Sehos Geschichte
25-Sehos Geschichte
Zeit: Sommer 79 / Ort: Capitol Distrikt
Die Zeit verging, stand still, raste. Es war unerheblich und hatte für mich jede Bedeutung verloren. Ich wusste auch nicht, wie lange ich bereits dort auf dem Boden kauerte, stumm und reglos, während ich darauf wartete, dass irgendetwas geschehen würde, aber es geschah nichts. Und irgendwann strich Seho sanft über meine Haare, lockerte seine Umarmung und sah mich an.
„Gehen wir zurück", flüsterte er. Ich reagierte nicht. „Jonah, komm schon, gehen wir zurück, es ist spät."
Wohin denn zurück? Es war doch nichts mehr übrig von meiner Welt, meinem Leben.
„Jonah?" Unerbittlich zerrte Seho mich auf die Beine, umfasste mein Gesicht und forderte meine Aufmerksamkeit. „Wir gehen jetzt zurück, verstanden? Wenn du dich hier hinsetzt und einfach aufgibst, ist niemandem geholfen, dir nicht, Gino nicht..."
Bei seinem Namen hob ich den Kopf und traf Sehos Blick. Seho seufzte, strich durch meine Haare, über meine Wange und machte ein verkniffenes Gesicht.
„Ich weiß, wie es dir geht", sagte er leise. „Ich weiß es ganz genau. Aber Jonah, wenn du jetzt-"
„Du weißt gar nichts", unterbrach ich ihn schroff, riss mich von ihm los und stieß ihn von mir weg. Dann machte ich mich allein an den Abstieg und torkelte mit unsicheren Schritten den langen Hang hinab. Wieder quälten mich Erinnerungsfetzen und unwillkürlich presste ich die Hand auf die Stelle an meiner Seite, wo die Verletzung gewesen war. Dann war ich an dem Bach, schaffte es nicht hinüberzuspringen, sondern stolperte einfach durch das Wasser und blieb auf der anderen Seite stehen. Nach Atem ringend sah ich mich um, doch plötzlich wusste ich nicht mehr wohin ich gehen musste, woher wir gekommen waren. Wortlos trat Seho neben mich, wies in einer schwachen Geste nach links und berührte dabei meinen Arm.
Ich folgte ihm jetzt ohne Gegenwehr.
Obwohl ich den Weg zurück zum Sägewerk kaum registrierte, kam er mir ewig vor. Wir gingen und gingen, ich setzte stumm einen Fuß vor den anderen und hatte doch das Gefühl, keinen Schritt voranzukommen. Als würde ich permanent auf der Stelle treten. Es war unangenehm drückend und heiß und ich merkte gar nicht, wie es allmählich dunkler wurde. Schließlich tauchte das langgezogene Gebäude doch noch vor uns auf und draußen auf dem Vorplatz hörte man das Kreischen von Kindern. Die kamen auch sofort angerannt, aber Seho scheuchte sie weg. Dann kam Eliza durch die Tür nach draußen, sah ihn, sah mich und blieb stehen.
„Was ist passiert?", fragte sie, aber Seho wiegelte auch sie ab.
„Geben wir ihm ein bisschen Zeit, okay? Ihr könnt mit dem Essen anfangen, wir... gehen in den Gemeinschaftsraum, vielleicht kannst du dafür sorgen, dass uns keiner stört?"
„Sicher." Eliza nickte, griff nach Micahs Arm, der gerade an ihr vorbeirennen wollte und schickte ihn zurück ins Haus. Derweilen legte Seho einen Arm um meine Schultern, dann blieb er nochmal stehen.
„Wie geht es Jojo?"
„Hat nicht mehr gespuckt", antwortetet Eliza mit einem Lächeln, „meckert dafür, dass er nicht spielen gehen darf. Es geht ihm also schon besser. Blue ist bei ihm und liest ihm vor."
