Zukunft
Es war ein gewöhnlicher Schultag, der 22. September 2964. Ich saß in einem kleinen kahlen Klassenraum mit aschgrauen Betonwänden, gerade hatten wir Biologie, aber ich konnte mich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren. Im Moment besprachen wir die Unterschiede von Seepferdchen und Delfinen, dazu wurden jeweiligen Modelle der Skelette herumgegeben.
Obwohl es ziemlich unnötig war, Tierarten durchzunehmen, die seit knapp dreihundert Jahren ausgestorben waren, fanden es sämtliche Lehrer in unserer Stadt ungeheuer wichtig, dass wir alle wussten, was in unseren toten Ozeanen einmal gelebt hatte.
Normalerweise fand ich das etwas interessant, aber heute wartete ich nur auf die nächste Stunde.
Nach der Pause hatten wir Geschichte, aber das klang jetzt wahrscheinlich extrem langweilig. Der Geschichtsunterricht bei unserem alten Lehrer war auch zum Gähnen langweilig gewesen. Wir hatten überwiegend über die Kriege des 20. und 21. Jahrhunderts geredet, anscheinend bestand die Zeit der letzten zweitausend Jahre hauptsächlich darin, wie sich die Menschen gegenseitig abschlachteten. Aber dennoch musste ich zugeben, dass die Zeit meiner Vorfahren auch nicht besser ausgesehen hatte: Klimakatastrophen, Asteroideneinschläge, mehrere Pandemien und ein Atomkrieg.
Nicht gerade das Beste. Hoffentlich war die Menschheit wenigstens jetzt endlich zur Vernunft gekommen, jetzt, wo wir eingebunkert in kleinen Kolonien leben mussten, weil wir die Luft so verpestet haben, dass wir sie nicht mehr atmen konnten.
Aber für mich war dieses Draußen immer noch ... faszinierend. Außerhalb von unseren sicheren vier Wänden gab es eine Landschaft, in der einmal Tiere, Pflanzen und Menschen gelebt haben, unter blauem Himmel und auf grünen Wiesen. Wie komisch diese Vorstellung war – ein blauer Himmel! – aber auf den Fotos aus dem 21. Jahrhundert sah man eindeutig einen hellblauen Himmel mit gräulichen Wolken.
Jetzt konnte ich die nächste Stunde gar nicht mehr erwarten! Mit unserer neuen Lehrerin Frau Clarssen, die wir seit Anfang des neuen Schuljahres hatten, hatten wir einen absoluten Glückstreffer gelandet: Ein Mal im Monat gingen wir mit ihr aus der Stadt und suchten Dinge aus der Vergangenheit, zu denen sie uns etwas erzählen versuchte. Manchmal gingen wir auf die Felder, selten zu den Bergen und manchmal suchten wir einfach nur um die Stadt herum. Heute aber würden wir einen Ausflug zur Küste machen.
Vor Vorfreude wurde ich ganz hibbelig. Ich konnte auf dem klapprigen Stuhl, dessen Metallbeine von einer Schicht Rost bedeckt waren, kaum noch stillsitzen. Hoffnungsvoll wanderte mein Blick zu der Uhr an unserer Wand. Das Glas war etwas fleckig und hatte an einer Stelle einen Sprung, aber man konnte die Uhrzeit noch gut erkennen.
Nur noch eine Minute! Mir entfuhr ein kleiner Freudenlaut. Meine Biolehrerin warf mir prompt einen mahnenden Blick zu. Die ganze Zeit hatte ich schon nicht aufgepasst und nun störte ich auch noch!
Leider, leider konnte sie nichts mehr dazu sagen, denn im nächsten Augenblick ertönte der schräge Ton unserer alten Schulklingel.
Heute war ich die Erste, die den Raum verließ, aber meine dreizehn Mitschüler strömten direkt hinter mir aus dem kleinen Raum heraus.
Ich steuerte zielstrebig auf die Garderobe unserer Schule zu, die sich in dem großen Eingangsbereich befand. Dieser war nur eine Tür und einen Gang entfernt. Natürlich musste ich nicht lange nach meiner Garderobe suchen. Sie war das zweite Fach ganz rechts. Ich öffnete den kleinen Kühlschrank, in dem sich alle meine Sachen befanden. Als erstes nahm ich meine Stiefel heraus. Das schwarze Leder war eisig kalt und fühlte sich sehr unangenehm an, als ich meine Füße in die alten Dinger hineinquetschte.
