Ein kleiner Ausflug
16-Ein kleiner Ausflug
Zeit: Sommer 79 / Ort: Capitol Distrikt
Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, war es gerade hell geworden. Die meisten anderen hatten geschlafen, nur Eliza und auch Mina hatten in der Küche gestanden, um das Frühstück vorzubereiten und Proviant für uns zu packen. Ihnen half Blue und es war nach all der Zeit tatsächlich das erste Mal, dass ich den Jungen sah, ohne dass er sich im Windschatten von Sannie versteckte. Es war auch das erste Mal, dass er mich offen ansah, fast ein bisschen neugierig und ich lächelte überrascht.
„Guten Morgen..."
Seho stand in der Ecke mit Eliza und besprach etwas mit ihr und in der Zwischenzeit hatte mir Blue einen Becher mit dampfendem Tee gereicht.
„Morgen", nuschelte er ebenfalls, das erste Wort, das er gezielt an mich richtete. Ich war so perplex, dass ich ganz vergaß, ihn nicht anzustarren. Und das war auch nicht so einfach. Die Augenklappe allein hätte dafür gereicht, dass er die Blicke auf sich zog, andererseits musterte er mich gerade ebenfalls sehr intensiv. Das verbliebene Auge war von einem markanten Blau, dunkler, als gewöhnlich mit goldenen Sprenkeln darin, was einen hübschen Kontrast zu seinem rotbraunen Haaren schuf, sein Gesicht war schmal, mit fast femininen Zügen und ich korrigierte meine Annahme, denn offenbar war er doch etwas älter, als er bisher auf mich gewirkt hatte. Er hatte eine feine Narbe im Mundwinkel, eine zweite an der Oberlippe und noch zwei weitere in Höhe seiner Schläfe, sodass sie sich fast im Haaransatz verloren und trotzdem stand unbestreitbar fest: Dieser Junge war außergewöhnlich hübsch. Ich fragte mich – nicht zum ersten Mal – was ihm wohl zugestoßen und warum er hier gelandet war. Sannie hatte ihn hergebracht, so viel wusste ich schon, aber sonst schwiegen sich alle Bewohner hier gründlich über ihn aus. Warum?
„Willst du Frühstück?", mischte sich Mina ein. Da ich jedoch immer noch den Schock verdaute, dass Blue mit mir gesprochen hatte und mich weiterhin noch so neugierig anstarrte, antwortete ich nicht sofort und plötzlich zog er kichernd den Kopf ein und versteckte sich halb hinter Mina.
„Schon gut, Schätzchen", murmelte Mina. „Jonah ist bestimmt nur genauso erschrocken wie du, hm?"
Jetzt fing ich einen warnenden Blick des Mädchens auf, während Blue erneut neugierig über ihre Schulter linste und mich beobachtete.
Hatte ich irgendwas verpasst?
In der Zwischenzeit kamen auch Seho und Eliza zu mir herüber, wir setzten uns an den großen Küchentisch, der für gewöhnlich als Arbeitsplatte diente, Seho mir gegenüber und schon kam Mina angesaust und stellte Schüsseln vor uns ab. Sie grinste und ich wusste nicht warum. Es gab den üblichen Frühstücksbrei, etwas, das ich als Porridge bezeichnet hätte, auch wenn es hier keiner so nannte. Meistens gab es ein bisschen Obst dazu, ich hatte aber auch schon eine deftige Version kennengelernt. Heute war er süß und kaum hatte ich nach meinem Löffel gegriffen, stand Mina wieder neben mir und stellte behutsam einen kleinen Teller vor mir ab, darauf eine Handvoll Beeren.
„Magst du Himbeeren? Sind ganz frisch, hab' ich selbst gepflückt." Etwas peinlich berührt von der Geste rutschte ich auf meinem Platz herum, sah dann auf und zwang mich zu einem Lächeln. „Ja, danke."
Mina strahlte über das ganze Gesicht, was sofort verschwand, als auf der anderen Seite Seho dezent hüstelte. Er hatte keine Beeren bekommen.
„Oh!" Mina wurde rot, wirbelte herum, wieder zurück und wischte sich nervös die Hände an ihrer obligatorischen Latzhose ab. „Willst du... willst du auch welche? Ich kann-"
„Nein, schon gut", wehrte Seho amüsiert ab und leiser, sodass nur ich es verstand, folgte ebenso belustigt: „Ich bin Kummer gewohnt."
Mina zögerte immer noch, wandte sich unschlüssig mal hierhin, mal dorthin, bis Seho sich seufzend zurücklehnte. „Schon gut, Mina, ich brauche wirklich nichts. Aber Joghurt mit Himbeeren wäre wieder mal toll – vielleicht wenn wir zurückkommen?"
„Joghurt!", mischte sich Eliza schnaubend ein. „Aber sonst hast du keine Wünsche, hm?"
Seho grinste und wiegte den Kopf. „Nur ganz kleine."
„Ja ich merk' schon." Mit einem belustigten Kopfschütteln wandte Eliza sich wieder ab und scheuchte nun auch Mina auf, ihr zu helfen. „Joghurt", hörte ich sie murmeln, „ich kann dem Herrn auch Goldfäden in sein Kissen sticken." Seho kicherte leise, wurde aber schnell wieder ernst und legte einen Finger an seine Lippen. Sein Blick glitt über mich hinweg und ich drehte mich automatisch um. Hinten am Herd stand Blue und strahlte uns breit grinsend an. Äußerst verwirrt wandte ich mich wieder meinem Essen zu und naschte ein paar Himbeeren, schob dabei den Teller ein Stück in die Mitte und sah zu Seho hin.
„Willst du?"
Er schmunzelte. „Bist du verrückt? Ich lege mich doch nicht mit Mina an." Etwas ernster meinte er: „Iss auf – mach ihr die Freude."
Also zuckte ich die Schultern und tat genau das.
„Was ist mit Blue?", fragte ich flüsternd, während ich mir Beerensaft von den Fingern leckte.
„Gar nichts." Seho schmunzelte und richtete sich auf. „Blue? Magst du ein paar Himbeeren von Jonah?"
Ich drehte mich ebenfalls um, sah noch, wie der junge Kerl wild den Kopf schüttelte und dann mit roten Wangen aus dem Raum floh. Seho grinste.
„Ich glaube du machst ihn furchtbar neugierig", erklärte er gut gelaunt.
„Du kannst manchmal so ein Scheusal sein", schimpfte Eliza. „Der arme Junge hüpft jetzt wieder den halben Tag nervös herum."
„Ach was", wiegelte Seho ab. „Er ist neugierig, das ist ein gutes Zeichen." An mich gewandt fuhr er fort. „Das heißt, er mag dich wohl. Zumindest hat er keine Angst mehr vor dir."
Mit einem vagen Lächeln nickte ich, schwieg aber dazu. Hatte sich je einer von ihnen gefragt, ob ich vielleicht Angst vor ihnen hatte?
Nach unserem schnellen Frühstück brachen wir auch schon auf und obwohl ich bisher – außer dem dunklen Regierungswagen – hier nie ein Fahrzeug gesehen hatte, wurde mir erst jetzt mit aller Deutlichkeit bewusst, dass Seho tatsächlich vorhatte, in die Stadt zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit das war, aber die Ankündigung, dass wir drei bis vier Tage unterwegs sein würden, bescherte mir plötzlich ein flaues Gefühl im Magen.
Unruhig sah ich ihn von der Seite an.
„Sag mal, als du meintest drei bis vier Tage...meintest du da unterwegs sein, oder übernachten?"
„Beides", er grinste breit, was ihn jugendlich-frech, ja fast übermütig wirken ließ.
Beides?! Ich starrte ihn unverhohlen entsetzt an. „Du... du meinst... campen?"
„Campen, hm?" Seine Augenbraue zuckte. „Ich meine wir werden zwei Tage hin und zwei Tage zurück brauchen, das heißt wir übernachten unterwegs im Wald, ja, und einmal in der Stadt. Also – nur wenn du willst. Aber ich dachte, ein bisschen rauszukommen könnte dir guttun. Was meinst du?"
Ich meinte gar nichts und ich wollte auch nicht wirklich zugeben, dass ich solche Tagesmärsche nicht gewohnt war. Ein bisschen wandern, klar. Ein bisschen in den Nationalparks herumklettern, warum nicht. Wenn es abends ein hübsches Hotel gab, in dem man sich verwöhnen lassen konnte. Aber ich bezweifelte stark, dass er sowas gemeint hatte.
Und ich sollte recht behalten. Anfangs trieb Seho mich an, damit wir zur Mittagshitze nicht mehr über freie Felder liefen, wie er meinte, doch im schattigen Wald wurde der Weg eher noch beschwerlicher. Zwar war es hier angenehm kühl und das Aroma der Luft war unbeschreiblich, allerdings hatte ich wenig Muße, den Zauber der Natur auf mich wirken zu lassen. Wir liefen, liefen, liefen – ich kam mir vor wie beim Todesmarsch von Stephen King – und irgendwann schlug meine Erschöpfung auf die übelste Weise zu, die man sich denken konnte. Ich wurde unleidig und nölte wie ein kleines Kind, was mir zwar bewusst war, sich aber trotzdem nicht abstellen ließ.
Die Beine taten mir weh, ich war mir ziemlich sicher, dass ich mir eine Blase gelaufen hatte, ich schwitzte wie ein Schwein, worauf ich von Seho belehrt wurde, dass Schweine nicht schwitzen würden. Das kostete mich nur ein Schnauben und Augenrollen, elender Besserwisser. Insekten umschwirrten uns, mich hatten gefühlt 7000 Mücken gestochen und ich war hungrig, und durstig und müde und...
„Sind wir bald da?", fragte ich zum wiederholten Mal und Seho lachte leise.
„Weißt du, wie du klingst?"
Eigentlich war es mir scheißegal wie ich klang, deswegen brummelte ich auch nur etwas Unverständliches und wieder lachte Seho.
„Wie der Esel bei Shrek."
„Ha-ha, sehr witzig", gab ich spitz zurück und rollte erneut mit den Augen. Dennoch bemühte ich mich, zu ihm aufzuschließen. „Möchtest du mich begleiten", äffte ich ihn nach, „mal rauszukommen könnte dir guttun."
Breit grinsend sah Seho mich an. „Und es tut dir gut. Du schimpfst ununterbrochen. Ich glaube nicht, dass ich dich in den letzten Wochen jemals so energiegeladen gesehen habe."
„Eher geladen", murrte ich, „weniger Energie."
„Okay, ein Vorschlag zur Güte. Wir ziehen noch ein kleines Stück durch, dann suchen wir uns ein hübsches Plätzchen und wenn du bis dahin nicht maulst, musst du mir nicht helfen, das Lager aufzubauen. Wie klingt das?"
Machbar.
„Gut", sagte ich, nickte und setzte mich wieder in Bewegung. Seho plapperte jetzt fröhlich, erzählte dies und das, aber ich hörte ihm nicht so recht zu. Ich war damit beschäftigt, die Zähne zusammenzubeißen, nur damit ich ja nicht meckerte.
Gut 45 Minuten später war es dann soweit, Seho bog von dem Trampelpfad ab, der mehr oder weniger gut sichtbar durch den Wald führte, schleppte mich noch über eine kleine Anhöhe und erklärte dann unser Ziel für erreicht. Ich plumpste ächzend auf einen moosbewachsenen Baumstamm und ließ den Rucksack von meinen Schultern gleiten.
„Oh", Seho beugte sich zu mir herab und packte mich mit zwei Fingern am Kinn, wie man es auch bei Kindern machte. „So ein tapferer, kleiner Wolf", nuschelte er in diesem Kinder-Singsang, lachte dann als ich dumpf murrte und richtete sich wieder auf.
„Bleib sitzen, ich mache den Rest. Und... ich bin stolz auf dich, du hast dich wacker gehalten."
„Na vielen Dank auch", bemerkte ich bissig, kramte nach meinem Wasser und nahm einen Schluck. „Warum habt ihr eigentlich keinen Wagen?", fragte ich missmutig.
„Wir", verbesserte er mich prompt. „Warum haben wir keinen Wagen – du musst dich nicht ausschließen."
„Okay, und warum nehmen wir dann keinen Wagen?"
„Jonah", Seho klang belustigt. „Weil wir keinen haben. Die sind viel zu teuer und vom Benzin will ich gar nicht reden. Ich wüsste nicht, wo wir es hernehmen sollten."
Ich wiederum dachte an den dunklen Wagen, der am Haus gestanden hatte, schwieg aber dazu.
„Und was ist mit einer Pferdekutsche? Oder einfach mit Pferden? Wir haben eine Kuh! Hühner! Warum haben wir keine Pferde?"
Während wir sprachen rollte Seho Decken aus, Schlafsäcke, packte das mitgebrachte Essen aus, Tee und stopfte die Plastikplane nach einem kurzen Blick in den Himmel wieder in den Rucksack. „Oh, wir hatten Pferde", sagte er dabei. „Zwei."
Großartig. Ich öffnete meine Schuhe und streifte den ersten ab. „Und wo sind sie jetzt?"
„Wir haben sie gegessen."
Abrupt ließ ich den Schuh fallen, hob den Kopf und starrte ihn an. „Was?!"
Aber Seho gab keine weitere Erklärung, sah mich nur an und da auch mir die Worte fehlten, kam er jetzt zu mir herüber.
„Zeig mal deinen Fuß", verlangte er, griff prompt danach und ich wäre beinahe rückwärts vom Baumstamm gerutscht, so erschreckte ich mich.
„Nein!", quietschte ich, strampelte dabei, weil ich ihn nicht treten wollte, bekam meinen Fuß aber nicht frei. „Herrgott!", zischte ich dann. „Ich stecke seit Stunden in diesen Stiefeln, glaub mir du willst meinen Fuß nicht anfassen."
Aber auch das schien Seho bestenfalls zu amüsieren. „Wie dramatisch", sagte er kopfschüttelnd. „Als wäre ein verschwitzter Fuß das schlimmste, was ich je in meinem Leben angefasst hätte – da könnte ich ja noch von Glück reden und jetzt stell dich nicht so an!"
„Aber-!", begann ich, jedoch würgte Seho meinen Protest mit einem geübten Griff ab, zog mir kurzerhand die Socke aus und besah sich meinen lädierten Fuß.
„Jess!"
Ich glaube, wir bemerkten es gleichzeitig, denn er hielt überrascht inne und sah grinsend auf und auch ich schmunzelte. „Bitte lass mich los", bat ich ruhiger. „Ich bin sicher, ich werde es überleben."
Tatsächlich stellte er meinen Fuß behutsam auf den Boden und erhob sich dann. „Wirst du auch", sagte er dabei, „aber lass die Socke mal eine Weile aus."
Gehorsam nickte ich, zog dann, weil es jetzt ohnehin schon egal war, auch den zweiten Schuh samt Socke aus und stakste ein wenig unbeholfen auf dem Waldboden herum. Es piekste und stach und trotzdem musste ich grinsen. Nachdem mein kindlicher Anflug vorüber war, kehrte ich auf die Decke zurück und setzte mich neben ihn. Seho hatte Essen ausgepackt und schob mir die eingewickelten Pakete zu.
„Na los, iss."
Mein Magen knurrte laut, also ließ ich mir das nicht zwei Mal sagen, mampfte zufrieden und war für den Moment mit mir und der Welt im Reinen. Nach dem Essen wurde ich, obwohl es noch nicht mal dämmerte, schläfrig. Ich gähnte ein paar Mal mehr oder weniger verhalten und irgendwann meinte Seho, ich solle doch einfach schlafen. Wollte ich aber nicht, brauchte ich doch nicht! Aber ich streckte mich trotzdem auf meinem Schlafsack aus und verfolgte von dort Sehos Treiben. Wie er sorgsam das Essen wieder einwickelte und verstaute, eine kleine Feuerstelle herrichtete und entzündete. Immer noch staunte ich darüber, wie geschickt und schnell sowas gehen konnte. Ich selbst stellte mich da immer noch ziemlich dumm an. Wie er kleine Kartonstücke zurechtschnitt – wozu auch immer. Und wie er...
Die flackernden Flammen lullten mich ein, ich fühlte mich wie in Trance und ehe ich mich versah, war ich tatsächlich eingeschlafen. Mitten in der Nacht wachte ich auf, das Feuer war heruntergebrannt und glomm nur noch ein wenig, während ein fast voller Mond sein bleiches Licht durch die Baumkronen schickte. Seho hatte sich nun ebenfalls in seinen Schlafsack eingerollt, seine Brille lag auf seinem Rucksack und er schlief offenbar fest. Einen Moment lang betrachtete ich ihn, merkte, wie ein Schmunzeln an meinen Mundwinkeln zupfte, dann kroch ich tiefer in meinen Schlafsack und schloss seufzend die Augen.
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