Seho nickte, bedankte sich, dann schob er mich leicht an, führte mich den Flur entlang und hinunter bis zum Gemeinschaftsraum. Wortlos trat ich mir die Schuhe von den Füßen, schlüpfte hindurch, während Seho die Tür aufhielt und schlich zu jenem Sofa, an dem gestern alles begonnen hatte. Schwer ließ ich mich hineinfallen, zog die Beine an, rollte mich zusammen und ließ mich auf die Armlehne sinken. Ich wollte nichts hören, nichts sehen, nichts mehr fühlen – gar nichts. Seho war mir schweigend gefolgt, setzte sich nun ebenfalls zu mir und legte eine Hand auf mein Bein. Die Wärme, die er abstrahlte, drang langsam durch meine Hose und ich bewegte mich unbehaglich. Ich wollte auch keine Nähe, sie zeigte mir nur überdeutlich, was ich verloren hatte.
„Jonah, kann ich etwas für dich tun?"
Still verneinte ich und schloss die Augen. Was wollte er tun? Ich saß hier fest, für immer. Ich würde meine Familie nie wieder sehen, meine Freunde nicht, Gino. Bebend holte ich Luft und atmete langsam wieder aus.
Plötzlich ging die Tür auf, aber es war nur Eliza, die hereinkam, ein Tablett auf dem Arm balancierte, dass sie jetzt auf einem der kleinen Tische in unserer Nähe abstellte. „Nur eine Kleinigkeit", murmelte sie und huschte schon wieder hinaus. In der Tür drehte sie sich noch mal um, warf mir einen kurzen Blick zu, dann waren wir wieder allein.
Seho schenkte ein Glas Wasser ein, dann nahm er meinen Arm und zog mich in die Höhe.
„Hier, komm schon." Er drückte mir das Glas in die Hand. „Nimm einen Schluck, lass uns reden."
„Ich will nicht reden", flüsterte ich müde, trank aber und stellte das Glas dann zurück, bevor ich mich wieder umfallen ließ.
„Also schön", raunte Seho, „dann..." Er brach ab, schien zu überlegen und mittendrin nahm er die Brille ab und rieb sich müde die Augen. „Es sind jetzt fast neun Jahre, dass ich hier in dieser Parallelwelt – oder wie immer du es nennen willst – gelandet bin. Und es gab Zeiten, da war ich mir sicher, zu wissen, was geschehen ist und wie ich es rückgängig machen könnte. Nichts hat funktioniert, jede Theorie hat sich als im Grunde nutzlos erwiesen. Ich war... fischen." Er sah mich an und gleich wieder weg. „Draußen an einem der Weiher in der Nähe des Wilson Creek, das... war mein bevorzugter Rückzugsort. Ich hatte eine Höllenwoche im Krankenhaus hinter mir und wollte runterkommen."
Mit einem Seufzen setzte er die Brille wieder auf und schenkte etwas von dem Tee ein, den Eliza uns gebracht hatte. Er nahm einen Schluck, drehte die Tasse in den Fingern, dann redete er einfach weiter. „Ich hatte mich bei meinen Eltern abgemeldet, meinen Pager zuhause gelassen, mein Campingzeug ins Auto geworfen und bin da raus. Ich wollte nur irgendwo sein, wo sonst keiner war. Hat gut funktioniert. In der Nacht gab es ein Gewitter, also bin ich mit meinem ganzen Krempel ins Auto geflüchtet, aber dann ist irgendwas auf die Ladefläche meines PickUps gekracht und ich bin ausgestiegen um nachzusehen, was es war." Wieder verstummte er für einen Moment, atmete tief durch und schüttelte dann den Kopf. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange mich die Frage gequält hat, ob das alles nie passiert wäre, wenn ich nicht ausgestiegen wäre. Was für eine Idiotie, eigentlich, oder? Ich hätte es ja besser wissen müssen. Dort draußen tobte ein Gewittersturm und ich sah nach meinem Wagen. Sowas nennt man dann wohl Schicksal. Ich bin auf die Ladefläche geklettert, bekam einen elektrischen Schlag, der mich rückwärts wieder vom Wagen geschleudert hatte und... als ich wieder aufwachte, lag ich nicht im Gras an einem See, sondern im nassen Sand, direkt an der Küste. Es war dunkel, ich war völlig durchweicht, voller Sand und hatte keinen Schimmer, wo ich war, oder was passiert war. Bis zum Morgen saß ich da am Meer, wartete – ehrlich gesagt keine Ahnung worauf. Ich war verwirrt, ich hatte eine Platzwunde am Kopf, ein Dutzend Schnittwunden an den Armen und rund um mich war alles dunkel. Als es hell wurde, stand ich auf und suchte Hilfe. Ich dachte an ein Strandcafé, ein Hotel, so etwas, stattdessen lief ich einem alten Fischer in die Hände, der mich mitnahm, meine Wunden versorgte und mir was zu essen gab. Ich weiß nicht, wofür er mich hielt, wahrscheinlich für einen Flüchtling und damit hatte ich wohl Glück, dass ich ihm in die Hände lief. Ich hatte nichts bei mir, kein Geld, keinen Ausweis, kein Handy – nichts. Nur..." Er lächelte bitter und schüttelte dann den Kopf. „Wie auch immer. Gerrit – das war sein Name - hielt mich also vermutlich für einen Flüchtling und wollte mir helfen. Ich verstand nicht, wovon er sprach, begriff aber ziemlich schnell, dass irgendwas gewaltig nicht stimmte, also hielt ich mich bedeckt und bastelte aus den Fragen, die er mir stellte – sowas wie: bist du über das Wasser abgehauen? Bist du in den Sturm geraten? Bist du allein unterwegs gewesen? - eine halbwegs glaubwürdige Geschichte. Diese Geschichte brachte mich am Ende nach New Haven – ja, der Ort, der auf deinem Ausweis steht. Es gibt ihn wirklich. Es ist eine der größeren Hafenstädte und dort kam ich mit dem Untergrund in Berührung. Nachdem ich allmählich verstanden hatte, wie diese Welt funktionierte, war mir auch klar, dass ich nirgendwo offiziell Fuß fassen konnte. Meine Fähigkeiten als Mediziner brachten mir ein paar Vorteile und ich wurde bei den Rebellen eingeschleust. Ungefähr ein Jahr später lernte ich auf einer unserer Touren Jason kennen. Er kam aus dem Capitol, berichtete von den Zuständen dort und dass er eine Gruppe Kinder unter seiner Obhut hatte. Na ja, so kam ich hierher, das war die Kurzfassung."
Unwillig hatte ich ihm zugehört und jetzt, wo er verstummt war, brannten mir doch ein paar Fragen auf der Zunge, auch wenn ich eigentlich nicht hatte reden wollen. Ich setzte mich auf, nahm noch einen Schluck von meinem Wasser und starrte an ihm vorbei.
„Und wo sind wir hier?", fragte ich dumpf.
„Amerika", antwortete Seho schlicht, sodass ich zu ihm hinsah, abfällig schnaubte und mich wieder abwandte.
„Blödsinn", zischte ich. „In der Zukunft oder was? Das ist nicht die USA, du willst mich wohl für dumm verkaufen."
„Ich sagte Amerika", erwiderte er mit Nachdruck. „Nicht USA." Und als ich jetzt zu ihm hinsah, hob er schlicht die Hände. „Der Unterschied ist gewaltiger, als du dir jetzt vielleicht vorstellen kannst."
Meine Gleichgültigkeit verlor sich etwas und ich richtete mich auf. Eine seltsame Nervosität hatte sich in meiner Magengrube eingenistet und rumorte dort.
„Du meinst... dieses Land hier ist... real?"
Seho nickte. „Nicht nur real. Es ist auch unerbittlich in seinem religiösen Wahn und verfügt über eine militärische Vormachtstellung, die seinesgleichen sucht. Ich bin jetzt so lange hier und habe das alles immer noch nicht wirklich durchschaut, aber Jonah", er rückte ein Stück näher und griff nach meiner Hand. „Fürs erste ist nur wichtig, dass du weißt, dass du nicht allein bist, okay? Ich bin hier, ich weiß genau, was du gerade durchmachst und ich werde dir helfen."
Dazu sagte ich nichts, nickte auch nicht, obwohl ich tatsächlich dankbar war, dass er hier war, dass ich nicht allein war, aber es war auch viel zu verarbeiten. Ich hing meinen Gedanken nach, überlegte, dann sah ich wieder auf.
„Und du bist seit neun Jahren hier?"
Seho nickte knapp. „Beinahe ja, Ende Sommer."
„Wer weiß es. Ich meine, hier, von den Leuten, wer weiß Bescheid?"
Jetzt senkte Seho den Blick, starrte auf seine Hände und atmete tief durch. „Niemand", flüsterte er kaum hörbar. „Jason war der Einzige, der es wusste." Dann sah er auf und traf meinen Blick. „Na ja und du weißt es jetzt." Sein Lächeln war traurig und geriet schief.
