Bau dir eine Brücke
6-Bau dir eine Brücke
Zeit: unbekannt/ Ort: Capitol Distrikt
Nachdem ich mit Eliza gesprochen hatte, folgte die unvermeidliche Diskussion mit Victor und Santiago. Zunächst aber hörten wir Victors Lagebericht. Er war noch einmal mit Connor draußen gewesen, um das Gebiet weitläufig abzusuchen, vor allem, seit wir wussten, dass unser Neuzugang nicht allein gewesen war. Allerdings wirkte Victor durch und durch unzufrieden.
„Wir sind weit über die Grenze gegangen, sind die komplette Linie des Sperrgebiets zum Waldrand hin abgelaufen, nichts deutet darauf hin, dass dort in letzter Zeit irgendwas Besonderes vorgefallen ist. Wenn dort Reifenspuren waren, dann ist das nach diesem beschissenen Gewitter-"
„Vitya!", zischte Sun dazwischen und er winkte augenrollend ab.
„... und dem Dauerregen doch alles aufgeweicht und verwischt."
„Also nichts, sagst du?", hakte ich nach und jetzt nickte Victor unwillig. Sun rückte unruhig ein Stück näher.
„Und wenn etwas da war? Wenn sie heimlich in der Nacht kommen und so schnell wieder verschwinden, dass wir sie nicht bemerken?"
„Kíßka*", schmunzelte Victor und nahm ihre Hand. „Hältst du mich für so unfähig?"
„Ich bin nur vorsichtig", wandte Sun ein, ohne wirklich darauf einzugehen. „Ich will wissen, ob wir hier noch sicher sind."
„Wir sind sicher", entschied ich. „Du warst selbst mit Santiago dort draußen, Victor war zweimal draußen, mit Ezra, mit Connor. Wenn keiner von euch was gefunden hat, ist da auch nichts."
„Und der zweite Kerl?", wandte Santiago vorsichtig ein.
„Würde keine Rolle spielen, wenn wir den ersten hätten liegen lassen!", giftete Sun schneller, als ich antworten konnte.
„Wir wissen doch gar nicht, inwieweit wir den Aussagen unseres unfreiwilligen Gastes glauben können, in dem Zustand kann er alles Mögliche erzählen", versuchte ich die Gemüter zu beruhigen, aber es half nicht. Und dass sich Sun eben auch noch einmischte und natürlich auf die Seite ihres Mannes schlug, machte die Sache nicht einfacher. Am Ende trennte ich die Streithähne mit einem Machtwort und einer Entscheidung, die ich mit gutem Gewissen tragen konnte. Sun und Victor übernahmen fürs Erste engmaschige Patrouillengänge, und zwar zusammen mit Ezra und Connor, während Santiago die nächsten vier Wochen das Lager nicht verlassen würde. Mir war klar, dass das den Jungen hart traf, weil ausgerechnet Santiago unglaublich freiheitsliebend war und Stunden damit zubringen konnte, überall herumzustreifen. Abgesehen davon war er unfassbar neugierig und die langweiligen Arbeiten hier im Lager waren sicher Strafe genug.
Santiago wehrte sich nicht gegen meine Ansage, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Trotzdem hockte er am Ende wie ein Häufchen Elend in seiner Ecke, da war Victor längst gegangen.
„Du lässt mich echt vier Wochen nicht raus?", brummelte er und sah mich dabei an wie ein Hundebaby. Süß, keine Frage, aber dagegen war ich immun – oder: musste es sein.
„Dir war doch hoffentlich klar, dass du nicht ungeschoren davonkommst."
„Jaah!" Mit einem tiefen Seufzen blies er sich eine verirrte Haarlocke aus der Stirn und strich sich am Ende durch den hellbraunen Haarschopf. „Ich dachte nur-"
„Du dachtest nicht genug", unterbrach ich ihn. „Das ist das Problem. Keine Ahnung, was du im Kopf hattest, aber diese Aktion war mehr als nur riskant und solange wir nicht wissen, was wir mit dem armen Teufel nun anfangen sollen, wirst du dir sicher noch ein paar unschöne Dinge anhören müssen."
„Jaah...", machte er wieder und senkte nun den Blick auf seine Füße. Die unordentlichen Locken fielen wieder in seine Stirn.
„Darf ich jagen?", fragte er murmelnd.
„Nein."
Jetzt hob er den Kopf und sah mich finster an. „Darf ich wenigstens die Fallen kontrollieren?"
„Nein. Was genau ist unklar an: Du verlässt das Lager nicht?"
„Ach, jetzt komm schon!" Unwillig trat er nach einem kleinen Hocker in der Nähe. „Darf ich überhaupt irgendwas?"
„Du kannst Eliza beim Kochen helfen", schlug ich schmunzelnd vor und erntete natürlich ein Augenrollen.
„Vier Wochen", fügte ich leise an. „Du weißt, dass das gerechtfertigt ist."
Wieder seufzte er, dann erhob er sich umständlich und ich stand ebenfalls auf.
„Dann gehe ich jetzt Kartoffeln schälen... oder Reis waschen... oder... keine Ahnung..."
Ich ignorierte den vorwurfsvollen, maulenden Ton. „Mach das", sagte ich, klopfte ihm dabei freundschaftlich auf den Rücken und sah ihm einen Moment nach.
Und plötzlich war ich tatsächlich allein, ein Umstand, der eher selten vorkam, denn eigentlich gab es immer was zu tun, jemand brauchte Hilfe oder irgendetwas in der Art. Wirklich ruhig wurde es meistens nur in der Nacht. Tagsüber hatte man wenig Möglichkeiten, sich auch mal zurückzuziehen, aber soeben bot sich eine winzige Chance. Und nach den letzten Nächten in der Krankenstation mit unserem Neuzugang war ich wirklich hundemüde. Vielleicht konnte ich mir eine Stunde stehlen? Für einen kurzen Moment stand ich noch unschlüssig da, dann machte ich mich auf, lief durch den Gemeinschaftsraum, wo Mina mit den Kindern saß und mir kurz zunickte, dann weiter durch den Essensraum, der komplett verwaist war und erreichte am Ende des langen Gebäudes den Schlafbereich. Da der Platz begrenzt war, hatten wir nur einen Gemeinschaftsschlafraum und dieser lag eine Etage höher, unter der Dachschräge, über eine schmale, nachträglich gebaute Treppe zu erreichen. Die Zwischendecke war ebenfalls beim Umbau eingezogen worden, so hatten wir darunter ein großzügiges Vorratslager und auf dieser Ebene zumindest genug Platz, dass jeder sich seine Ecke suchen und nach seinen Vorstellungen gestalten konnte.
Oben angekommen gab es ein paar geflochtene Trennwände und Vorhänge und in den so geschaffenen Nischen standen unsere Kleidertruhen und lagen die Matratzen. Kleine Nester, die sich jeder für sich geschaffen hatte, manche ganz schlicht, manche ein wenig dekoriert. Aber wirkliche Privatsphäre gab es nicht. Wenn man auf so begrenztem Raum zusammenlebte, arbeitete und schlief, gewöhnte man sich daran, vieles zu ignorieren.
Ich selbst hatte mir einen Platz in der Nähe der Treppe gewählt, damit ich schneller reagieren konnte, wenn jemand meine Hilfe brauchte, und ich nicht erst über ein Dutzend Beine steigen musste. Damit war es allerdings auch der Platz, an dem jeder vorbeischlich, der in seine Koje wollte. Die Nachtwache, die späten Patrouillengänger, Kinder, die mitten in der Nacht auf die Toilette mussten. Da ich jedoch oft genug auf einem Behelfslager in meiner Krankenstation schlief, weil ich über einen Patienten wachte, war es ohnehin egal. Mit der Zeit lernte man, sich anzupassen. Ich konnte schlafen, ganz egal, ob neben mir jemanden redete, oder ob irgendwelche Kinder auf dem Rückweg zu mir unter die Decke krochen, anstatt in ihr eigenes Bett, ganz einfach, weil ich das alles ausblendete. Das Einzige, was immer noch meinen Schlaf wie ein Alarm unterbrach, war jedes noch so kleine Geräusch, das meine Patienten von sich gaben. Berufskrankheit.
Ich nahm die Treppe, schlüpfte an dem schmalen Vorhang vorbei, der mein Bett verdeckte, und sah mich nochmal um, aber da war niemand, also ließ ich mich auf meine Matratze fallen und rollte mich seufzend herum. Schlafen war manchmal wirklich purer Luxus.
Einer, der mir auch heute nicht vergönnt war. Zuerst stritten sich zwei der Kinder, Micah und Jojo, kreischend unten an der Treppe und nachdem ich sie mit einer lautstarken Ansage verscheucht hatte, kehrte zwar angenehme Stille ein, aber jetzt war mein Kopf viel zu wach, um sich meinem Körper unterzuordnen. Ich grübelte wieder über die Dinge nach, die der Junge – Jonah – gesagt hatte. Washington, wie eigenartig. Ein äußerst merkwürdiges Gefühl erfasste mich und nach einer ganzen Weile, in der ich mich nur herumgerollt hatte, setzte ich mich leise schimpfend wieder auf.
Ich hasste es, wenn mein Kopf das machte, wenn er Dinge miteinander verwob und Verbindungen suchte, wo keine waren. „Baust du wieder Brücken?" Fast konnte ich Jasons Lachen hören, presste jetzt beide Hände auf die Schläfen und versuchte, die Erinnerung gewaltsam zu unterdrücken. Ich wollte jetzt nicht an Jason denken, nicht ausgerechnet jetzt. Aber wie so oft, wenn ich mich besonders dagegen wehrte, flammte die Erinnerung noch erbarmungsloser auf.
Jason. Wie er die Hand ausgestreckt und mir schmunzelnd die wirren Haare aus der Stirn gestrichen hatte. „Wenn es dich so traurig macht, wenn du es so sehr vermisst, bau dir eine Brücke dorthin. Ich bin dir nicht böse, Seho, ich wünschte nur, ich könnte dir dabei helfen."
„Hast du", murmelte ich undeutlich vor mich hin und starrte eine Weile meine Kleidertruhe an, bevor ich näher an sie heranrutschte. Ich klappte den Deckel auf, wühlte in den Sachen und tastete auf dem Boden der Truhe nach der Schachtel, in der sich ein paar persönliche Gegenstände befanden. Jeder von uns hatte so eine Box, das wusste ich, und kaum einer sprach darüber oder öffnete sie vor den anderen. Es waren private Erinnerungen. Erinnerungen, die mitunter sehr schmerzhaft waren und deswegen war eine solche Box auch tabu. Keiner von uns hatte die Möglichkeit, irgendwas wegzuschließen, aber das war auch nicht nötig, weil ebenfalls keiner in den persönlichen Dingen eines anderen wühlen würde. Eine schlichte Frage von Anstand und Respekt. Wir alle hier kannten uns gut, hatten gelernt miteinander auszukommen und jedem seine Eigenheiten zuzugestehen, nur so konnte es funktionieren.
Vorsichtig zog ich die Schachtel unter dem spärlichen Stapel Kleidung hervor und legte sie neben mich. Ich zog ein Bein unter mich, hockte mich hin und rieb mit den Händen über den Stoff meiner Hose. Ich scheute mich, sie zu öffnen - das hatte ich schon lange nicht mehr getan - und so starrte ich eine ganze Weile nur auf den Deckel.
Ein undefinierbarer Schmerz schwelte in meiner Brust und ich atmete tief durch, bevor ich den Deckel abnahm und vorsichtig zur Seite legte.
Obenauf in der Kiste, behutsam auf ein rot-gemustertes Tuch gebettet, lag eine geschnitzte Figur. Es war eine Eule, etwa daumengroß, das Gefieder geschuppt wie Dachziegel und mit großen runden Augen. Eine ihrer Federohren war abgebrochen und ich strich wehmütig über die scharfkantige Stelle. Dann musste ich gegen meinen Willen schmunzeln, auch wenn es wehtat. Es gab jede Menge dieser geschnitzten Tiere im Lager, Jason hatte sie für die Kinder gemacht. Einen ganzen Zoo, wenn man so wollte. Aber die Eule hatte er mir geschenkt – weil ich so aussehen würde, wie er meinte, mit meinen Haaren und der Brille. Ich legte sie seufzend weg und nahm das zusammengefaltete Tuch heraus. Darin eingeschlagen war, geschützt von alten Zeitungspapierstücken, ein getrocknetes und gepresstes Kleeblatt, vierblättrig ehemals, aber eins der Blätter hatte sich gelöst und damit hatte sich der Zauber, etwas Besonderes gefunden zu haben, verflüchtigt. Ich hatte mich trotzdem nicht überwinden können, es wegzuwerfen. Auf dem Schachtelboden lag Jasons Muschelkette, vielleicht waren es auch Perlen, ich wusste es nicht. Es war eine dieser typischen Ketten aus weißen, schwarzen und blauen Elementen und mit Drehverschluss, die Jungs gerne trugen und ich konnte mich noch daran erinnern, dass eigentlich jeder Jason immer wegen dieser Kette aufgezogen hatte. Er hatte sie dennoch nie abgelegt, ein Glücksbringer, wie er meinte. Mittlerweile waren die weißen Scheiben der Kette längst vergilbt. Nervös drehte ich den Ring an meinem Finger, bevor ich sie herausnahm und die Kette durch meine Finger gleiten ließ. Ihre Perlenglieder, aus welchem Material auch immer, sie waren ganz kühl und eine weitere schmerzhafte Erinnerung wühlte sich in mein Herz.
