9-Ein kleiner Trost
Zeit: unbekannt/ Ort: Capitol Distrikt
Ich hatte Angst gehabt vor diesem ersten Abendessen mit all den Leuten, die hier lebten. Oder besser, so überzeugt wie ich am Anfang des Tages noch gewesen war, gegen alles gewappnet zu sein, so geläutert war ich am Abend. Die Leute hier mochten mich nicht, ausgenommen vielleicht Sannie. Und Seho, nun, ich war mir nicht sicher, ob es nicht einfach nur das höfliche Interesse eines Arztes an der Gesundung seines Patienten war. So oder so, dieser erste Tag vermittelte mir einen guten Einblick, wie allein ich wirklich war. Ich hatte mich ernsthaft bemüht, hatte geholfen und war freundlich gewesen, aber im besten Fall ignorierten sie mich. Zwar wurden mir alle Anwesenden vorgestellt, aber ich konnte mir nur ein paar Namen merken. Sie sprachen auch nicht mit mir, das machte die Sache noch schwieriger.
So saß ich an einem Ende des Tisches, schaufelte hungrig den Gemüseeintopf in mich hinein, den Eliza zubereitet hatte und lauschte ohne hinzusehen auf die Stimmen. Ich hoffte auf das einprägsame Lachen der Frau, an das ich mich von der Krankenstation erinnerte, aber sie war wohl nicht anwesend. Dabei wurde viel geredet und gelacht, das meiste verstand ich nur nicht. Es ging wohl um Politik, um Nachrichten aus der Hauptstadt, um Versorgungsrouten und Patrouillen, nur um eines ging es nie: Um Geld. Das fand ich erstaunlich. Die Tischgespräche meiner Familie drehten sich immer um die Firma, Geschäfte und Gewinne, aber hier schien Geld überhaupt keine Rolle zu spielen. Sie redeten, lachten, aßen, selbst Eliza sah ich lächeln. Neben ihr saß ein kleiner Junge, der aussah wie die jüngere Version ihres Bruders und sie hatte den Kopf mit einem jungen Mann zusammengesteckt, den ich davor noch nicht gesehen hatte. Connor meinte ich mich an die Vorstellungsrunde zu erinnern. Er hatte kurze schwarze Haare und ein so auffällig hübsches Puppengesicht, dass ich ihn vermutlich etwas zu lange anstarrte. Es war lange genug, dass ich mir einen warnenden Blick von Ezra einfing und ertappt den Kopf einzog. Verdammt. Neben dem Dreiergespann saßen Victor, seine Frau und ihre Tochter. In ihr erkannte ich das Mädchen wieder, das auf der Krankenstation gewesen und dann so rasch vor mir geflüchtet war. Ich hatte mich nicht getäuscht, sie war Asiatin, genau wie ihre Mutter. Am anderen Ende des langen Tisches saß Santiago und neben ihm ein junger Kerl, der mir ganz sicher nicht vorgestellt worden war, denn an ihn hätte ich mich bestimmt erinnert. Er trug nämlich eine Augenklappe, außerdem schien er hinter Sannie fast verschwinden zu wollen. Ich fühlte mit ihm, auch ich wollte am liebsten verschwinden.
Neben mir wiederum saß ein junger Kerl mit dunklen zerzausten Haaren und einem frechen Grinsen, er sprach kaum mit mir, war mir als Sandrin vorgestellt worden, und hin und wieder traf mich ein neugierig funkelnder Blick, dem ich jedes Mal auswich. Sandrin hatte etwas an sich, das mich noch weiter in die Defensive trieb, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er jünger war als ich. An der linken Hand fehlten ihm die ersten zwei Fingerglieder des Ringfingers und ich hätte es wohl nur registriert und wieder vergessen, wenn nicht direkt neben ihm noch so ein junger Kerl gesessen hätte, mit genau derselben Verstümmelung. Yule.
