30| Unser Weg in den Tod
Zuvor hätte Hector sich nicht für einen emotionalen Menschen gehalten. Doch es war das vierte Mal an diesem Tag, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand, ein tränennasses Gesicht und zitternde Finger, mit denen er sich über die Augen fuhr.
"Das ist eine Falle", sagte Jona. "Es muss eine Falle sein."
Lola warf den Kopf in den Nacken. "Was, wenn nicht?"
Jona zögerte. "Es geht hier nicht um Menschlichkeit, es geht um Logik. Wie sicher kannst du dir sein, dass euer Freund noch am Leben ist?"
Sie schüttelte sich. "Gar nicht."
"Das ist ein Trick, sie wollen dich zu ihnen locken, Hector. Lass dir nichts einreden, ich flehe dich an! Glaub Stone und ihrer Bande aus Verrückten nicht auch nur ein einziges Wort."
Hector seufzte schwer. "Aber er hat gelebt, als wir gerannt sind", stotterte er. "Lola, du hast es doch auch gesehen oder nicht? Bewusstlos, aber lebendig."
"Ich habe nichts mehr gesehen", murmelte sie. "Ich habe versucht unsere Ärsche zu retten, nur damit wir sie im Nachhinein wieder in die Scheiße tragen konnten. Bescheuert, wenn man genauer drüber nachdenkt."
"Wenn ich etwas sagen dürfte", warf Becca ein. "Ich denke, Raum 50032 aufzusuchen, wäre eine denkbar schlechte Idee. Egal, was wir tun, wir gehen nicht dorthin."
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Raum 50032 ist einer von zwei Folterräumen. Da wollt ihr nicht gegen einen Clan Wissenschaftler kämpfen, die ihre Mission vor Moral stellen."
Hector schluckte. "Aber, wenn Zach lebt? Was werden sie dann tun? Wenn wir nicht kommen, meine ich."
Jona zuckte angespannt mit den Schultern. "Dann sehe ich absolut keine Hoffnung für ihn."
Lola drehte sich auf ihrem Hocker im Kreis. In ihrer Wohnung tat sie das auch häufiger. Hector hatte sie dabei beobachtet. Jedes Mal, dass sie ihre Hausaufgaben machte, rollte ihr Bürostuhl durch den Raum. Es half ihr wohl beim Nachdenken.
Doch nie hatte sie dabei so erschöpft ausgesehen.
"Also...", setzte sie an. "Müssen wir Stone aus dem Zimmer locken?"
"Das funktioniert doch nie", grummelte Hector. Er war unendlich müde.
Da knackte es erneut. Wieder fuhren ihre Blicke gen Zimmerdecke. Und eingeleitet von einem Rauschen begann eine weitere Person zu sprechen. Nicht Dr. Stone. Weit schlimmer, als sie.
"Ich glaube, dass du möglicherweise nicht so überzeugt bist, wie ich es mir vorgestellt habe", sagte die brüchige Stimme. "Also nimm diesen Hinweis als eine weitere Einladung hin, deinen Freund zu retten."
Es dauerte eine Weile lang, bis die Person weitersprach. "Hector." Er zuckte zusammen. "Bitte."
Er hatte die Stimme noch nie dermaßen verzweifelt gehört, doch er konnte sich ausmalen, dass es dafür einen Grund gab. Rau, hauchig, belegt.
Zach war durch die Hölle gegangen und man hörte es ihm an.
"Oh mein Gott", wisperte Lola in ihre gefalteten Hände. Jona sah zu Hector, der entgeistert zurückstarrte.
"Ist er - das?"
Hector und Lola nickten fast zeitgleich rapide. "Zu hundert Prozent."
Becca stöhnte auf. "Das glaube ich jetzt nicht."
"Tut mir leid, aber es ist so", fauchte Lola. "Was machen wir jetzt?"
"Was ist, wenn das nur eine Tonaufnahme war?", warf Jona ein.
"Klang nicht danach." Becca schüttelte den Kopf. "Das ist doch ein schlechter Scherz."
"Von wem genau?"
"Keine Ahnung, Gott vielleicht?" Sie seufzte. Jona verdrehte die Augen.
"Ist das jetzt der Zeitpunkt, um in Selbstmitleid zu ertrinken? Die Frage ist, ob wir ihnen trauen können, ob es sich lohnt, unser aller Leben auf's Spiel zu setzen?"
Hector schluckte.