Bei meinem dunkelroten Mantel war es nicht besser. Während ich den Gürtel des Mantels festschnallte, erinnerte ich mich daran, dass das Tiefkühlen notwendig war. Immerhin hatte ich keine Lust, mir sämtliche Körperteile zu verbrennen, denn die Temperaturen draußen waren alles andere als angenehm. Die im Sommer lebensfeindlichen achtzig bis hundert Grad Celsius luden nicht wirklich dazu ein, den Schutz der Häuser zu verlassen.
Deswegen war es auch so besonders, die Stadt zu verlassen, denn nur in der Zeit von Mitte September bis Ende März war das überhaupt möglich. Ich musste mit Schaudern an den Mann denken, der vor zwei Jahren im Juni nach draußen gegangen war. Niemand hatte eine Ahnung, warum er das gemacht hatte. Der Mann hatte nämlich innerhalb von Sekunden einen tödlichen Hitzeschlag erlitten, es gab also keine Gelegenheit mehr, ihn zu fragen.
Ich versuchte, nicht an dieses schreckliche Ereignis zu denken und mich stattdessen wieder auf die Geschichtsstunde zu freuen.
Eilig streifte ich mir meine Handschuhe über, dann meine Atemschutzmaske, die gleichzeitig als Atemgerät wirkte und setzte mir zum Schluss meine Sonnenbrille auf.
Eigentlich war es keine richtige Sonnenbrille, sie ähnelte eher einer Taucherbrille mit dicken getönten Gläsern. Das Gummi der Tauchersonnenbrille bedeckte auch noch meinen Hinterkopf, also den Teil, der nicht von dem hohen Kragen des Mantels bedeckt wurde.
Als Letztes setzte ich mir noch das silberne Cap auf. Ich sah bestimmt so albern aus, wie meine Mitschüler, doch die glänzende Kappe reflektierte das Sonnenlicht zurück, damit unsere Köpfe nicht zu heiß wurden.
Ungeduldig warteten wir auf unsere Lehrerin. Es vergingen fünf Minuten, bis sie endlich kam. Man erkannte sie sofort. Frau Clarssen trug wie jeder Lehrer einen blauen Mantel, damit sie als solche besser erkannt wurde. So eingepackt, wie wir jetzt gerade waren, konnte man uns häufig nur an der Stimme erkennen. Die Schüler waren dazu verpflichtet, rote Mäntel zu tragen, damit sie auch als solche besser identifiziert werden konnten.
„Also, Klasse Sieben", begann Frau Clarssen und klatsche aufmunternd in die Hände, „stellt euch bitte in Dreiergruppen zusammen. Nur zu dritt durch die Schleuse, das wisst ihr ja, ich gehe als erstes und die Klassensprecher passen auf, dass sich alle benehmen, ist das klar?"
Und so wurde es gemacht. Ich stellte mich von Anfang an nach ganz hinten, denn ich war mir sicher, dass niemand freiwillig mit mir in einer Gruppe sein wollte. Ich hätte mich ja auch nach ganz vorne stellen können, um mit Frau Clarssen durch die Schleuse zu gehen - fast alle Lehrer mochten mich - aber das würde bestimmt etwas komisch rüberkommen.
Nach und nach traten die Schüler in die Schleuse. Die Schleuse war dafür da, dass man langsam an die viel höheren Temperaturen draußen gewöhnt wurde und damit die Hitze draußen blieb. Es dauerte ganze zweieinhalb Minuten, bis eine Gruppe ins Freie gelangte - eineinhalb Minuten bis man nach draußen gelassen wurde und eine Minute, bis die Schleuse weder abgekühlt wurde und die schlechte Luft von außerhalb vollständig herausgefiltert war. Aber zum Glück gab es wegen unserer kleinen Klasse nur fünf Gruppen und ich landete in Gruppe vier. Zusammen mit zwei Jungen, die ich ganz zufällig nicht mochte.
Allerdings ignorierten sie mich, was mir auch ganz recht war. Sie behandelten mich wie Luft und führten stattdessen eine rege Unterhaltung.
Na ja, eigentlich nur einer von ihnen, der andere Junge hörte nur zu und gab höchstens einsilbige Antworten.
Derjenige, der redete, war ein recht gut genährter Junge. Er war einen halben Kopf größer als ich und trug einen nigelnagelneuen Mantel. Das war auch kein Wunder, immerhin war er der Sohn unseres Bürgermeisters. Damit gehörte er zu den wenigen reichen Leuten unserer Stadt, die sich genug Essen kaufen konnten. Nur die wenigsten in unserer Stadt konnten das, die Allermeisten waren in der unteren Mittelschicht.
Auch meine Eltern waren alles andere als reich. Die von dem anderen Jungen höchstwahrscheinlich auch nicht, er trug nämlich einen abgewetzten Mantel, der ihm viel zu groß war. Der Junge war sehr dünn und seine dunkelblonden Haare wirkten ungewaschen.
Für einen kurzen Augenblick lauschte ich der Unterhaltung meiner Mitschüler.
„Glaubst du, wir finden diesmal etwas Interessantes?", fragte der dicke Junge gerade. „Wenn wir Glück haben finden wir eine Playstation 5 oder ein Nintendo Switch"
„Mhm", gab der andere Junge zur Antwort. „Vielleicht." Dabei wirkte er leicht desinteressiert.
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was eine Playstation war, von einem Nintendo ganz zu schweigen, also hörte ich lieber doch nicht zu. Stattdessen schaute ich mich in der Schleuse um. Sie war ein schlichter, quadratischer Raum mit Metallwänden, die an einigen Stellen rosteten. An einer Wand befand sich ein kleines Display, auf dem in roten Digitalzahlen die Temperatur draußen und in der Schleuse angezeigt wurde, außerdem wie lange es noch dauern würde, bis sie vollständig aufgeheizt wurden. Farben symbolisierten, wie sicher es war, nach draußen zu gehen. Gerade war die Farbe ein helles Grün, was bedeutete, dass man nach draußen durfte, aber es nicht hundertprozentig sicher war. Aber dieses hundertprozentig sicher, das mit dunkelgrün angezeigt wurde, sah man höchstens im Winter und selbst dann nicht immer.
Die Temperaturen kletterten die ganze Zeit immer höher. Von 25° C auf 30° C, von 30°C auf 35°C, von 35°C auf 40°C und von vierzig schließlich auf 50°C. Nun war es in der Schleuse so warm wie draußen.
Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Eigentlich waren wir viel zu warm angezogen, aber wenn man bei dieser Sonnenstrahlung überleben wollte, musste man seinen Körper vollständig bedecken.
Die tiefgekühlten Klamotten dampften, als sie langsam erwärmt wurden, aber der Dampf hatte eine kühlende Wirkung.
Nun öffnete sich die Schleuse. Die dreckige Luft drang sofort ein, sie war wie ein gieriger Nebel, der alles verschlang, was sich ihm in den Weg stellte.
Vorsichtig trat ich nach draußen. Die Jungs folgten mir. Als die dicken Sohlen meiner Stiefel den heißen Boden berührten, stieg eine Dampfwolke auf, die in dem gelblich-grauen Nebel verschwand. Kaum hatte ich ein paar Schritte gewagt war ich schon raus aus dem sicheren Schatten und befand mich nun direkt unter der Sonne, die wie ein riesiger Feuerball vom Himmel leuchtete. Man sah sie nicht direkt, sondern nur durch die dicken gelblichen Wolken hindurch, die schwer am Himmel hingen. Ich hatte noch nie einen wolkenfreien Himmel gesehen. War er so blau wie auf den Fotos der Vergangenheit oder hatten meine Vorfahren die Atmosphäre so durchlöchert, dass über den Wolken schon das Weltall begann? Ich wusste es nicht und würde es wahrscheinlich auch nie erfahren, denn es wurde nicht besser, im Gegenteil, es schien sogar, als würde es jeden Tag schlimmer werden.
Der Grund dafür waren die Fabriken, die immer noch illegal Energie gewonnen, indem sie Abfälle verbrannten oder mit dem mickrigen Rest Uran Atome spalteten.
Der Dampf von Atomkraftwerken war zwar weniger schädlich, aber schlecht genug, um die Wolken am Himmel dichter werden zu lassen und die Erde zu einer kochend heißen Hölle zu machen, deren Luft aus so viel Kohlendioxid bestand, dass selbst Pflanzen nicht mehr wachsen konnten.
