Ohne Titel
Ohrenbetäubende Stille drückt auf meine Ohren. Sie droht mich umzuwerfen, zu ersticken, zu ertränken. Von meinen Ohren aus breitet sie sich aus, kriecht in meinen Kopf wie ein tödlicher Parasit, nistet sich ein und verdreht meine Gedanken.
Doch nicht auf die Siebte-Wolke-Weise, diese Verdrehung möchte mich ruhigstellen, ruhiger, als jedes Morphium es könnte. Ein lautes Donnern reißt mich aus meiner Stille heraus. Es wird leiser, schwillt wieder an, wird zu einem Klopfen. Einem Klopfen an meiner Wohnungstür. Ich atme tief durch, versuche die Stille unter Kontrolle zu bekommen und gehe zur Tür.
Robert aus dem dritten Stock sieht mich verzweifelt aus geröteten Augen an, ein Blick auf seine zitternden Hände und vergrößerten Pupillen verrät mir mehr über seinen Zustand als die treffendsten Worte es vermöchten. Dank Robert brauche ich keinen Kalender mehr. Jeden Montagmorgen, kurz vor sieben, steht er hier. Noch nie geklingelt, immer nur mit dem Knöchel fünfmal gegen die alten Spanplatten geklopft.
Die Routine setzt ein, ich greife in die oberste Kommodenschublade, ziehe eine Schachtel Zigaretten hervor, gebe sie dem, der doch so viel mehr will und so viel weniger wollen sollte. Aber im Prinzip will er doch auch nur das, was alle hier wollen. Für eine Zeit, selbst wenn sie noch so kurz ist, Glück verspüren. Ein Gefühl, das in diesem nach Linseneintopf riechenden Haus längst eine verblasste Erinnerung geworden ist. Robert nickt mir zu, ich nicke ihm zu und er verschwindet im Treppenhaus.
Meine Hand umfasst automatisch die Klinke und will die Tür zuziehen. Kurz überlege ich, ob ich dem eben Gegangenen hinterherrufen, ein Gespräch beginnen soll, doch der Automatismus übernimmt, die Chance auf eine Unterhaltung wird im Keim erstickt.
So wie jeden Montagmorgen um kurz vor sieben.
Ich gebe mich dem Automatismus hin, lasse ihn die Kontrolle über mich übernehmen. Ich tausche meinen Pulli gegen ein weißes T-Shirt, meine Jogginghose gegen eine saubere Jeans, den Schlüssel in meiner Hand gegen eine Tasse Kaffee. Die eben noch aufkeimende Sympathie zu Robert gegen die Antipathie gegenüber dem Alltag.
Beim Verlassen der Wohnung fällt mir meine abgetretene Welcome Home-Fußmatte ins Auge. Wie so vieles in meinem Leben ist auch sie eine Lüge, mein „Home“ möchte mich nicht willkommen heißen. Es will die Leute nicht dazu bringen, in alte Katzenpisse zu treten oder aufgrund der zerbrochenen Fenster dauerhaft zu frieren, ein Zustand, der mich mein Leben lang schon begleitet.
Doch bevor die Kälte und mit ihr die Stille Einzug in meinen Körper halten kann, wende ich mich der Treppe zu. Ich überspringe die letzte Stufe, stoße die Haustür auf und sauge das Sonnenlicht in mich hinein, das trotz der frühen Morgenstunden schon über die Dächer der Stadt gekrochen kommt, als wollte es sich damit für all die Schatten entschuldigen.
Die Schatten, die diese Stadt beherrschen, unterwerfen, wie eine feine Staubschicht auf den Schultern der Menschen liegen.
Eines Tages werden wir auch diese Schatten sein, unbemerkt die Luft füllen und nur auf Materiellem sichtbar sein, ein sanfter Abklatsch unseres eigentlichen Daseins. Unserer eigentlichen Existenz, die zu diesem Zeitpunkt nur eine weitere in diesem Meer aus verloren gegangenen Existenzen sein wird.
Meine Schritte hallen in den Weiten der Bahnhofshalle nach, die teils gesprungenen Marmorfliesen erzeugen einen Klang, der zu schön für diesen Montagmorgen um kurz nach sieben scheint.
Anzugträger mit Aktentasche eilen an mir vorüber, wollen ihre Bahn nicht verpassen, wollen die Chance für ihren großen Durchbruch nicht verpassen. Ich werde in der Masse unsichtbar, lasse mich von der Menge treiben und breche doch aus, tanze aus der Reihe.
Die Gleise und Abfahrtszeiten ignorierend öffne ich den Raum neben den Toiletten. Mein Anzug ist die blaue Schürze, meine Aktentasche der Wischmopp und meine einzigen Chancen für den Tag ein paar Cent Trinkgeld. Auf irgendeinem Gleis fährt irgendein Zug ein. Es ist irrelevant, was für einer, welche Ankunftszeit, in welchem Waggon sich das Bordbistro befindet.
Sie alle haben dieselben Eigenschaften, sie alle sind abgefahrene Züge, vollgestopft mit ungenutzten Möglichkeiten, welche ich zu ergreifen nie die Alternative hatte. Also fülle ich heißes Wasser in meinen Eimer und versuche nicht an die folgenden Stunden zu denken, wenn die Schatten von mir Besitz zu ergreifen versuchen.
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