief.
Wow, war ja nur der gefühlt 100.000. an diesem Abend gewesen.
Ich faltete ihn auf und das was ich da gelesen hatte, hatte ich zu keinem Zeitpunkt erwartet und es riss mir den Boden unter den Füßen weg...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro