Überraschungseffekt
33-Überraschungseffekt
Zeit: Herbst 79 / Ort: Capitol Distrikt
„Was?" Ich zwang mich zu einem Lächeln, auch wenn ich wusste, dass es vermutlich sehr verkrampft aussah. „Das ist doch Blödsinn, ich..." Dann brach ich ab. Womöglich hatte er ja recht. Sehos Miene blieb ernst, er musterte mich und unter seinem Blick wurde ich plötzlich furchtbar nervös. Unruhig zappelte ich, sah weg, wieder hin, während mein Herz mit einem Mal wilde Kapriolen schlug. Was? Ich sprach es nicht aus, befeuchtete stattdessen nervös meine Lippen und bevor ich überhaupt darüber nachdachte, was ich hier tat, beugte ich mich ein Stück zu ihm.
Seho kam mir nicht entgegen, wich mir aber auch nicht aus und dann – war es ohnehin zu spät. Meine Lippen berührten seine und meine Augen fielen zu. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte, auf jeden Fall, war es ganz anders, irgendwie überraschend. Seine Lippen waren warm, weich und er schmeckte nach diesem Choco-Coco-Likör, den wir gerade vorhin noch getrunken hatten. Süß und ein bisschen nach Alkohol. Noch während ich diesen ersten Eindruck in mich aufsaugte, spürte ich seine Hand an meiner Wange. Der Druck auf meinen Mund verstärkte sich etwas, eine feuchte Zungenspitze tupfte gegen meine Lippen und gerade als ich dem Sog nachgeben wollte, der urplötzlich in mir aufwallte, war es auch schon wieder vorbei. Seho machte sich von mir los, schob mich mit einer Hand behutsam aber dennoch entschlossen von sich und murmelte kaum hörbar: „Nein."
„Nein, Jonah... nicht."
Es war, als würde ich gegen eine Eiswand laufen.
„Entschuldige", stieß ich rau hervor, räusperte mich, aber meine Stimme gehorchte mir dennoch nicht. „Ich... ich wollte nicht..." Worte ohne Sinn, ohne Anfang, ohne Ende. Zitternd atmete ich ein, schlug dann die Hände vor das Gesicht und zog den Kopf ein.
„Oh Gott, es tut mir leid", raunte ich dumpf durch meine Finger. „Wirklich, ich weiß nicht, was..."
„Jonah..."
„...in mich gefahren ist."
„Nein, Jonah..."
Es hörte sich an, als würde er lachen. Lachte er wirklich?! Auf alle Fälle griff er jetzt nach meinem Handgelenk und zog daran. „Bitte..." Ja, er klang eindeutig amüsiert und das trieb mir die Schamesröte ins Gesicht.
„Komm schon, sieh mich an." Und noch mehr leises Lachen.
Keine Chance – ich würde ihn nie wieder ansehen können, ohne dabei im Erdboden zu versinken. Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen dramatisch, aber- Ich schnaufte aufgebracht und Seho lachte leise.
„Bitte, Jonah, sieh mich an. War es wirklich so schlimm?"
Schlimm? Idiot! Unwillig ließ ich zu, dass er meine Hände wegzog, vermied es aber, ihm in die Augen zu sehen. „Tut mir leid", knurrte ich, „das wollte ich nicht."
„Nicht?"
Ich warf ihm einen raschen, verunsicherten Blick zu, sah wie sein Mundwinkel zuckte und dann griff er bereits nach meiner Hand.
„Ist okay, hm?", begann er sanft. „So war es doch nicht gemeint. Ich wollte nur nicht, dass du etwas-" Und mittendrin brach er ab, leckte sich die Lippen und senkte sekundenlang den Blick.
Na sieh einer an. Ihm fehlten die Worte? Dass ich sowas noch erleben durfte.
„Ja?", hakte ich nach. „Was soll ich nicht?"
Immer noch umklammerte er meine Hand und spielte mit meinen Fingern. Zweimal setzte er zum Reden an, zweimal brach er wieder ab und lächelte dann bitter. „Das ist auch für mich nicht so einfach, wie du vielleicht denkst", wurde es schließlich.
Nun ja, war es jemals einfach? Mein Herz schlug wie wild und als er aufsah und meinen Blick suchte, wagte ich es kaum mehr zu atmen.
„Ich treffe keine leichtfertigen Entscheidungen und..." Schon wieder brannte sich sein Blick in meinen, intensiv und dunkel. Und dann war er plötzlich auf den Knien, ließ meine Hand los und umfasste stattdessen mein Gesicht.