Zugegeben, als die beiden vorhin durch die Tür gekommen waren, war ich nicht mal sicher gewesen, ob es nicht ein Mädchen war. Es war schwer zu sagen. Er war klein und sehr dünn, was man sogar trotz der labbrigen Klamotten, die er trug, erkennen konnte. Seine Haltung, sein Gang waren die eines rotzigen Teenies, die kurzen braunen Haare wirkten wie abgefressen, mit längeren Strähnen, die ihm über die Augen fielen, konnten aber auch absichtlich so geschnitten sein. Sein Gesicht war ganz schmal und wirkte eher mädchenhaft. Er sprach kaum und wenn doch, war es kaum mehr als ein dumpfes Gemurmel. Dass es wohl doch ein Junge war, entnahm ich den Gesprächen am Tisch, vor allem weil eines der Kinder, der älteste von ihnen, sich maulend über Yule beschwerte, was er alles dürfe und dass er ihm doch helfen könne. Diesem Gespräch entnahm ich auch, dass Yule wohl sowas wie ein Bastler war, ein kleiner kreativer Kopf, der ständig an irgendwas herumtüftelte. Das war bemerkenswert, denn ich schätzte ihn auf nicht älter als dreizehn oder höchstens vierzehn.
So verbrachte ich dieses Abendessen hauptsächlich damit, aus meiner Ecke heraus die Leute zu beobachten, um ein etwas besseres Gefühl für diese Gemeinschaft zu bekommen. Wer diese Gruppe anführte, war rasch klar, aber es ging ja noch um andere Dinge. Wer war Sehos rechte Hand, wer waren die, die den Ton angaben. Wer vertrat wen und ja, es gab jede Menge Beschützer an diesem Tisch. Die restliche Rollenverteilung schimmerte hie und da auf, doch was selbst für mich als Außenstehenden sofort klar war: Das hier war eine ganz spezielle Gemeinschaft und keiner von ihnen war grundlos hier. Wie weit das reichte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht ahnen.
Während alle anderen fröhlich plapperten, beobachtete ich nur und leerte meine Schüssel in Rekordzeit. Den ganzen Tag auf den Beinen und all die neuen Eindrücke hatte mich weit mehr Energie gekostet, als ich geglaubt hatte und so schielte ich jetzt sehnsüchtig nach dem großen Topf in der Mitte. Ich war der Einzige, der sein Essen so verschlungen hatte und dessen Schüssel schon leer war, deswegen war es mir peinlich zu fragen, ob ich noch was bekommen konnte. Ich machte mich so klein wie möglich, mümmelte an dem Stück Brot, das man mir gegeben hatte, doch als das allgemeine Essen vorüber war, war auch der Topf leer, wie ich enttäuscht feststellte. Niemand beschwerte sich, niemand jammerte, dass es nicht genug war, also schwieg ich ebenfalls.
Zum Aufräumen waren andere eingeteilt und Seho ordnete an, dass Santiago mir mein Schlaflager zeigen sollte.
Auf dem Weg dorthin steckte mir Sannie wortlos, aber schmunzelnd einen Apfel zu. An der Treppe angekommen, musterte er kritisch meine Krücke und rümpfte die Nase.
„Na das wird heiter, aber wir kriegen dich schon da hoch, keine Sorge."
„Ich kann auch ohne", sagte ich, lehnte die Krücke neben der Treppe an die Wand und tappte dann vorsichtig, Stufe für Stufe, hinter ihm her. Das war mühsam, aber es ging. Unterdessen erklärte Sannie, dass das der Schlafplatz von allen wäre. Offenbar stand mir, nachdem ich von der Krankenstation entlassen war, auch die Pritsche nicht mehr zu. Erst als ich schnaufend und ächzend oben angekommen war und Sannie auf eine Nische zu seiner linken wies und dabei meinte, dass dies Sehos Schlafplatz sei, wurde mir die Bedeutung des Schlafsacks und der Isomatte im Behandlungszimmer klar. Und jetzt bekam ich ein schlechtes Gewissen. Hatte er tatsächlich die ganze Zeit dort unten auf dem Boden geschlafen, während ich Patient war? Ich beschloss, mich auf keinen Fall zu beschweren, ganz gleich wie umständlich das für mich hier war. In der Zwischenzeit lief Sannie quer über die Fläche und hielt vor einer Nische auf der anderen Seite der Dachschräge, in der Nähe einer Leiter, die ebenfalls nach unten führte, aber wohl nicht mehr benutzt wurde.
„Du schläfst erst mal hier", sagte er, drehte sich dann halb um und deutete auf die übrigen Lager. „Jeder hat sich hier seine Ecke eingerichtet, aber für den Anfang wird es schon gehen, was meinst du?"
Ich meinte gar nichts, zu verwirrt war ich. Die Nische war lediglich mit einer Matte aus Bambusgeflecht abgetrennt, etwas, das manche Menschen benutzten, um ihre Balkone blickdicht zu gestalten. Dazu hatte man eben diese Matte von einem Stützbalken zum nächsten gezogen und festgenagelt - fertig. Unschlüssig stand ich da und drehte mich um mich selbst. Hier gab es nichts! Nur den Holzboden und diese Matte. Kein Bett, keine Matratze und allmählich begriff ich, welchen Luxus ich mit der quietschenden Pritsche, die ich so verflucht hatte, offenbar genossen hatte.
Santiago war davon geflitzt, jetzt kam er wieder, die Arme vollgepackt. Er drückte mir eine Wolldecke in die Hand, ein kleines, flaches Kissen, und rollte eine Isomatte auf dem Boden aus. Nur leidlich zufrieden, das konnte man seiner Miene entnehmen, kratzte er sich am Kopf. „Tut mir leid", sagte er außerdem, „wir sind nicht wirklich auf Besucher eingerichtet, wie du sicher bemerkt hast. Wir werden dir wohl noch ein paar Sachen besorgen müssen, wenn du bleibst - aber... ist das okay für heute Nacht?"
„Sicher", raunte ich heiser, presste dabei Kissen und Decke an mich, nur um was zum Festhalten zu haben. „Ich komm schon klar, danke." Ich würde diese Nacht kein Auge zu tun, das wusste ich jetzt schon, aber Santiago hatte sich bemüht, ich wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte. Er lächelte traurig und klopfte mir auf die Schulter. „Es ist nicht so schlimm, wie du jetzt vielleicht denkst, okay? Und... es wird besser."
Als er gegangen war, stieß ich die Matte so nah wie möglich an den Bambussichtschutz heran, ließ Decke und Kissen darauf fallen und setzte mich. Immerhin, so konnten sie mich nicht alle anstarren.
Es war zu früh um zu schlafen, aber ich bewegte mich nicht mehr. Ich wollte hier sitzen bleiben, bis das letzte Licht verschwunden war, erstarrt, der Körper, meine Gedanken, alles. Vielleicht würde das helfen. Leider ließen sich meine Gedanken aber nicht anhalten, sie rasten förmlich und sie bewegten sich alle in dieselbe Richtung. Ich wollte hier weg, raus... heim. Meine Kehle wurde eng und meine Augen begannen zu brennen. Was?! Was war nur geschehen, was hatte ich verbrochen, um das hier zu verdienen? Ich konnte es nicht begreifen und ich fühlte mich so unglaublich allein. Ich vermisste meine Familie, meine Mum... Gino. Ein leises Ächzen drang über meine Lippen und ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Ich konnte nicht an Gino denken, ohne völlig die Fassung zu verlieren. Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, kamen die Tränen, egal wie sehr ich versuchte, es zu unterdrücken, Sie liefen heiß und brennend über mein Gesicht, unhaltbar, raubten mir den Atem und durchbrachen jeden Schutzwall, den ich aufrechtzuerhalten versuchte. Dann spürte ich das riesige, dunkle Loch, das in meiner Brust zu klaffen schien, so deutlich, dass mich der Schmerz schier auffressen wollte. Und am Ende lag ich auf der Matte, ganz klein zusammengerollt und schluchzte leise. Es war egal, niemand war da, niemand hörte mich, niemand sah nach mir.
Vielleicht war es die Erschöpfung, die mich tatsächlich in einen leichten, unruhigen Schlaf hatte fallen lassen, doch als sich die einzelnen Mitglieder dieser Gruppe allmählich zurückzogen, wachte ich wieder auf und lauschte auf vorsichtig trappelnde Schritte und leises Flüstern, das meist den Kindern galt. Sie alle waren unglaublich leise, aber die Geräusche von gut einem Dutzend Menschen, die zusammen in einem Lager schliefen, hielten mich wach. Hier ein unterdrücktes Husten, dort Atmen, ein leises Stöhnen, eine weinerliche Kinderstimme, Geflüster. Holz knarrte, Decken raschelten. Und ich lag da, starrte in die Dunkelheit und atmete ganz flach, nur um niemanden auf mich aufmerksam zu machen. Schließlich kehrte tatsächlich Ruhe ein und von allen Seiten drangen die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge an mein Ohr, die verrieten, dass die meisten Bewohner wohl tatsächlich schliefen.
Ich rollte mich wieder herum und schloss die Augen, aber es brachte nichts. Die Kälte war durchdringend und die dünne Decke, die man mir gegeben hatte, half kaum. Ich hatte mich zusammengerollt, die Arme um den Körper geschlungen, doch der kalte und harte Untergrund machte es mir schwer, so etwas wie Entspannung zu finden. Ich presste die Augen noch fester zusammen, versuchte nicht auf das Atmen und all die anderen leise Geräusche zu achten, während meine Zähne bebend aufeinanderschlugen. Doch schlafen konnte ich so wohl kaum. Wollte ich auch nicht, denn plötzlich packte mich eine völlig irrationale Angst, dass ich vielleicht alles vergessen würde, dass ich... Es war verrückt, dieser Ort, diese Leute, diese... Ich würgte den Gedanken ab, aber schon wieder begannen meine Augen zu brennen. Großer Gott - und mir war so unglaublich kalt! Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so gefroren zu haben. Noch mehr heiße Tränen sammelten sich in meinen Augen.
Verdammt! Ich wollte nicht heulen wie ein kleines Kind, nicht schon wieder. Ich war erwachsen, ich konnte das händeln. Ich musste nur... nachdenken... und...
Während ich versuchte meine wirren Gedanken zu bändigen und dabei vor Kälte schlotterte, berührte mich plötzlich etwas an der Schulter, so dass ich erschrocken zusammenfuhr. Doch bevor ich mich umdrehen oder aufrichten konnte, spürte ich die Anwesenheit eines anderen und gleich darauf flüsterte jemand an meinem Ohr: „Bleib liegen, sonst weckst du noch alle auf."
Seho! Ich erkannte ihn an seinem Geruch noch bevor ich seine Stimme einordnen konnte. Der unverwechselbare Geruch nach frischer Wäsche und scharfer Seife. Aber was...? Eine zweite Decke wurde über mir ausgebreitet, sie war warm und roch nach ihm. Und bevor ich wirklich begriff, schlüpfte er auch schon neben mich auf die dünne Unterlage. Schnell und lautlos.
„Und jetzt komm her", flüsterte er, zog mich dabei an sich und legte einen Arm um meine Mitte. Ich ließ es einfach geschehen und regte mich nicht. Zu durcheinander war ich gerade und zu erleichtert auch, nicht mehr allein zu sein. Es war eine Geste, mehr nicht, und ich nahm sie dankbar an. Seufzend kroch ich etwas an ihn heran und eingehüllt in seine Körperwärme, begann ich erneut zu weinen. Gerade wusste ich nicht einmal warum. Ich schluchzte, das Gesicht an seiner Brust vergraben, atmete dabei seinen Geruch ein, spürte wie seine Hand beruhigend meinen Rücken hinauf und hinunter fuhr und lauschte den leisen Worten, die er in meine Haare murmelte. Ich verstand nichts davon, aber sie verfehlten ihre Wirkung dennoch nicht.
Irgendwann versiegten meine Tränen, mein Zittern ließ nach und, getröstet allein durch seine Anwesenheit, durch die spürbare Wärme, die er ausstrahlte, entspannte ich mich ein wenig. Ich wusste nicht, warum er das tat, ob er mich in der Dunkelheit gehört und Mitleid gehabt hatte, aber ich hoffte, er würde bleiben.
Seine Nähe war angenehm. Ein menschliches Wesen, jemand, der neben mir atmete und den ich spüren konnte. Als ich mich beruhigt hatte, bewegte sich auch seine Hand in meinem Rücken kaum mehr.
„Schlaf", hörte ich. „Es wird dir nichts geschehen."
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