Der Tag an dem er sie abgenommen und in meine Hand gelegt hatte, der Tag, an dem er sich mit einem schiefen Grinsen und einem flüchtigen Kuss verabschiedet hatte. Wie fremd er gewirkt hatte, in dieser gestohlenen Uniform. Ich würgte die Erinnerung ab, verdrängte die Bilder und ließ die Kette auf die Matratze fallen. Ich hatte sie in all der Zeit kein einziges Mal angelegt, aber ich hatte sie anfangs oft in der Hosentasche, nur um sie zu spüren.
Ganz unten auf dem Boden lagen die letzten beiden Erinnerungsstücke und ich zögerte, sie herauszunehmen, denn sie gehörten nicht in dieses Lager. Das eine war im Grunde nur ein Urlaubsandenken, ein steinerner Talisman, der mittlerweile auch zerbrochen war. Das andere eine schlichte Spielkarte, ein Fundstück, mehr nicht. Die Ränder ausgefranst und schmutzig, die Rückseite mit einem verschlungenen blauen Muster bedruckt. Eine Ecke war geknickt, und die Kanten aufgeworfen und gewellt. Mit einem tiefen Seufzen, griff ich hinein, schob die Bruchstücke des Steins zur Seite und griff mir die Karte. Fast unwillig drehte ich sie um. Joker. Das bunte Bild war verblasst, das lachende Gesicht verkratzt. Ich konnte mich noch erinnern, wie ich sie gefunden und aufgehoben hatte, dort am See, nicht jedoch, dass ich sie eingesteckt hatte.
Und ihr verdankte ich den Spitznamen, der geblieben war, kreiert von Khai, dem ersten Kerl im Untergrund, der mich hatte bleiben lassen. Joker wurde zu Jester wurde zu Jess.
Nachdenklich drehte ich die Karte in den Fingern, dann legte ich sie rasch zurück, schüttelte die trübsinnigen Erinnerungen ab und blickte auf. Immer noch war von den anderen weder etwas zu hören noch zu sehen, gut so. Ich betrachtete die ausgebreiteten Erinnerungsstücke und griff wieder nach Jasons Halskette.
„Baust du wieder Brücken?" Jason lacht und reißt mich aus meinen Gedanken. Seine Finger gleiten sanft über meine Haut, glätten mein Stirnrunzeln. Als ich ihn ansehe, lächelt er. „Hauptsache, du kommst zu mir zurück."
Und dann war er es gewesen, der nicht zur mir zurückgekommen war. Ich atmete tief durch, schloss die Finger fester um die kühlen Steine der Kette und legte die Stirn auf meine geschlossene Faust. Er war nicht zurückgekommen.
„Jess?", drang plötzlich von unten herauf. Ruckartig hob ich den Kopf, schüttelte die Erinnerung ab und legte die Muschelkette zurück in die Box, dann das gefaltete Stofftuch.
„Jess? Bist du hier?" Es war Eliza, wie ich an der Stimme erkannte. Und ich hörte ihre Schritte auf der Treppe, jeden Moment würde ihr Gesicht über dem Rand auftauchen.
„Ja, hier." Rasch legte ich die Eule zurück auf das rote Tuch und schloss den Deckel, just in dem Moment, als Eliza die oberste Stufe erklomm, den Kopf schieflegte und vorsichtig an meinem Vorhang vorbeispähte. Sie lächelte schwach.
„Tut mir leid, wenn ich dich störe, aber ich glaube die Jungs bräuchten mal deine Hilfe."
Schmunzelnd stopfte ich die Box zurück in meine Kleidertruhe und vergrub sie wieder am Boden. „Welche Jungs, die großen oder die kleinen?"
Eliza lachte. „Die Kleinen kommen klar."
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*Kíßka - Kätzchen (Kosename, russ.)
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