Pflanzen wuchsen auf der Oberfläche allerdings schon lange nicht mehr, das Grundwasser war entweder nicht mehr vorhanden oder chemisch verseucht. Die Schwefelgase, die mir auch jetzt in die Nase stachen, ließen alle Pflanzen sterben. Die Tiere hatte es auch erwischt. Die allermeisten Tierarten waren ausgerottet, teils durch die drastische Erwärmung, aber hauptsächlich durch die Zerstörung ihrer Lebensräume durch Rodungen, Überschwemmungen oder wegen Verdrängung durch den Menschen. Die Insekten waren den heißen Temperaturen und den giftigen Gasen zu Opfer gefallen und im Meer war es wegen den Millionen Tonnen Müll unmöglich zu leben. Einzig und allein ein paare Reptilienarten hatten sich anpassen können, aber die konnte man an zwei Händen abzählen. Angeblich konnte sich die Natur erholen und die Tiere sich anpassen, aber im Moment sah es nicht danach aus, als würde sich in naher Zukunft etwas ändern.
Ich schaute mich um. Es war gleißend hell, und das obwohl ich die Tauchersonnenbrille aufhatte. Wie hell war es wohl ohne die Brille?
Um ehrlich zu sein hatte ich keine Lust, es herauszufinden. Also behielt ich die Brille lieber auf.
Ein erbärmlicher Gestank erfüllte die Luft. Die schwarze Maske, diemeinen Mund schützte, filterte zwar die Schadstoffe heraus, aber der Schwefelgeruch war jedoch unverkennbar und ließ sich nicht gut filtrieren.
Plötzlich gab es ein knackendes Geräusch. Erschrocken drehte ich mich um. Aber es war nur die Schleusentür, die sich langsam schloss. Die Jungen hatten es auch bemerkt. Sie liefen mit schnellen Schritten zur Küste, die einen halben Kilometer von unserer Stadt entfernt war.
Irgendwie war es schon seltsam. Das Meer in Süddeutschland. Keine zwanzig Kilometer von den Alpen entfernt. Keiner wusste genau, wie es dazu kommen konnte. Der Hauptgrund soll gewesen sein, dass die Menschen aus Verzweiflung ihren Müll im Marianengraben versenkt haben, einer elf Kilometer tiefen Unterwasserschlucht. Das ganze Wasser daraus hatte sich weit verteilt und ganze Länder unter Wasser gesetzt.
Ein weiterer Grund war, dass es kein Eis mehr gab. Die Antarktis war ein belebter, aber auch vulkanisch aktiver Kontinent, das Nordpolarmeer war nur noch ein Meer ohne Eis und selbst auf dem Mount Everest war keine Schneeflocke mehr zu finden.
Etliche Asteroideneinschläge hatten mehr und mehr Wasser auf die Erde gebracht, zwar nicht viel, aber genug.
Ich dachte darüber nach, als ich langsam zur Küste ging. Wie hatten die Menschen den Klimawandel nur so vernachlässigen können? Wieso hatten sie nicht versucht, etwas zu verbessern? Ihr Leben zu verbessern, es nachhaltiger zu machen? Jetzt mussten wir in so einer Hölle leben und es schien unmöglich, noch irgendetwas zu ändern.
Ich versuchte, meine verzweifelten Tränen zurückzuhalten und mich stattdessen mit irgendetwas abzulenken. Ich hielt inne, als ich ein Geräusch vernahm. Es war ein leises Surren, das hinter mir erklang. Ich drehte mich abrupt um und versuchte die Quelle des Geräuschs auszumachen. Kam es aus der Stadt? Ich ließ den Blick über meine Heimat schweifen. Häuser und überdachte Gänge reihten sich aneinander, hin und wieder gab es einen Turm, von dem aus die Polizei nach den illegalen Fabriken suchte. Die Häuser waren lediglich Villen von reichen Leuten, wie zum Beispiel dem dicken Jungen von vorhin.
Die ärmeren Leute wie ich lebten in großen, überdachten Straßen mit Ein- bis Drei-Zimmer Wohnungen. Ganz vorne befand sich die Schule, links davon der große Versorgungstrakt der Stadt, die unsere Vorfahren München genannt hatten. Die meisten bezeichneten sie jetzt aber einfach nur als die Deutsche Kolonie.
Der Versorgungsteil bestand aus mehreren riesigen Kuppeln, in denen Pflanzen wuchsen. Lebensmittel wurden in diesem Teil hergestellt, die Nutzpflanzen produzierten nebenbei auch noch den Sauerstoff, den wir in der Stadt benötigten. Der Überschuss an Sauerstoff wurde auch gerne nach draußen geleitet, damit Leute wie wir, die sich nach draußen wagten, nicht sofort erstickten.
Außerdem ließen die Leute aus dem Versorgungstrakt gefiltertes Kohlendioxid von draußen ein, damit das Kohlendioxid draußen etwas weniger wurde. Das half zwar nicht, um die Luft wieder sauber zu bekommen, aber wenigstens brachte es etwas.