„Ach vergiss es", hörte ich ihn noch raunen, dann küsste er mich bereits. Sein Mund presste sich hart auf meinen und ich war tatsächlich so überrumpelt, dass ich zurück auf meinen Hosenboden plumpste.
Mein Gott, und wie er mich küsste! Nichts daran war auch nur im Ansatz zaghaft oder vorsichtig, ganz im Gegenteil. Er küsste mich rau und wild, von Anfang an ohne jegliche Zurückhaltung. Ich spürte, wie seine Zungenspitze zwischen meine Lippen drängte, gab nach und fasste haltsuchend in den dünnen Stoff seines Shirts. Der Druck auf meine Lippen verstärkte sich und als sich unsere Zungen das erste Mal berührten, stöhnte ich haltlos in seinen Mund. Ich wollte es, natürlich wollte ich es! Aber ich wollte nicht so deutlich preisgeben, wie sehr mich dieser Kuss gerade aufwühlte. Jedoch hatte ich keine Chance, ich wurde einfach überfahren. Er küsste mich tief und mit einer Intensität, die mein ganzes Denken einfach lahmlegte, als hätte man einen Schalter umgelegt. Nichts existierte mehr, nur er, ich und das unsägliche Verlangen, dass sich soeben durch meinen Körper fraß wie ein Buschfeuer. Hungrig erwiderte ich also seinen Überfall, krabbelte halb über ihn und drängte mich dabei an ihn, bis ich ihn leise seufzen hörte. So ermutigt, sah ich keine Veranlassung, mich in irgendeiner Weise zurückzuhalten. Sehos Finger gruben sich in meine Haare, hielten mich fest und immer noch küssten wir uns in wilder Gier. Erst als meine Hände abrutschten und sich meine Fingerspitzen tastend unter den Saum seines Shirts stahlen, brach der Bann.
Er machte sich von mir los und packte meine Handgelenke, dann sah er mich an, die Augen schwarz wie der Nachthimmel. Er sagte kein Wort, aber das musste er auch nicht, ich konnte sehen, wie aufgewühlt er war. Seine Brust hob und senkte sich schwer, seine Lippen schimmerten feucht. Und da war etwas in seinem Blick, das mir einen Schauer über den Rücken jagte.
Atemlos kauerte ich über ihm. Ich war verwirrt, aufgeregt, alles zugleich, meine Haut prickelte und mein ganzer Körper bebte, gleichzeitig verspürte ich gerade den drängenden Wunsch, aufzuspringen und wegzurennen – rennen, rennen, ohne je wieder zurückzublicken. Wahrscheinlich konnte Seho sehen, welche Widersprüchlichkeiten in mir tobten, denn jetzt nahm er ganz sanft meine Hand und strich behutsam über meine Finger. Zitternd atmete ich aus und sank schließlich, ganz still, ohne ein einziges Wort gegen ihn, legte die Stirn auf seine Schulter und schloss die Augen. Die Wahrheit war ernüchternd und trotzdem unwirklich.
Ich hatte meinen Freund betrogen. Schlimmer noch, ich hatte Gino hintergangen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an ihn. Und ich konnte es noch nicht einmal aufrichtig bereuen, denn immer noch tobte ein ganzer Sturm in mir und ich war dankbar, dass Seho mich einfach nur festhielt.
Als ich mich endlich soweit beruhigt hatte, dass ich wieder normal denken konnte, kamen die Tränen doch noch und ich fühlte mich entsetzlich. Verlogen und schäbig, so wie ich jetzt hier hockte und heulte, in der Umarmung eines Anderen. Ich hatte ihn zuerst geküsst, oder nicht? Also war alles, was ich jetzt empfand doch nur Scham, Schuldgefühle und pures Selbstmitleid.
Ich hatte keine Ahnung wie Seho das aufnahm, aber er saß meinen emotionalen Einbruch einfach aus, wartete, bis ich mich wieder gefangen hatte und mich verlegen aus seiner Umarmung wand. Dann hockten wir schweigend nebeneinander und ich wischte schniefend über mein Gesicht, während mir durchaus bewusst war, dass er mich beobachtete. War jetzt auch schon egal, denn recht viel schlimmer konnte ich es wohl nicht mehr machen. Schließlich sah ich hin und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht, es misslang und geriet schief.
„Tut mir leid", krächzte ich heiser. „Das hatte nichts mit dir zu tun."
Seho nickte kaum sichtbar. „Ich weiß."
Peinlich berührt sah ich wieder weg und erneut verfielen wir in Schweigen. Dieses Mal war es Seho, der es zuerst brach.
„Deswegen sagte ich, ich treffe keine leichtfertigen Entscheidungen und ich möchte das auch von dir nicht, okay? Ganz gleich, was eben passiert ist, wir..." Er hob den Blick und sah blinzelnd über das Wasser. „Wir lassen es genau hier, am See." Dann sah er mich wieder an und ein weicher Zug spielte um seine Mundwinkel. „Ich glaube du solltest dir erst darüber klar werden, was du tatsächlich willst. Ich weiß auch, wie schwierig der Punkt ist, an dem du gerade stehst, also... lass dir Zeit. Du bist niemanden eine Erklärung schuldig, am wenigsten mir."
„Aber ich...", begann ich immer noch heiser und meine Stimme schwankte dabei.
„Ich mag dich auch", unterbrach mich Seho und schmunzelte jetzt. Einen Moment blickte er auf seine Hände und schließlich wieder zu mir. „Gib dir selbst die Chance, herauszufinden, was gut für dich ist, Jonah. Egal wie du dich entscheidest, du sollst hinterher nichts bereuen müssen."
„Okay." Ich nickte, zog den Kopf ein und spielte mit ein paar Grashalmen neben meinem Knie.
„Bist du mir böse?"
Er verneinte sofort, schüttelte den Kopf, dann folgte ein leises „Nein. Nein, bin ich nicht", bevor er meine Hand griff und sie kurz festhielt. „Und ich möchte, dass du dir eins immer klar machst: Ich bin nicht er", flüsterte er nun. „Ich bin nicht Gino und ich kann und werde ihn nie ersetzen. Das will ich gar nicht."
„Danke", raunte ich dumpf.
Und jetzt zog Seho an meiner Hand. „Na, komm her", sagte er leise, schmunzelte und zog mich zu sich. Ich rutschte ein Stück heran, bis ich zwischen seinen Beinen saß, ließ mich umarmen und lehnte mich mit einem leisen Seufzen an seine Brust.
„Wieder alles okay?" Ich spürte die Worte, wie er sie in meine Haare murmelte und ruckelte noch ein bisschen herum, bis ich bequem saß.
„Ja." Na ja, nicht ganz, aber das wusste er sicher. Trotzdem war ich froh: dass er hier war, dass er mich festhielt und dass er mir trotz allem so viel Raum ließ.
Wir beschlossen, dass wir uns jetzt den anderen Teil der Schnapsfläschchen auch noch verdient hätten und eliminierten auch den Rest, kicherten dümmlich dabei, lachten über Dinge, die kein bisschen lustig waren, aber wir küssten uns nicht noch einmal. Auch dafür war ich ihm dankbar, weil es mir so leicht machte, das alles einfach hinzunehmen.
Als wir den Heimweg antraten war ich angenehm betrunken, albern, etwas kindisch und hatte viel zu gute Laune. Ich nahm seine Hand, unsere Finger verschränkten sich und unsere Blicke verhakten sich sekundenlang ineinander. Wahrscheinlich taumelte ich, stieß gegen ihn, denn mittendrin schmunzelte Seho, ich musste lachen und der Bann war wieder gebrochen.
In dieser Nacht kroch ich außerdem in sein Nest und das ohne jeden Hintergedanken. Ich wollte ihn einfach um mich haben, mehr nicht. Spüren, dass er da war, die Wärme, die Geborgenheit. Wir küssten uns auch jetzt nicht, aber ich wurde gehalten, umarmt und wühlte mich zufrieden noch näher, bis Seho irgendwas murmelte, was ich nicht verstand und einen Kuss in meine Haare drückte.
Bis ich morgens aufwachte, war er schon weg, wie so oft.
*
Die nächste Zeit war geprägt von dem, was zwischen Seho und mir entstand. Zuerst fiel es mir schwer, das wirklich einzuordnen. Wir verstanden uns ja gut, redeten viel, auch weil Seho ein sehr gutes Gespür dafür hatte, wann es mir nicht gut ging und ja, wir hatten uns geküsst – einmal. Aber wir hatten nie wieder darüber gesprochen und es war auch kein zweites Mal passiert. Eine Weile hatte mich das sehr beschäftigt und in der Folge hatte ich mich wieder stärker nach meinem alten Leben gesehnt, aber auch das legte sich nach einer gewissen Zeit. Die Tage, an welchen ich aufwachte und mein altes Leben so sehr vermisste, dass ich glaubte, keinen weiteren Tag mehr durchzuhalten, kamen und gingen, doch meistens reichte ein Blick von mir und Seho wusste, was los war. Wenn es die Zeit erlaubte, brachte er mich an solchen Tagen weg von der Gruppe und oft waren wir dann erneut an dem kleinen Weiher im Wald, weil das gleichzeitig der einzige Ort war, an dem wir garantiert nicht gestört wurden. Manchmal erlaubte ich mir dann, die Nähe anzunehmen, die er mir schenken wollte, flüchtete in seine Umarmung, gierte nach den kleinen Streicheleinheiten, die ich bekommen konnte, wenn er meinen Rücken streichelte, in meinen Haaren kraulte oder mich einfach nur festhielt und wiegte.
Dann sprach ich von meinen Eltern oder von meiner Schwester, von Belanglosigkeiten und Erinnerungsfetzen, die mir gerade so durch den Sinn gingen. Im Gegenzug erzählte er ein wenig von seiner Familie, von seiner Zeit als Arzt oder auch aus seiner Kindheit. Ich erfuhr, dass er keine Geschwister hatte und deshalb – wie er sagte – als Kind total verhätschelt und verwöhnt worden war. Eine Aussage, die mich amüsierte, denn so wirkte er kein bisschen mehr.
Aber je öfter wir uns diese Momente nahmen und aus der Gruppe ausbrachen, je mehr Kleinigkeiten wir austauschten, desto stärker wurde das unbenannte Gefühl in mir. Aus einem schlichten Wohlfühlen in seiner Gegenwart, aus dem Gedanken, dass ich ihn einfach sehr gern mochte, wurde etwas, wonach ich mich sehnte. Und vielleicht ging es Seho ähnlich, denn die Auszeiten wurden schnell zu einer Gewohnheit, die keiner von uns mehr aufgeben wollte. Wir tauchten unter und nahmen uns tatsächlich zum ersten Mal in all diesen Monaten die Zeit, uns wirklich kennenzulernen. Wir redeten oder schwiegen zusammen, waren dankbar für die kleinen gestohlenen Momente und zufrieden damit. Hin und wieder reichte das nicht und wir suchten einen echten Kontakt. Dann saß Seho neben mir, hielt meine Hand und strich über meine Finger, oder ich lag zusammengerollt in seinem Schoß, während er erzählte.
Wahrscheinlich war mir viel früher klar, dass er längst mehr für mich geworden war, als ein Freund, dass er mir weit mehr bedeutete, aber ich war auch sehr gut darin, das zu verdrängen. Manchmal, wenn er mich auf diese bestimmte Weise ansah, war es beinahe greifbar, und jedes Mal wich ich ihm aus, weil ich zu viel Angst hatte, mich diesen verwirrenden Gefühlen zu stellen.
Seho drängte mich nie und trotzdem war es irgendwann nicht mehr zu leugnen. Mit wurde warm, wenn er mich auch nur im Vorbeigehen berührte, mein Herz raste, wenn er mir ein Lächeln schenkte und ich wurde nervös, wann immer wir allein waren. Das war der Zeitpunkt, wo ich begann, ihm von Gino zu erzählen. Vielleicht war es auch nur ein Schutzmechanismus. Wenn ich von Gino sprach, fühlte ich mich sicher, ich konnte mir einreden, dass sich nichts verändert hatte und alles andere, was mein dummes kleines Herz flattern ließ, nicht von Bedeutung war.
Irgendwann in dieser Zeit fragte ich ihn auch nach Jason, aber Seho blieb einsilbig und gab meinem vorsichtigen Bohren nicht nach. Mit einem leisen „bitte Jonah – ich will nicht über ihn reden", wehrte er mich ab und ich fühlte mich hilflos und unzulänglich. Was immer mit Jason gewesen war, es musste eine tiefe Wunde gerissen haben, die auch nach all der Zeit immer noch nicht verheilt war. Wir konnten beide die Vergangenheit nicht loslassen, er womöglich noch weniger als ich, und doch war es am Ende genau das, was uns einander immer näherbrachte.
Aber für eine ganze Weile war es eben nur das. Ein Gefühl, über das wir nicht sprachen. Da Seho deutlich gemacht hatte, dass der nächste Schritt von mir kommen musste, wiegte ich mich in Sicherheit. Zumindest bis zu jenem schicksalhaften Tag Anfang Oktober.
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