Der ganz normale Wahnsinn
58- Der ganz normale Wahnsinn
Zeit: Frühling 80 / Ort: Capitol Distrikt
Eigentlich wollte ich noch nicht zurück und auf dem Weg nach Hause trödelten wir beide, nur um noch eine kostbare Minute herauszuschlagen. Nur noch eine. Das Wetter war gut und die lauen Temperaturen sorgten wohl zusätzlich dafür, dass wir unseren eigenen kleinen Kokon nicht wirklich verlassen wollten.
Erst als wir es wirklich keinen weiteren Moment hinausschieben konnten, machten wir uns auf die letzte Etappe unserer Heimreise, hielten uns dabei an den Händen, schwiegen, während sich unsere Blicke gelegentlich ineinander verhakten und uns schmunzeln ließen.
Ich nehme an, man konnte es uns ansehen – nein – man musste uns ansehen, dass sich etwas zwischen uns deutlich verändert hatte, aber niemand sagte ein Wort, als wir wieder im Sägewerk auftauchten. Es war der übliche aufgeregte Tumult, die Kinder konnten kaum erwarten zu sehen, was wir mitgebracht hatten, während die Älteren begierig auf Neuigkeiten lauerten.
Diese gab es nach dem Essen im Gemeinschaftsraum. Dazu machte Ezras Spezialmischung ihre Runde und ich ließ Seho ganz alleine reden, begnügte mich damit, an seiner Seite zu sein, meine Finger mit seinen zu verschränken, mit einem ganz neuen und ungewohnten Gefühl, jetzt, wo ich den Ring trug. Immer wieder drehte ich das Schmuckstück, doch erst als Seho meine Hand fester nahm, fiel mir auf, dass er seinen Ring nicht mehr trug. Das war... überraschend und ich fragte mich, warum es mir nicht vorher aufgefallen war. Stumm strich ich über seinen Finger, auf dem sich die helle Linie abzeichnete. Seho wandte den Kopf, sah mich an und lächelte schwach, wieder drückte er meine Hand. Ich nahm mir vor, ihn später danach zu fragen, wenn wir allein waren und rollte mich gerade zufrieden an seiner Seite ein, als die Tür aufging und Mina in den Raum geschlichen kam.
Sie sah furchtbar aus, blass, mit tiefen Schatten unter den Augen, zudem war ihr Gesicht total verheult. Schon wieder – immer noch, es war unfassbar, was mit dem Mädchen geschehen war. Jetzt stand sie da, mitten im Raum, hatte die Ärmel ihres Pullis über die Hände gezogen und drehte den Stoff zu kleinen Knäueln, während sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden allmählich auf sie richtete.
„Ihr müsst ihn finden", brachte sie mit dünner Stimme hervor, sah nun doch auf und ihr hilfesuchender Blick glitt über die ihr zugewandten Gesichter. „Bitte..."
Ezra senkte den Blick, Connor ebenfalls, selbst Miro, ihr eigener Bruder, hüllte sich in betretenes Schweigen. Seho löste die Hand aus meinem Griff und richtete sich etwas auf, aber Victor kam ihm zuvor.
„Wen? Wen müssen wir finden?"
Fast panisch huschte Minas Blick jetzt zu ihm hin und sie starrte ihn an, ohne zu blinzeln.
„Bonnie." Nur gehaucht.
Sie begann zu zittern. „Ihr müsst ihn finden und zurückbringen."
„Aber-", setzte Victor gerade an, da stand Seho auf und schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.
„Mina? Was ist passiert? War er nochmal hier? Hast du mit ihm gesprochen, seit er verschwunden ist?"
Hektisch schüttelte sie den Kopf. „Nein... nein." Dann wich sie einen Schritt zurück, die Bewegung war zittrig und unsicher. „Ich..." Schon wieder weinte sie.
„... bin schwanger."
Ihre geflüsterten Worte schlugen ein wie eine Bombe, saugten zuerst alles auf, jedes Geräusch, jeden Atemzug, nur um dann in einem wahren Getöse zu explodieren. Plötzlich waren alle auf den Beinen, Eliza umarmte und hielt das laut weinende Mädchen, während Sun und auch Seho beruhigend auf sie einredeten. Der Rest verlor sich im Chaos. Hatte er ihr wehgetan, hatte er sie gezwungen? War Mina am Ende schuld daran, dass Sandrin tot war, weil sie sich einem Mörder verschrieben hatte? Hatte er sie manipuliert, sie und uns alle?
Und so, wie die Wut bei manchen anschwoll, brach Mina immer mehr ein. Am Ende nahm Seho sie mit auf die Krankenstation und mit ihm gingen Eliza und Sun. Ezra wirkte unterdessen kampflustig und sprach sich dafür aus, das Arschloch tatsächlich zu jagen und ihn dann auszuweiden. Connor versuchte ihn zu beruhigen, aber die hitzige Diskussion darüber, wie gefährlich diese Neuigkeiten für uns sein konnten, brach nicht ab.
Natürlich wussten wir nicht, wie dieser durchgeknallte Freak tickte, wir wussten nicht, ob es ihm gleichgültig war, oder ob ihn eine sonderbare Zuneigung – und wenn auch nur für sein Kind – am Ende zu uns zurückführen würde. Und was dann? Sollten wir ihn etwa in unsere Gruppe integrieren, wohlwissend, dass er bereits einen von uns getötet hatte?
Ich war froh, dass ich nicht zu den Leuten gehörte, die solche Entscheidungen treffen mussten, stahl mich schließlich davon und schlich zur Krankenstation, um zu sehen, ob ich dort helfen konnte. Allerdings verwehrte mir Seho dort den Zutritt, schickte mich stattdessen ins Bett und ich fügte mich ausnahmsweise ohne Murren.
Bis er an meine Seite kroch, war ich längst eingeschlafen und auch jetzt rollte ich mich nur müde zu ihm herum und schmiegte mich in seine Umarmung.
„Alles okay?", nuschelte ich undeutlich.
„Mhm." Seho küsste meinen Scheitel, seine Hand glitt über meinen Rücken.
„Geht es Mina gut? Hat er..."
„Ich weiß es nicht", flüsterte Seho in meine Haare. „Und ich weiß nicht warum, aber ich glaube, er hat ihr tatsächlich das Herz gebrochen."
Blinzelnd richtete ich mich etwas auf und legte das Kinn auf seiner Brust ab. „Dann mochte sie den Scheißkerl wirklich?"
Seho zuckte die Schultern. „Und sie tut es noch. Wir müssen auf sie aufpassen. Ich will nicht, dass sie irgendwelche Dummheiten macht und ihr Leben aufs Spiel setzt, wegläuft... du weißt schon."
Mit einem leisen Seufzen legte ich den Kopf ganz auf seiner Brust ab und schloss zufrieden die Augen, während Seho sanft durch meine Haare strich.
Ich konnte Mina auf gewisse Weise sogar verstehen. Man suchte sich nun Mal nicht aus, für wen man etwas empfand und wenn die Gefühle stark genug waren, spielte alles andere nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Tage, in denen Seho als vermisst galt, blitzten in Bildern in meinem Kopf auf und ich konnte mich noch viel zu gut daran erinnern wie ich mich damals gefühlt hatte. Hilflos, klein, nutzlos.
„Wenn sie dich nicht zurückgebracht hätten, wäre ich selbst in die Stadt gegangen, um dich zu suchen", murmelte ich, für Seho sicher völlig zusammenhanglos. Aber er verstand mich schon, die Hand lag einen Moment lang still.
„Du hättest doch gar nicht gewusst, wohin du dich wenden solltest."
Ich zuckte mit den Schultern, hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Ich wäre trotzdem gegangen."
Ruhig betrachtete mich Seho, dann seufzte er leise. „Sie hätten dich erwischt, verurteilt... Du wärst jetzt tot."
„Ja, wahrscheinlich", stimmte ich ihm zu. Auch das hätte keine Rolle gespielt.
Seho blinzelte und ich rückte ein Stück höher, um ihn zu küssen.
„Warum hast du Jasons Ring abgenommen?", flüsterte ich in die Dunkelheit. „Das hättest du nicht tun müssen."
„Ich weiß." Ein trauriges Lächeln huschte über seine Miene. „Aber es war Zeit."
Stumm nickte ich, verschränkte meine Finger mit seinen und schmiegte mich wieder an seine Seite. Seho hatte die trägen Streicheleinheiten wieder aufgenommen und ich schloss zufrieden die Augen. Irgendwann lag seine Hand still, sank hinab, nur noch eine leichte Berührung in meinem Rücken und ich wusste, er war eingeschlafen.
Ich selbst lag noch lange wach, dachte an meine Familie, an Gino, aber der Schmerz, ihn losgelassen zu haben, war verklungen. Es war okay, ich würde ihn ohnehin nie vergessen. So wie Seho Jason nie vergessen würde.
~FIN~
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-- Kommt euch das Ende wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm vor? Dann habt ihr das richtige Gefühl. Wer also nicht in den Sturm geraten möchte, kann hier aufhören und ist hoffentlich zufrieden mit dem versöhnlichen Ende.
Wer allerdings gerne mal bei Gewitter vor die Tür geht...
In Arbeit: Zeitsplitter Teil II „Zeitbrücken".
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