Kam das Geräusch aus den Lüftungsschächten? Nein, das Surren klang viel weiter entfernt. Ich ging etwas weiter, um besser die Stadt zu überblicken. Etwa zweihundert Meter vor der Stadt war ein Damm aufgebaut, der das Meerwasser, das in der Regenzeit im Juli bis August anstieg, abhalten sollte, die Stadt zu überschwemmen. Ich kletterte darauf – ich musste ja sowieso darüber – und blickte von dort aus über die Stadt, die tiefer gelegen im Tal lag. Mehrere Kilometer dahinter waren die Alpen. Jetzt wusste ich, dass das Geräusch von dort kam. Die Berge glänzten dunkelblau, wegen den abertausenden Solarzellen, die dort aufgestellt waren. Ohne Menschen, Tiere und Wälder hatte man die Berge für Energiegewinnung genutzt. Einige Windräder waren auch aufgestellt worden, sie ragten wie weiße Spieße zwischen den Wipfeln auf.
Als im nächsten Moment die Schleusentür aufging und die Klassensprecher heraustraten, wandte ich mich ab und eilte zu meiner Klasse, die bereits zum Strand gegangen war. Eigentlich war es einfach nur die Landschaft, die ins Meer überging, kein richtiger Strand.
„Da bist du ja endlich, ich hab mir schon Sorgen gemacht!", empfing mich Frau Clarssen in einem säuerlichen Tonfall. Ich entschuldigte mich und teilte ihr mit, dass die Letzten gleich hinter mir sein müssten.
Etwas unbeholfen stand ich kurz darauf da und wusste nicht recht, was ich tun sollte. Schließlich entschied ich mich, zu der Mädchengruppe hinüberzugehen, die in der Nähe des Wassers hockte und sich etwas anschaute. Ich lugte über sie hinweg und schaute mir an, was meine Mitschülerinnen gefunden hatten. Es war – wie hieß das noch gleich? – eine Art Puppe. Sie wirkte alt und gebrechlich. Ihr Körper trug keine Kleider, ein Großteil ihrer blonden Plastikhaare war herausgerissen, eine der steifen Hände fehlte und an der Taille fehlte ein Stück ihres Kunststoffkörpers. Das Gesicht hatte sehr menschliche Züge, war aber zerkratzt, die aufgemalten Augen glotzten uns mit starrem Blick an, der übertrieben pink geschminkte Mund war zu einem Lächeln verzogen. Die kleine Stupsnase war verbogen und der Glitzerpuder auf den Wangen der Mädchenpuppe blätterte ab.
„Ich glaube, die heißen Barbiepuppen", hörte ich mich murmeln. Die Mädchen drehten die Köpfe zu mir herum.
Augenpaare funkelten mich durch Tauchersonnenbrillen an.
„Wer hat dich denn gefragt, Estella?", blaffte ein Mädchen.
Estella – das war ich – wich einen Schritt zurück. Das Mädchen stand auf, um zu zeigen, dass es größer war als ich. Ich wusste, dass es Katrina hieß. Sie war die Oberzicke aus meiner Klasse und mit allen Mädchen aus meiner Klasse befreundet. Nur mit mir nicht. Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, mich nicht zu mögen, und das, obwohl ich immer nett zu ihr war. Vielleicht mochte sie mich nicht, weil ich recht gut in der Schule war - besser als sie - oder weil mein Vater mal für ihren gearbeitet hatte. Als mein Vater wegen unseren Geldsorgen um mehr Gehalt gebeten hat, hat Katrinas Vater ihn kurzerhand gefeuert.
Seitdem hatte ich nicht mehr versucht, Katrinas Freundin zu sein. Ich hatte sie nämlich gebeten, noch einmal mit ihrem Vater zu sprechen, doch sie hatte mich nur ausgelacht und gemeint, dass sie die Entscheidung ihres Vaters gut fände, da er von vorneherein Leuten wie mich oder meinen Vater nicht anstellen soll.
Keine Ahnung, wie ein Mensch nur so herzlos sein konnte, aber bei Katrina lag diese Herzlosigkeit wahrscheinlich in der Familie.
Ich wich noch einen Schritt zurück und sagte „Sorry", und eilte schnell davon. Es war sinnlos, mit Katrina zu streiten, sie machte einen fertig und wenn sie ihrem Vater sagte, dass jemand mit ihr stritt, konnte er einem die Wohnung kündigen, er war nämlich der Manager für die Wohnungsverteilung der Stadt. Meiner Familie zu Liebe gab ich einfach immer nach und sagte nie etwas Gemeines zu Katrina. Normalerweise ging sie danach trotzdem noch mal auf mich los – wahrscheinlich zum Spaß –, doch zum Glück kamen gerade die Klassensprecher und Frau Clarssen begann mit dem Unterricht.
Ich hörte mühsam zu, denn es fühlte sich gerade so an, als ob ein Loch an der Stelle wäre, wo mein Herz sein müsste. Jedes Mal, wenn ich mit Katrina stritt, wurde das Loch größer, nicht nur, weil sie gemeine Dinge sagte, sondern hauptsächlich weil die anderen dabeistanden und nichts dagegen unternahmen. Einige schauten entschuldigend drein, wenn es keiner außer mir sah, aber trotzdem machten sie nichts. In der Klasse hatte ich kaum Freunde. Meine beste Freundin war letztes Jahr in die Antarktis gezogen, weil das Klima dort kühler war, allzu gerne wäre ich mitgekommen. Doch meine Eltern konnten es sich nicht leisten, die Wohnungen in der Antarktis waren teuer.
Seit meine Freundin weg war, tyrannisierte Katrina mich, wahrscheinlich erst seit dann, weil es einfacher war, eine Person fertigzumachen, die allein war.
Der Unterricht wurde aber cool wie immer und meine Laune bessertemit jeder Sekunde.
Als erstes sollten wir uns in Zweiergruppen teilen. Ich kann mit der Klassensprecherin in ein Team, mit ihr kam ich relativ gut klar.
Wir sollten einen möglichst seltsamen Gegenstand finden, der nicht allzu weit entfernt im Meer trieb. Das Meer war eher ein Teppich aus Müll und das Wasser war regelrecht darunter verschwunden. Einzig und allein die wellenartigen Bewegungen des Müllteppichs wiesen darauf hin, dass es dort Wasser gab.
Eine Dunstwolke schwebte immer über dem Meer, denn das Wasser verdunstete stetig, nur um als toxischer Regen wieder herunterzukommen.
Die Klassensprecherin Noemi und ich fanden einen alten Gummireifen mit dem Durchmesser von fast einem halben Meter. Mit ihrer großen, verrosteten Grillzange versuchte Frau Clarssen, den Reifen aus dem Wasser zu bekommen, aber da das Gummi auf dem kochend heißen Boden schmolz, warf sie ihn wieder zurück ins Meer. Sie erklärte, dass das ein Autoreifen war. Ein Auto war das Fortbewegungsmittel unserer Vorfahren, das auf vier Rädern fuhr und mit Benzin angetrieben wurde. Benzin wurde aus Erdöl hergestellt und da es das nicht mehr gab und die Stromgewinnung für elektrische Autos wegen der gespaltenen Menschheit schwierig war, hatte man die Autos abgeschafft.
Die meisten Menschen blieben auch ein Leben lang in ihrer Stadt, Urlaub zu machen lohnte sich nicht mehr. Die Welt war so verdreckt, zugemüllt und überschwemmt, dass keiner mehr reisen wollte und wenn man umzog, reiste man in Helijets, einer Art Mischung aus Flugzeug und Hubschrauber.
Wir fanden sogar ein Auto, naja, ein kleines. Es war etwa so groß wie meine Hand und hatte ein Gesicht. Große aufgemalte Augen prangten auf der Windschutzscheibe.
Frau Clarssen erklärte, dass dieses Auto ein Spielzeug für kleine Jungen war und nicht wirklich fahren konnte, so wie ein richtiges Auto.
Wir fanden noch eine Zahnbürste, allerdings eine aus Plastik, die nicht elektrisch war, dann eine goldene Brosche mit einem Löwen, auf dem in verwitterter, fein geschwungener Schrift das Wort Gryffindor stand, zu der unsere Lehrerin nicht sagen konnte, was es war.
Aber bevor sie uns etwas über den Glasbehälter mit der wabernden Flüssigkeit darin erzählen konnte, den Katrina entdeckt hatte, zogen gelblich-graue Wolken am Horizont auf. Wir schreckten auf, denn wir alle wussten, was das war: extrem gefährlicher Schwefelregen, der alles wegätzte, was er berührte.
„Alle schnell zu den Schleusen und Notausgängen", rief Frau Clarssen bestimmt und trieb uns in Richtung Damm. Schnell liefen wir zurück in die Stadt, denn wenn der Regen uns erwischte, stand es nicht gut um uns.
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