"Versteht mich nicht falsch", fuhr Jona fort. "Aber wir müssen abwägen, ob Zach nicht auch sterben würde, wenn wir auftauchen."
Lola atmete tief durch. "Ich meine...Wenn schon. Das würde ja bedeuten, nie wieder Abschlussprüfungen." Sie grinste schwach.
Hector schloss die Augen. "Du bist unmöglich."
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich versuche nur, die Stimmung zu erhellen."
"Dann hör auf damit!" Er sprang auf. "Ist dir nicht klar, was das bedeutet? Wir werden sterben. Jeder hier. Und es wird kein schöner Tod, egal was wir tun."
"Was spricht dann dagegen, Raum 50032 einen kleinen Besuch abzustatten?" Lola verschränkte die Arme. "Du spendest dein Herz an einen alten Sack, Becca hier wird abgeknallt, ich auch und was sie mit Jona machen werden...keine Ahnung, genauso uncool wird's allemal."
Es blieb Still. Der Raum war erfüllt von Angst, Anspannung und einer unausgesprochenen Wut.
"Na schön", murmelte Jona. "Gehen wir eben und tun so, als würden wir euren Freund retten."
Er richtete sich auf. "Aber such dir wen anders, der dich durch die Gegend schleppt."
Lola spähte zu Hector. Der winkte ab. "Du hast selbst gesagt, dass meine Kondition dir fragwürdig erscheint. Ich kann das nicht. Und ich hab auch keinen Nerv dafür."
"Ich könnte dich Huckepack nehmen", schlug Becca vor. "Dann gehen Lola und ich vor, ihr lauft mit ein wenig Abstand hinten. So haben wir Rückendeckung", wies sie Jona und Hector an.
"Wie wäre es, wenn Lola einfach auf ihrem Stuhl durch die Gegend rollt. Spart uns allen die Skoliose." Lola streckte Hector die Zunge raus, bevor sie sich zur Tür bewegte.
"Ja, das könnte funktionieren."
Auf einmal ging alles ganz schnell. Becca und Lola verschwanden in den Fluren, getaucht in das blaue Licht, das sie verschlang, wie ein wildes Tier des Ozeans.
"Du kennst den Weg?", fragte Hector Jona, der ihn aus traurigen Augen anstarrte. Er wirkte merkwürdig ängstlich. Und es war keine Angst, die von Gefahr zeugte. Es war eine Angst, die Konsequenzen fürchtete.
Alyssa hatte ihm einst beigebracht, beides zu unterscheiden. Denn eines konnte nützlich sein, das andere gefährlich.
"Ja", sagte Jona und räusperte sich. "Ich weiß, wo das ist."
Angestrengt starrte er an Hector vorbei und begann auf und ab zu laufen. Er zitterte am ganzen Körper.
"Das ist doch echt nicht zu fassen", murmelte er und hob den Blick. "Wir laufen direkt in unseren Tod. Fünf Jahre des Versteckens und jetzt laufe ich ihnen bereitwillig in die Arme."
Hector packte ihn am Arm und zog ihn an sich. "Jona!"
Er hielt inne. "Was?"
"Wir werden nicht sterben. Und wenn schon...man sieht sich wieder. Im Himmel vielleicht."
"Oh Hector", wisperte Jona und strich über seine Hand. "Ich werde im Himmel nicht auf dich warten. Ich wandere von der einen Hölle in die nächste."
Er schluckte. "Da kannst du dir sicher sein."
Hector runzelte die Stirn. "Wenn jemand in die Hölle kommt, dann doch hoffentlich Stone."
Jona lächelte gequält. "Du kannst mit Lola auf die Erde blicken. Und vielleicht daran vorbei. Und vielleicht, ganz vielleicht, kann ich euer winken von unten sehen."
"Quatsch."
"Ich verdiene dich nicht", murmelte Jona. "Wieso musst du so ein Engelchen sein. Und wieso bin ich es nicht?"
Hector erschauderte.
Und schließlich beugte Jona sich vor und drückte seine Lippen auf Hectors. Das Kribbeln in seinem Bauch breitete sich auf jeden Zentimeter seiner Haut aus. Ein Feuerwerk, das knackte und knisterte.
Und so schnell der Moment gekommen war, so verschwand er auch wieder. Jona wich zwei Schritte zurück, während Hector wie paralysiert da stand und ihn ansah.
"Sorry", sagte Jona. "Das war...seltsam."
Er lächelte, kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
"Aber ich wollte das vor meinem erbärmlichen Tod noch unbedingt tun."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro