11-Ein geheimer Besucher
Zeit: unbekannt/ Ort: Capitol Distrikt
Ezra ging und ließ mich bei Mina zurück, die ganz offensichtlich nicht wusste, was sie jetzt eigentlich mit mir anfangen sollte. Eine Weile stand sie also nur unschlüssig herum, während ich mich nicht rührte und zumeist auf meine Fußspitzen starrte. Was hätte ich auch tun sollen? Ein Mädchen mit meiner Krücke k.o. schlagen, um zu flüchten? So tief war ich noch nicht gesunken. Außerdem hatte ich – bis auf den Regierungswagen eben – kein Fahrzeug gesehen, das ich für eine Flucht hätte klauen können.
Schließlich, Mina hatte mich vermutlich als eher ungefährlich eingestuft, begann sie, das ganze Zeug aufzuheben, das vorher auf den Boden gerasselt war. Sie ächzte und stöhnte, während sie den Block wieder auf den Tisch hievte.
„Kann ich dir helfen?", versuchte ich das Eis zwischen uns zu brechen.
„Nein." Es kam wie ein Pistolenschuss und sofort wirbelte sie wieder zu mir herum, eine Hand am Schraubenschlüssel.
Ich hob die Hand. „Schon gut, ich... bin vermutlich sowieso recht nutzlos."
Das quittierte Mina mit einem Schniefen und Schulterzucken, wischte sich wieder die Haare aus dem Gesicht und hinterließ noch mehr Ölspuren auf ihrem Gesicht. Schließlich wandte sie sich einfach um und begann wieder zu arbeiten. Von Zeit zu Zeit warf sie mir einen misstrauischen Blick zu, aber da ich mich nicht von der Stelle rührte, entspannte sie sich nach einer Weile etwas.
Ich versuchte nicht, krampfhaft eine Konversation mit ihr zu führen, war eigentlich ganz froh, dass ich mal nicht sprechen, antworten, aufpassen musste, was ich sagte. So hing ich meinen eigenen Gedanken nach und schabte dabei gelegentlich mit dem Fuß auf dem Boden. Es war das erste Mal heute, dass ich Zeit hatte, überhaupt über etwas nachzudenken, und so kreisten meine Gedanken um den Wagen, den Besucher, vom Wagen zu den Partys, die mein Vater abgehalten hatte, die Gäste in eben diesen Wagen, um meinen Vater, meine Familie und stoppten schließlich bei...
„Hey du!"
Verwirrt hob ich den Kopf. All die guten Gefühle, die sich zwischendurch eingeschlichen hatten, waren wieder weg, und so starrte ich das Mädchen nur stumm an.
„Du fängst doch nicht an zu heulen, oder?"
Irgendwas an ihrer direkten und fast schon burschikosen Art, hatte auch einen gewissen Charme und so schmunzelte ich wohl ein wenig, versuchte mich zusammenzureißen und richtete mich etwas auf.
„Nein, ich-"
„Gut", unterbrach mich Mina, zog das verschmierte Tuch aus ihrer Tasche, wischte sich die Hände daran ab und warf es auf die Werkbank. „Kerle, die heulen, sind nämlich echt gruselig." Sie rollte dabei mit den Augen und ja, jetzt hatte sie mich. Ich lächelte zaghaft. Sie gab sich taff und rau, aber unter dem ganzen Schmutz war sie trotzdem nur ein Mädchen. Ein ziemlich hübsches sogar.
„Hör auf mich anzustarren", maulte sie mich nun prompt an und bevor ich mich dafür entschuldigen konnte, winkte sie schon ab. „Egal, kannst du denn irgendwas? Vielleicht bist du nicht so nutzlos, wie du denkst. Was hast du gemacht, bevor Sannie dich gefunden hat?"
Mit der gesunden Hand strich ich mir über den Nacken. „Ich habe studiert", murmelte ich leise und wusste seltsamerweise sofort, dass diese Antwort nicht gut war. „Bauingenieurwesen", setzte ich trotzdem hinterher und Mina fixierte mich neugierig.
„Studiert", wiederholte sie gedehnt, als müsse sie erst überlegen, was sie mit diesem Begriff verbinden soll. „Und was macht man so, wenn man studiert?"
Betreten sah ich sie an, dann weg und überlegte fieberhaft, was ich nun sagen sollte. Wenn ihr das alles kein Begriff war, dann – das war doch gar nicht möglich! Ich suchte nach der denkbar einfachsten Erklärung. „Na ja, in meinem Fall, ahm... lernt man...wie man Häuser baut." Nur mäßig gut umschifft, aber ihre Miene hellte sich auf.
„Oh, du baust Häuser! Das ist doch gar nicht so übel, kann man immer brauchen. Verstehst du auch was von Maschinen?"
Herrje, wie sollte ich ihr erklären, dass sie völlig auf dem Holzweg war, was meine Fähigkeiten betraf? Theoretisch wusste ich viel, praktisch hatte ich Null Erfahrung. Und ich baute auch keine Häuser. Ich hatte noch nicht mal ein Vogelhaus in der Schule gebaut.
Aber Mina grinste schief. „Na ja, wir werden sehen, komm mal her, ich könnte tatsächlich Hilfe gebrauchen."
Gehorsam stand ich auf, humpelte zu ihr hinüber und lehnte die Krücke an die Werkbank.
„Hier festhalten", wies sie mich dann an, deutete an besagte Stelle und lehnte sich gleich darauf wieder mit vollem Körpereinsatz auf – was immer das war.
Knirschend löste sich eine Schraube und Mina sprang mit einem triumphierenden Aufschrei auf den Boden zurück. „Elendes Mistding", kicherte sie dabei, „hat echt gedacht, es kriegt mich klein, aber nicht mit mir."
„Was ist das überhaupt?"
Mina wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. „Oh das... ist ein Projekt von Yule und mir. Er hat gemeint, ob ich ihm helfen könnte mit einer Pumpe für die Dusche draußen. Na ja", sie zog die Nase kraus, „wird vielleicht nicht schön, aber Hauptsache sie funktioniert, oder?"
„Okay", murmelte ich, ohne auch nur irgendwas zu verstehen, stattdessen deutete ich dann ein bisschen ungeschickt auf ihr Gesicht. „Du hast da..."
Sofort wischte sie erneut durch ihr Gesicht und machte es noch schlimmer. Ich biss mir auf die Lippe und Mina wurde rot, als sie das sah. Dabei wollte ich sie doch gar nicht in Verlegenheit bringen.
„Jetzt siehst du aus wie ein Quarterback."
Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. „Und ist das gut, ein Quarter...?"
Ich wurde wieder ernst. Sie wusste nicht, was das war? „Ja", sagte ich rasch und nickte dazu. „Gefährlich", ich deutete die schwarzen Streifen unter den Augen an. „Ein Kämpfer."
Jetzt grinste Mina verlegen und sah weg, das mit dem Kämpfer schien ihr zu gefallen. Vielleicht hatten wir auch gerade sowas wie ein kleines Bündnis, also wagte ich mich ein wenig vor.
„Wem gehört denn der Wagen draußen?"
Sofort brach das Grinsen aus ihrem Gesicht und sie wurde wieder ernst. Außerdem sah sie mich jetzt nicht mehr an.
„Darf ich dir nicht sagen", raunte sie dumpf und kramte wie besessen in einer Box mit diversen Schrauben.
„Warum nicht?" Noch konnte ich heiteres, belangloses Interesse heucheln. „Ich meine, das wird doch nicht-"
„Hör auf zu fragen!", schnappte sie und funkelte mich wütend an. „Oder ich hole Ezra." Dieser Drohung ging ich mit erhobenen Händen aus dem Weg und stellte alle Fragen ein. Es war sicher nicht klug, sie alle nach und nach gegen mich aufzubringen.
Kurze Zeit später wurden wir ohnehin von Ezra abgeholt und er wirkte ziemlich froh darüber, dass offenbar nichts vorgefallen war, beziehungsweise, dass ich keinen Ärger gemacht hatte. Ob seine Besorgnis Mina gegolten hatte oder mir, war dabei nicht zu sagen. Hätte er mich gefragt, hätte ich jedoch glaubhaft versichern können, dass ich in weit größerer Gefahr gewesen war, als sie. Wie auch immer.
Zum Mittagessen fanden sich alle wieder ein, nur Seho und Victor fehlten. Sun, wie ich mittlerweile wusste, Victors Frau, kam mit Verspätung, aber keiner verlor ein Wort darüber und so erfuhr ich auch nichts über den ominösen Besucher oder was das zu bedeuten hatte. Ich saß neben Sandrin, mir gegenüber Sannie, genau wie gehabt, aber beide hatten heute kein Lächeln übrig und hüllten sich in stoisches Schweigen. Womöglich lag das auch daran, dass Ezra sie genau beobachtete und ihnen immer wieder warnende Blicke zuwarf. Das machte mehr als deutlich, dass keiner von ihnen wollte, dass ich etwas erfuhr.
Am Ende des Tages war mir auch diese Erkenntnis fast egal. Der Tag war lang gewesen und der ungewohnte Rhythmus und alles, was dazu gehörte, forderten ihren Tribut. Es wurde gerade erst dunkel und ich fühlte mich bereits wie erschlagen. Eigentlich wollte ich nur noch auf meine Matte kriechen und schlafen. Heute hatte ich keine Sorgen, schlafen zu können.
Bis ich dann wirklich in meine Ecke kroch, war es immerhin spät genug, dass die Kinder ins Bett geschickt wurden. Sie kicherten, als sie mich sahen, aber das kostete mich nur ein müdes Lächeln. Auf meinem Platz fand ich dann eine zweite Matte, eine bunte gesteppte Patchworkdecke und einen Kapuzenpullover mit warmem, aufgerautem Futter. Alles war fein säuberlich zusammengelegt und obenauf war ein Apfel platziert. Ich musste schmunzeln. Sannie.
Der Boden war immer noch hart, aber zumindest war es jetzt nicht mehr ganz so kalt und die zusätzliche Decke erschuf sogar einen Hauch von Behaglichkeit. Meine Erschöpfung trug wohl ebenfalls dazu bei, dass ich mehr oder weniger sofort in einen traumlosen Schlaf sank. Geweckt wurde ich später in der Nacht von Seho, den ich an diesem Tag nicht einmal gesehen hatte, und er erkundigte sich flüsternd, wie es mir ging. Da ich nur was von „okay", murmelte, ließ er mich in Ruhe und ich fiel, ohnehin schon wieder halb schlafend, zurück auf mein Kissen.
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