Tierische Pläne 2
Lukas hat angerufen.
Ob ich mich noch an die Bett-Aktion bei Ikea erinnere.
Ich lüge.
"Naja, wie auch immer, kannst du mal bei mir vorbeikommen?"
Wunderbar.
Er will mir ein schlechtes Gewissen machen.
Und braucht meine Hilfe.
Hinsichtlich unseres Gespräches vor fünf Tagen ist das kein gutes Zeichen.
Auf der Fahrt zu ihm überlege ich, ob ich etwas mitbringen hätte sollen.
Zur Selbstverteidigung.
Oder zum Essen.
Ich fühle mich in jeder Hinsicht unvorbereitet auf das, was kommt.
Im Aufzug wird mir mulmig.
Außerdem habe ich unten im Auto noch gegoogelt, wie gut ausgestattet deutsche Krankenhäuser mit Gegengiften sind.
Schlecht bis gar nicht.
Falls ich heute von einer Schlange angefallen werde, dann hilft nur eins.
Augen zu und (leise) schreiend wegrennen.
Ich drücke die Klingel.
Lukas' Apartment kann man sich ungefähr wie den Showroom eines teuren Möbelhauses vorstellen.
In Dunkelblau und Schwarz.
Obwohl, Lukas nennt es 'Ozean'.
Nicht Dunkelblau.
O-z-e-a-n.
Wenn ihr dachtet, ich wäre extra...
...voilà.
Lukas.
In Kursiv.
Plötzlich wird die Tür ruckartig einen Spalt breit aufgerissen.
"Schnell.", zischt Lukas.
Eilig quetsche ich mich zu ihm hinein.
Die Tür wird sofort wieder zugeschlagen.
"Was zur Hölle ist hier los?", flüstere ich.
"Warum flüsterst du?"
"Du flüsterst doch auch."
"Nein?", zischt Lukas verwirrt, dreht sich suchend zweimal im Kreis und dampft anschließend im Laufschritt Richtung Wohnzimmer ab.
Mal ganz von Lukas' komischen Verhalten abgesehen, kommt mir die Situation mehr als flüster-würdig vor.
In Dokumentarfilmen machen sie das auch, wenn der Tiger ganz nah da ist.
Und genau diese Art von Anspannung durchlebe ich gerade.
Lukas verschwindet gerade in der Dunkelheit seines Korridors.
Ich seufze resigniert.
Und muss husten.
Die Luft hier ist so dick, man könnte sie mit einem Messer schneiden.
Finnische Sauna.
War jemand schon einmal in einer finnischen Sauna?
Lukas' Appartement ist wärmer.
Ich kann ihn irgendwelche Boxen herumschieben hören.
Dann erscheint sein Kopf im Türrahmen.
"Jetzt komm schon!
Und zieh' die Schuhe aus.
Ach ja, mach die Tür dann hinter dir zu. Ich versuche hier 28° zu halten."
------------
Vorsichtig pirsche ich mich durch den verdunkelten Korridor.
Als ich die Tür zum Wohnzimmer sanft aufstoße, begrüßt mich folgendes Szenario:
Lukas kauert in schwaches Blaulicht getaucht über einem Glaskasten.
Und starrt auf seinen Handrücken.
Außerdem murmelt er in einer ungewohnt hohen Stimme komische Sachen vor sich hin.
Ich schöpfe aus meinem großen Pool an unnützem Wissen aus Filmen und Serien.
Und schlussfolgere, dass er übergeschnappt ist.
Oder den Ring der Macht gefunden hat.
Vorsichtig bahne ich mir einen Weg durch ein Meer aus Kartons und Plastikverpackungen.
Beim Näherkommen entpuppt sich der Hauch von Nichts auf Lukas' Handrücken als winzige, feingliedrige Kreatur, die wankend und wippend auf seinem kleinen Finger spaziert.
Ich knie mich auf den Boden neben ihm.
...
Dieser.
Idiot.
Hat sich eine Gottesanbeterin zugelegt.
"Gut, nicht?"
Seine Augen kleben an dem kleinen Insekt.
Ich soll mir einen Namen überlegen.
Und ihm helfen, das Terrarium einzurichten.
Ich bin heilfroh.
Alles ist besser als Schlange.
Wippende Skelett-Viecher sind mir lieber.
Aber bevor ich hier irgendetwas mache, werden die Vorhänge und Fenster geöffnet.
------------
So.
Ich bin mit Spezialerde und toten Fruchtfliegen bedeckt.
Mir reichts.
Lukas hat sich in der Zwischenzeit dem angenehmeren Part gewidmet.
Er schneidet künstliche Blumen und Äste auf unterschiedliche Längen zu.
Außerdem muss ich ihn schon die ganze Zeit über davon abhalten, dem armen Baby-Krabbeltier Namen wie "Emilia", "Amanda", oder "Kassandra" zu geben.
---------
Endlich habe ich den Trick mit dem Thermostat und dem Luftfeuchtemesser raus.
Kassandra wird nicht sterben.
(Wie ihr seht, konnte ich mich nicht durchsetzen).
Und Lukas kann darauf verzichten, seine komplette Wohnung auf Regenwald-Temperaturen hochzuheizen.
----------
"Kassandra" passt vielleicht doch ganz gut.
Sie hat so eine... Art.
Wie sie den Fruchtfliegen im Flug die Köpfe abreißt.
Erinnert halt einfach an eine Kassandra.
----------
Lukas zeigt mir ein Bild, wie sein Goldstück in ein paar Monaten aussehen wird.
Nein. Danke.
So groß wie meine Handfläche.
Aber Lukas ist glücklich.
Das ist die Hauptsache.
Außerdem findet er die Tatsache toll, dass Gottesanbeterinnen das Männchen nach der Paarung fressen.
Ich finde es besorgniserregend, dass Lukas das toll findet.
Versuche ihm bewusst zu machen, dass er selbst ein Männchen ist.
Er zuckt mit den Schultern.
Vielleicht haben diese selbstzerstörerischen Anwandlungen etwas damit zu tun, dass seine Mutter drei Scheidungen hinter sich hat.
----------
So.
Um euch ein virtuelles Bild von Lukas' Beziehung zu Kassandra zu zeichnen:
Er steckt keineswegs mit Leidenschaft bis zu den Ellbogen in Erde und Lebendfutter.
In Gegenteil.
Gerade sehe ich ihm dabei zu, wie er mit schwarzen Einmal-Handschuhen und Pinzette.
Und mit einem Lächeln auf den Lippen.
Panische Fruchtfliegen Kassandra zum Fraß vorwirft.
Die Szene hat etwas grotesk grausames an sich.
Außerdem finde ich, dass der Name "Kassandra" unheimlich viel über Lukas aussagt.
Zum Vergleich:
Meine Vorschläge waren "Betti" und "Flipp".
----------
Ich bin wieder Zuhause.
Micha hat einen hysterischen Lachkrampf erlitten, als ich ihm von Kassandra der Gottesanbeterin erzählt habe.
Kai macht sich Sorgen.
Aus seinem Freundeskreis ist Lukas der einzige, dem er es zutrauen würde, zu einem kannibalistischen Rieseninsekt eine emotionale Bindung aufzubauen.
Naja, wenn man es so ausdrückt, ist die Angelegenheit doch recht besorgniserregend.
Habt ihr Erfahrungen mit Reptilien/Insekten/Käfern/Tausendfüßlern?
Wenn ja, erzählt mir eure (Grusel-) Geschichten!
So Kinders, jetzt muss ich Urmel bürsten.
Inzwischen läuft das bei uns nicht mehr unter Fellpflege, sondern ist zur medizinischen Maßnahme im Sinne aller Beteiligten geworden.
Das knifflige daran ist, dass man Urmel davor eigentlich betäuben müsste.
Letztens ist sie Kai ins Gesicht gesprungen.
Seitdem stecken wir ihren Kopf unter ein Handtuch.
Da hält sie relativ zuverlässig still, obwohl das auch immer so eine Glückssache ist.
In diesem Sinne:
Arrividerci meine treuen Gefährten!
Auf in den Kampf! Lasst euch nicht unterkriegen, auch wenn euch übergewichtige Pommesbomberkatzen die Augen auskratzen wollen, und euer bester Freund langsam aber sicher zum Marvel-Bösewicht mutiert!
Prost, Schiff Ahoi und alles Liebe!
Euer Joon
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro