Verdrängung
27-Verdrängung
Zeit: Sommer 79 / Ort: Capitol Distrikt
Den ganzen letzten Tag war ich Seho mehr oder weniger erfolgreich aus dem Weg gegangen. Ich hatte ihn nur zum Essen gesehen und abends im Gemeinschaftsraum, während Sannie und ich unsere Schachstunde nachholten. Ich hatte alles getan, um nicht allein mit ihm zu sein, hatte jeden Blick gemieden und war abends auch noch eiligst in meine Koje verschwunden. Ich hatte wirklich alles getan, um mich der neuen Wahrheit nicht stellen zu müssen und weil es so gut funktioniert hatte, läutete ich den nächsten Tag gleich wieder auf diese Weise ein.
Dieses Mal hängte ich mich an Sannie, folgte ihm auf Schritt und Tritt und war für alles zu begeistern, was er tat. Das machte ihn zwar misstrauisch, wie sein gelegentliches Stirnrunzeln verriet, aber er kommentierte es nicht. Geduldig erklärte er, was im Lager alles zu tun war, wie sie es für gewöhnlich aufteilten und wer welche Stärken besaß. Von ihm erfuhr ich etwas mehr über Victor und Sun, ihre Zeit beim Militär und dass sie deswegen meistens für Patrouillengänge eingeplant waren, allerdings immer mit einem der anderen, niemals zusammen. Wir plauderten ein wenig, aber es war deutlich zu spüren, dass Sannie bei allem, was die Bewohner hier betraf, am liebsten unverbindlich blieb, erst als ich nach Jason fragte, verstummte er plötzlich und sah mich an. Das Leichte und Fröhliche hatte sich urplötzlich verabschiedet.
„Er war der Anführer dieser Gruppe, sagte Seho", half ich ein wenig nach.
Santiago seufzte leise. „War er, ja. Und ja, ich kannte ihn, aber nicht in seiner Funktion hier. Ich stieß erst nach ihm zu dieser Gruppe."
„Nach ihm", ich zögerte. „Das heißt er..."
„...ist tot", vervollständigte Sannie knapp und nickte. Dann sah er weg. „Ist über vier Jahre her", flüsterte er. „Ich wurde ein halbes Jahr später hier aufgenommen."
Ich hatte so etwas befürchtet und jetzt wagte ich es auch nicht, weiter nachzufragen.
„Seho hat dir von Jason erzählt?", fragte Sannie da und sah mich an.
Ich verneinte stumm.
„Hätte mich auch gewundert", murmelte Sannie. „Er spricht eigentlich nie über ihn. Das war eine ziemlich üble Sache damals."
Weiter führte er das nicht aus und ich stellte keine Frage dazu. Dass die Sache um Jason schlimmer war, als ich mir im Moment vorstellen konnte, klang bereits durch und ich war mir ziemlich sicher, dass sie auch deutlich privater war, als ich wissen sollte.
„Hey", Sannie stieß mich sanft an der Schulter an. „Wie sieht es aus, hast du Hunger?"
Nach dem Essen drückte ich mich extra lang in der Küche rum, half beim Abspülen, räumte Geschirr auf und hätte vermutlich ewig so weiter gemacht, wenn Eliza mich nicht schmunzelnd gefragt hätte, wovor ich mich eigentlich versteckte.
„Tu ich nicht", raunte ich heiser und stapelte fein säuberlich Teller.
„Du gehst ihm aus dem Weg", stellte Eliza fest. „Was hat er angestellt?"
„Hm?" Ich sah sie nicht an.
Jetzt lachte Eliza leise. „Seho. Und tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche. Ist es wegen der Schulsache?"
„Oh, ich... nein..." Unwillig schüttelte ich den Kopf. „Ich will nur..."
„... nicht mit ihm reden?", kam von der Tür her und ich drehte mich erschrocken um.
Seho lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen, betrachtete mich nachdenklich, dann nickte er Eliza zu. „Würdest du uns kurz allein lassen?"
„Sicher." Sie trocknete sich die Hände ab, warf mir einen aufmunternden Blick zu und berührte Seho sanft am Arm, als sie sich an ihm vorbeischob. Kaum war sie weg, trat Seho ganz ein und schloss die Tür. Ich wich unauffällig einen Schritt zurück, aber wohl nicht unauffällig genug, denn Seho sah mich an und seine Augenbrauen hoben sich leicht.
„Du weichst mir aus, warum?"
„Ich weiche dir nicht aus", murmelte ich abwehrend und suchte gleichzeitig nach einer Möglichkeit zur Flucht. Es gab nur leider keine, da der Raum nur diese eine Tür hatte, an welcher Seho stand und wohl darauf wartete, dass ich ihn endlich ansah.
„Okay, hör zu", sagte ich so ruhig wie möglich, trat dabei unbehaglich von einem Fuß auf den anderen wischte mir unruhig die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin noch nicht soweit, okay? Ich kann mich noch nicht damit befassen, das-"
„Du meinst du willst nicht", unterbrach mich Seho ruhig. „Verstehe ich. Ging mir auch so. Allerdings hatte ich auch niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen können, aber", er stoppte meinen Einwand mit einer knappen Geste, „ich werde dich ganz sicher nicht dazu zwingen, keine Sorge. Das erklärt jedoch nicht, warum du dich vor mir versteckst. Ich habe keine Erwartungen an dich." Kurz wiegte er jetzt den Kopf und lächelte schwach. „Okay, doch eine habe ich schon. Dass du dich einbringst, wenn du bleibst."
Wenn ich blieb?! Mir wurde ganz schlecht. „Willst du mich etwa rauswerfen?!", brachte ich krächzend hervor und Seho fuhr zusammen, als hätte man ihn geschlagen.
„Was?! Nein! Natürlich nicht! Wie kommst du auf den Blödsinn. Himmel!"
„Na, weil du sagtest, wenn ich bleibe. Das klang so, als wolltet ihr noch darüber abstimmen oder so."
„Unsinn!", wehrte er ab. „Aber woher soll ich denn wissen, was du vorhast? Vielleicht läufst du weg?"
Genau. Ich schnaubte leise. „Wohin denn?", raunte ich kaum hörbar.
Seho seufzte und sah weg. „Manchmal verfluche ich diesen Ort", murrte er, schlich an mir vorbei und begann, diverse Schränke aufzureißen und sie zu durchsuchen. „Er hat irgendwie alles und nichts."
In einem der Oberschränke wurde er wohl fündig, nahm ein großes Schraubglas heraus, das mit einer glasklaren Flüssigkeit gefüllt war. Dann schnappte er sich zwei Tassen, schraubte das Glas auf und sah mich an.
„Auch was?"
„Was ist das?"
Er grinste schief. „Ezras Moonshine, nichts für eine schwache Konstitution."
Ich blinzelte ungläubig. Sie hatten so gut wie nichts, aber... „Ihr brennt hier Schnaps?" Gleichzeitig bedeutete ich ihm, er solle einschenken, was Seho auch großzügig tat, bevor er das Glas wieder verschraubte und wegstellte.
„Tun wir", erklärte er trocken, „also Ezra tut es und natürlich nur für medizinische Zwecke." Er schaffte es sogar, dabei völlig ernst zu bleiben. Schließlich schob er mir eine der Tassen zu und nahm selbst einen Schluck aus seiner eigenen.
Vorsichtig schnupperte ich an der Tasse, aber was immer Ezra braute, roch vor allem scharf und stark, trotzdem kippte ich mir die Hälfte des Inhalts hinein und setzte die Tasse gleich darauf hustend und keuchend wieder ab. Das Zeug war nicht widerlich, es war vermutlich sogar umweltschädlich, wenn man es einfach auskippte und es war so stark, dass es mir sofort die Tränen in die Augen trieb.
„Herrgott!", brachte ich endlich heraus. „Was ist das? Das kann man ja nicht trinken!"
„Kann man so und so sehen", murmelte Seho, zuckte dabei die Schultern und stürzte den restlichen Inhalt seiner Tasse in sich hinein. Dabei verzog er noch nicht mal das Gesicht. Echt jetzt?
Fast schon trotzig kippte auch ich den Rest hinunter, aber auch beim zweiten Mal hatte ich das Gefühl, gleich Gift und Feuer zu spucken.
„Tapfer", bemerkte Seho grinsend. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach dem ersten Schluck noch ein zweites Mal daran traust."
„Du kennst mich eben nicht", gab ich zurück, aber meine Stimme klang heiser und ich hatte sie nicht unter Kontrolle. „Ich kann auch einstecken."
Jetzt grinste Seho breit. „Sieht so aus. Willst du noch einen?" Er schenkte sich tatsächlich nochmal etwas ein, deutlich weniger als zuvor. Ich hingegen lehnte dankend ab.
„Ein andermal, ich will erst sichergehen, dass das Zeug keinen medizinischen Notfall auslöst, indem es sich durch meine Magenwand frisst."
„Mhm." Er leerte seine Tasse und brachte sie zur Spüle. „Weise Entscheidung." Seufzend stellte er die Tasse ab, stützte die Hände auf die Kante des Beckens und legte einen Moment lang den Kopf in den Nacken. „Mit einem hast du natürlich recht, Jonah", murmelte er dabei, richtete sich auf und drehte sich langsam zu mir um. „Ich kenne dich nicht wirklich. Du hast auch nichts von dir preisgegeben und das aus gutem Grund. Ich weiß, wie es ist, wenn man hier ankommt und allmählich begreift, dass die Welt, in der man lebt, nicht mehr dieselbe ist. Es hat mir damals eine Höllenangst gemacht. Jede Geste, jedes Wort war von der Überlegung geprägt, ob ich mich damit verrate. Es war zermürbend."
„Dabei hast du dich zuerst verraten", murmelte ich nachdenklich. „Oder hättest du, wenn ich besser aufgepasst hätte."
Leidlich verwirrt sah Seho mich an und ich verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. „Der Ausflug zu Madox? Du sagtest, ich wäre wie der Esel aus Shrek. Vor ein paar Tagen hat mir Zoja ein Bild gemalt, irgendein grünes Monster oder so. Ich habe sie gefragt, ob das ein Oger ist, aber sie wusste nicht, was ein Oger oder wer Shrek ist. Und dann war da noch..." Ich überlegte und grinste dann schief, nickte. „Ah ja, die Frauen von Stepford. Ich bin ziemlich sicher, das kennt hier auch niemand."
Ich sah ihn an und Seho zuckte schief grinsend die Schultern.
„Ich bin auch nur ein Mensch."
„Ja und im Nachhinein ist es offensichtlicher."
Ein schwaches Lächeln traf mich. „Aber hey, um dich zu beruhigen, niemand hier hat bisher Verdacht geschöpft, keiner hat mich gefragt, was mit dir nicht stimmt. Du hattest einen Unfall, du kannst dich nicht mehr erinnern – diese Geschichte ist ziemlich gut."
„Es ist keine Geschichte", zischte ich unwillig. „Es ist die Wahrheit."
„Ich weiß", beruhigte mich Seho. „Und vielleicht erzählst du mir irgendwann alles, vielleicht auch nicht. Dennoch musst du einen Weg für dich finden, wie du das alles hier annehmen kannst. Du darfst dich nicht in der Vergangenheit verlieren, okay? Und auch wenn du das alles jetzt gar nicht hören willst – ich will dir nur helfen. Es dir einfacher machen, wenn ich kann, hm?"
„Hm", machte ich ebenfalls, drehte die leere Tasse in meinen Händen und sah dann auf. „Indem du mir einen Job besorgst?"
„Oh, die Schulsache!" Seho grinste.
„Ja, die Schulsache. Du hättest mich wenigstens vorher fragen können."
„Wollte ich noch", gab er gelassen zurück.
„Ach ja? Wann?"
„Jetzt." Schon wieder ein Grinsen und er stieß sich vom Spülbecken ab. „Komm schon", sagte er schmunzelnd, „ein wenig lesen, rechnen, schreiben – keine Quantenphysik."
Seufzend stellte ich ebenfalls meine Tasse weg. „Ich weiß gar nicht, ob ich mit Kindern kann."
„Aber die Kinder lieben dich", sagte Seho, schob sich an mir vorbei und berührte dabei meine Schulter. „Gib dir selbst eine Chance, hm? Komm mit."
Zusammen steuerten wir den Gemeinschaftsraum an und Seho kramte aus den unzähligen Bücherstapeln tatsächlich ein paar alte Schulbücher, abgesehen davon präsentierte er mir voller Stolz eine kleine Tafel, die auf drei Beinen stand und im Moment mit Magnetbuchstaben dekoriert war. Mit einem vagen Grinsen betrachtete ich das etwas in die Jahre gekommene Modell.
„Du meine Güte", sagte ich leise. „Ich glaube ich habe mal Kinderfotos meiner Mutter gesehen, auf welchen sie auch an so einer Tafel steht."
Seho schüttelte missbilligend den Kopf. „Sei nicht so undankbar. Ich habe sogar Kreiden für dich!" Damit präsentierte er mir eine kleine Schachtel mit bunten Tafelkreiden.
„Wie schön", kommentierte ich das trocken, nahm die Packung mit den Kreiden in die Hand, drehte sie in den Fingern und legte sie wieder zurück.
„Willst du lieber, dass ich Santiago darum bitte, er möge dir zeigen, wie man Fische richtig ausnimmt? Du kannst auch einen Kochkurs bei Eliza belegen, mir gleich. Oder wenn du mir hier und jetzt versicherst, dass du ganz großartig stricken und nähen kannst, besorge ich dir Wolle und Stoff, versprochen. Es ist mir egal, was du machst, aber nimm irgendeine Aufgabe an und mach sie zu deiner, okay?"
Verlegen zog ich den Kopf ein und sah weg.
„Jonah", begann Seho erneut sanft. „Wenn du glaubst, dass es dir hilft, wenn du dich jetzt drei Tage in dein Nest legst und die Decke über den Kopf ziehst, dann versuch das, aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass die Situation dann immer noch dieselbe ist. Du musst sie nicht lieben, du musst sie noch nicht mal gut finden, aber du musst irgendwie mit ihr leben, verstehst du? Wenn du eine sinnvolle Aufgabe und das Gefühl hast, tatsächlich helfen zu können, wird es leichter, vertrau mir."
„Ja, schon verstanden", raunte ich dumpf. „Es ist nur so, dass ich eigentlich gar nichts wirklich gut kann. Ich meine – wirklich gar nichts. Ich war nur..."
„...der coole Partyjunge von nebenan?", Seho schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Du hast studiert – warum? Weil deine Eltern es so wollten?"
„Nein...", murmelte ich und verfiel wieder in Schweigen. Es war schwer über diese Dinge nachzugrübeln, weil einfach alles, was in meinem Kopf war, damit zu tun hatte, dass ich nichts davon wiederbekommen würde. Niemals. Egal was ich getan hatte, was ich erreichen wollte, das alles war wie ausgelöscht.
„Jonah", eine warme Hand legte sich sanft in meinen Nacken. „Denk nicht darüber nach, welche Pläne du mal hattest. Viel wichtiger ist doch die Frage, was inspiriert dich." Seine andere Hand klopfte leicht auf meine Brust. „Wofür brennst du?"
Ein vages Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Du meinst, so wie du? Den Menschen helfen, Leben retten?" Hierauf zuckte er nur mit den Schultern und ließ mich wieder los. Nachdenklich wandte ich mich zu der Kinderzimmertafel um, nahm eine der Kreiden aus der Packung und skizzierte mit ein paar raschen Strichen das Sägewerk, in dem wir lebten, mit ein paar Bäumen davor. Dann legte ich die Kreide hin und betrachtete das Bild.
„Okay", sagte ich leise. „Versuchen wir es."
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