„Shit", knurrte ich und sah wieder weg.
Seho war verstummt, hielt seine Tasse umklammert und trank in kleinen Schlucken daraus, aber ich wusste auch nichts zu sagen und wollte im Moment auch nicht weiter über dieses Thema reden. Dafür war es noch zu frisch, zu gewaltig, mein Verstand kam ja gar nicht hinter, das zu begreifen oder anzunehmen.
Ich war gefangen in einer Parallelwelt, die in jeder Hinsicht schlimmer war, als alles, was ich kannte und ich hatte keine Möglichkeit, zurückzukehren. Meine Familie, meine Freunde, mein bisheriges Leben – nichts davon existierte mehr. Ich stand vor einem Scherbenhaufen und ich hatte gerade keinen Elan, ihn wieder zusammenzusetzen, viel lieber wollte ich mich einfach hineinfallen lassen und das alles beenden.
Nach einer ganzen Weile, in der wir einfach schweigend nebeneinandergesessen waren, hielt ich es nicht mehr aus. Weder ihn, noch seine Gesellschaft oder die Wahrheit, die er mir erzählt hatte. Ich stand auf, stellte mein Glas hin und wollte mich mit ein paar gemurmelten Worten davonstehlen, aber da hielt er mich plötzlich auf.
„Jonah." Er griff nach meinem Arm, ließ die Hand aber sofort wieder sinken, ohne mich festzuhalten. Wieder trafen sich unsere Blicke, aber ich schüttelte stumm den Kopf.
„Sorry", raunte ich heiser. „Ich kann das jetzt nicht, ich..." fand noch nicht mal Worte um zu erklären, was gerade in mir vorging. Als ich auf den Flur trat, hörte ich Stimmen und Gelächter aus dem Essensraum. Lautlos stahl ich mich daran vorbei und hoffte, dass niemand mich sah. Ich wollte mit niemandem reden und der Hunger war mir ohnehin gründlich vergangen. Stattdessen schlich ich die Treppe zu den Schlafkojen hinauf, verkroch mich in meiner Ecke und rollte mich auf den Matten und Decken zusammen. Schlafen konnte ich nicht, dafür war ich zu aufgewühlt, aber wenn ich dort lag, reglos, war es irgendwie erträglicher. Ich dachte nicht über die Dinge nach, die Seho erzählt hatte, auch nicht über diese beschissene Welt, ich dachte an meine Familie, meine Eltern, meine Schwester, meine Freunde, Gino und spürte, wie diese unfassbare Trauer schwarz und kalt immer weiter in mich hineinsickerte, bis sie jeden Winkel meines Körpers ausfüllte.
Als die ersten Bewohner in ihre Betten huschten, stellte ich mich schlafend und während die Dunkelheit draußen überhandnahm, löste die andere Schwärze in mir allmählich den Knoten auf, der mich in diesem Schmerz hatte erstarren lassen. Die Tränen kamen ohne Vorwarnung, liefen über mein Gesicht, schnürten mir die Kehle zu und nahmen mir die Luft zum Atmen. Ich weinte, schluchzte leise in mein Kissen, aber die Hoffnungslosigkeit, die sich in mir ausgebreitet hatte, ließ sich damit nicht betäuben. Und viel später, als meine Tränen längst versiegt waren, schälte ich mich doch noch aus meiner Decke, schlich in der Dunkelheit auf die andere Seite des Lagers und schob mich dort auf Knien an dem geschlossenen Vorhang vorbei.
Noch bevor ich seine Matratze ertastet hatte, spürte ich eine Berührung an meinem Arm, warme Finger, die sanft über meine Haut strichen und schließlich meine Hand ergriffen. Eine Decke raschelte und ich kroch dankbar in die wohlig-warme Geborgenheit, die mir wortlos angeboten wurde. Seufzend streckte ich mich neben Seho aus, wurde umarmt und hatte endlich das Gefühl, zumindest wieder atmen zu können. Behutsam strich seine Hand über meinen Rücken, zwischendurch durch meine Haare und die sanfte, gleichförmige Bewegung beruhigte mich weit genug, dass ich irgendwann tatsächlich einschlief.
ೃ⁀➷
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro