Ausbruch
40-Ausbruch
Zeit: Spätherbst 79 / Ort: Capitol City
„Oh Mann, Doc, du siehst echt beschissen aus", sagte der Kerl über mir und lachte heiser. „Also versteh mich nicht falsch, du warst vorher schon keine Augenweide, hm? Aber im Moment siehst du aus, als wäre es besser für alle, man würde dich mit dem nächsten Wurf Katzen einfach ersäufen. Er lachte schon wieder und es war eben dieses seltsame, irgendwie überdrehte Lachen, das hauptsächlich zu mir durchdrang.
Weil ich es kannte – oder kennen sollte. Blinzelnd öffnete ich das Auge, das nicht zugeschwollen war und versuchte das Bild, das ich sah, in eine logische Verbindung mit meiner Erinnerung zu bringen.
Es war nicht Khai. Und es war auch keiner seiner Handlanger. Zumindest keiner von denen, die ich kannte. Es war... aber das war doch gar nicht möglich.
„Bonnie?", brachte ich krächzend heraus. Meine Stimme klang so armselig und fremd, dass ich sie selbst kaum erkannte. „Was...? Warum...?"
Schon wieder gab er dieses keckernde Lachen von sich. „Ja, ich freu mich auch dich zu sehen, Daddio. Sind ja mächtig viele Leutchen an dir interessiert, hm? Kommt davon, wenn man immer überall mitmischen will."
Ich verstand nicht wirklich, was er da alles von sich gab, aber mir schwante Übles. Wenn Khai ihn bemühte, wollte er mich wohl unbedingt wieder zurück, egal ob am Stück oder in Teilen. Resigniert stieß ich die Luft aus.
„Hat er dich geschickt?"
„Er?" Grinsend ging Bonnie neben mir in die Knie und betrachtete mich eingehend. „Nguyen?" Er zupfte an meinem Shirt und verzog angewidert das Gesicht, dann schnüffelte er auch noch in meine Richtung und schnalzte unwillig mit der Zunge. „Du denkst, die Ratte hat mich gekauft? Nach allem, was war?"
Eigentlich – dachte ich gar nicht. Es fiel mir schwer, meine wirren Gedanken überhaupt einigermaßen in geordnete Bahnen zu lenken. Draußen vor meiner Zelle rumpelte etwas, ein paar Rufe wurden laut, dann waren Kampfgeräusche zu hören und mittendrin wurde die Tür aufgerissen und ein zweiter Mann betrat mein Gefängnis.
„Es wird Zeit", sagte dieser, warf dabei einen Blick auf mich, während er sich die blonden Strähnen aus den Augen wischte und wandte sich dann an Bonnie. „Ich denke, sie wissen bereits, dass wir hier sind."
„Wie unerfreulich", raunte Bonnie, legte den Kopf schief und griff in die Brusttasche seiner Jacke. Er zog meine Brille heraus, klappte die Bügel auf und schob sie mir auf die Nase.
„Besser?", grinste er und nickte mir vage zu. „Na dann auf, mein kleines Reisbällchen, du hast ihn gehört, keine Zeit mehr für ein Pläuschchen unter Freunden. Das müssen wir wohl verschieben." Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, packte mich Bonnie am Arm und zerrte mich in die Höhe. Erst mein schmerzerfülltes Stöhnen ließ ihn wieder innehalten.
„Ach herrje", wurde es jetzt. „Mit dir hatten sie wohl schon eine Menge Spaß, hm? Wie lange haben sie dich schon?"
Das wusste ich gar nicht, trotzdem antwortete ich mit einem schiefen Grinsen: „Zwei Wochen?"
Bonnie grinste breit. „Na, also für zwei Wochen bist du ja noch ein richtiger Hingucker, Doc! Fast frisch. Also – Zähne zusammenbeißen – bist 'n harter Kerl, hm?"
Gegen meinen Willen musste ich lachen, was auch wieder schmerzhaft war, denn es waren exakt die Worte, die ich seinerzeit zu ihm gesagt hatte.
Der zweite Mann – ich wusste, wer er war, weil im Grunde jeder wusste, wie dieses Duo infernale aussah, aber mein lädierter Kopf spuckte gerade keinen Namen aus – hielt die Tür auf, während Bonnie mich mehr oder weniger durch die Tür schleifte, aber sonst schenkte er mir keine besondere Aufmerksamkeit. Die galt allein Bonnie.
„Kommst du klar, dann überprüfe ich, ob unser Rückweg noch frei ist."
Ein Nicken, ein paar gemurmelte Worte, sie tauschten irgendwas aus, vielleicht eine Waffe, dann huschte der andere nahezu lautlos davon. Ich bemühte mich aufrichtig, irgendwie mit Bonnies Unterstützung vorwärts zu kommen, aber es gelang mehr schlecht als recht, was wohl auch Bonnie einsah. Im nächsten Raum angekommen lehnte er mich deswegen auch an einen der Metalltische die hier standen und hieß mich zu warten.
„Ah, keine Sorge, ich laufe nicht zurück."
Nicht der richtige Moment für dumme Witzchen dieser Art? Wahrscheinlich, denn selbst Bonnie warf mir nur einen zweifelnden Blick mit erhobener Augenbraue zu, bevor er sich auf den Weg machte und ebenfalls durch die nächste Tür verschwand. Von draußen waren erneut Kampfgeräusche zu hören, Keuchen und Stöhnen, dann war er zurück, das Messer noch in der Hand. Selbiges wischte er eben an seinem Hosenbein ab, steckte es wieder weg und vollführte eine auffordernde Geste in meine Richtung.
„Auf geht's, Doc, wir haben nicht viel Zeit."
Ich konnte allein gehen, aber laufen konnte ich nicht und das wiederum ging Bonnie wohl nicht schnell genug, denn schon wieder packte er mich um die Mitte und zerrte mich einfach mit sich. Draußen auf dem Flur bugsierte er mich zur Treppe.
„Rauf auf's Dach", wies er mich an, schob mich dabei vorwärts, während ich noch zu begreifen versuchte. Auf das Dach? Dort saßen wir in der Falle – wo sollten wir denn von dort aus hin?!
Zu dieser Frage kam ich nie, denn noch während ich die ersten paar Stufen nahm, brach hinter mir die Hölle los.
Irgendwo unter uns knallten Türen auf und ein halbes Dutzend Leute brüllten durcheinander. Ganz sicher waren die Menschenhändler darunter, die mich gefangen hatten, aber vermutlich nicht nur. Es wurde geschrien, getobt und Schüsse fielen. Schon beim ersten Knall ließ ich mich auf alle Viere fallen. Mir wurde fast schwarz vor Augen, als ich auf meine verletzte Hand fiel und der Schmerz einmal quer durch meinen Körper jagte. Dann war ich hellwach. Jemand schoss auf uns! Es ging nicht mehr darum, mich lebend irgendwo abzuliefern. Panisch hangelte ich mich bis zum nächsten Absatz hinauf. Hinter mir explodierte etwas und in Sekunden breitete sich überall Rauch aus.
Jetzt konnte ich nicht einmal mehr richtig sehen. Der Rauch brannte in den Augen und machte jeden Atemzug zur Qual. Trotzdem schien ich das Zentrum des Kampfes noch hinter mir zu haben, also mühte ich mich weitere Stufen hinauf.
„JAX!", brüllte Bonnie irgendwo in meinem Rücken. Nur einen Augenblick später, huschte der helle Schemen, selbst kaum mehr als ein verwaschener Rauchfetzen, eine halbe Etage über mir von einem Plateau zum Treppengeländer. Ich sah wie Jax mit einem Satz über dieses hinwegsetzte, in die Tiefe sprang, ja, wortwörtlich sprang und irgendwo im Rauch, fast ein Stockwerk tiefer, unter mir verschwand. Er landete wohl zielsicher auf einem Mann, denn man hörte noch mehr Stöhnen und Knacken, dann war für einen winzigen Moment gespenstische Stille.
In dieser tauchte er wieder auf, zischte mich an „auf's Dach, sofort", aber als ich weiter wollte, wurde ich am Fußgelenk gepackt und rabiat zu Fall gebracht. Auch jetzt wurde mein Angreifer angesprungen, so umgerissen und mit einem gezielten Tritt außer Gefecht gesetzt. Zwei weitere bekamen die gleiche Behandlung, wobei Jax letzteren mit dem Arm um den Hals gepackt hatte, zur Seite riss und dann fallen ließ. Es ging so schnell, dass ich erst mit Verzögerung begriff. Der Kerl brauchte überhaupt keine Waffe! Es war ein Griff, ein Ruck, mit dem er dem Mann das Genick brach, sozusagen im Vorbeigehen, ihn fallen ließ wie eine Lumpenpuppe und bereits den nächsten anvisierte und mit einem platzierten Tritt außer Gefecht setzte. Ich war mir ziemlich sicher, dass auch dieser Mann nicht mehr lebte, weil er ihm das Rückgrat gebrochen hatte und wenn doch, dann würde er nie wieder laufen.
Dann fielen erneut Schüsse und das riss mich aus meiner lähmenden Starre. Stöhnend und zähneknirschend versuchte ich mich aufzurappeln, schaffte ein paar Treppenstufen, bevor Jax zurück war. Ähnlich wie Bonnie davor, packte er mich einfach um die Mitte und riss mich vorwärts, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich fiel mehr und stolperte irgendwie neben ihm dahin, schaffte so vielleicht eine Etage, bevor er mich wieder losließ und im Tumult verschwand. Dieses Mal nach oben. Zurück kam er, wie zuvor schon, mit einem Satz, riss mich auf die Beine und nickte nach oben.
„Noch eine Etage, dann sind wir durch."
Ich wusste nicht, wie ich die Treppen schaffte, aber oben angekommen hörten wir beide erneut Bonnie brüllen und dann tauchte er plötzlich inmitten der Rauchschwaden auf.
„Los, los, los!" schrie er, gestikulierte dabei wild und dieses Mal rannte ich tatsächlich, humpelnd, stolpernd, streifte ein paar Mal mit der gesunden Hand die raue Teerpappe des Dachs, während ich Jax folgte, der vor mir war.
Er jagte über das Dach und es sah aus als würde er nicht mal den Boden berühren. Dabei hielt er auf die Dachkante zu, ohne auch nur im Geringsten langsamer zu werden und dann sprang er einfach und war verschwunden. Keuchend folgte ich ihm bis zur Häuserschlucht und bremste dort. Der Blick in die Tiefe gab nichts preis. Es war früher Morgen, die Luft dunstig und alles was sich unter mir ausbreitete, war gähnende Leere. Ich drehte mich um.
„Spring!", brüllte Bonnie, aber ich konnte nicht, stattdessen hatte ich mich ganz zu ihm umgedreht, sah jetzt, wie Schemen im Dunst der Rauchgranaten auftauchten Ich sah Mündungsfeuer im Nebel, bevor ich die Schüsse hörte und ging automatisch in die Knie. Ich sah auch, wie Bonnie für einen Moment taumelte, bevor er sich fallenließ und noch auf dem Boden liegend herumschnellte. Dann war er wieder auf den Beinen und stürzte sich mit einem wilden Schrei auf den Mann, der am nächsten war.
Er erledigte zwei von ihnen mit nur einer einzigen schnellen Bewegung, indem er dem ersten das Messer in den Hals rammte und mit dem Schwung, mit dem er es zurückriss, herumwirbelte und dem anderen die Kehle von einer Seite bis zur nächsten aufschlitzte und dabei fast den Kopf abtrennte. Dem dritten trat er den toten Körper entgegen, hechte dann darüber hinweg und stach auch ihn nieder. Dann rollte er zur Seite weg, sprang mit einem Satz wieder auf die Beine, womit er aussah, wie eine Raubkatze, die sich in der Luft drehte, und jagte auf mich zu.
„Spring!", hörte ich immer wieder. „Verfluchte Scheiße! Spring endlich! Spring!" Aber ich konnte nicht.
Bonnie raste auf mich zu und ich hatte den Eindruck ein leibhaftiger Dämon hätte mich eingeholt. Wahrscheinlich stand ich auf, machte einen halben Schritt und das letzte, was ich sah, war das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen und ein blutiges Lächeln. Mit beiden Händen stieß er mir vor die Brust, sodass ich den Halt verlor und schreiend und mit den Armen rudernd über die Kante stürzte. Wir fielen gemeinsam, Seite an Seite und für eine Sekunde war ich mir ganz sicher, dass das jetzt unser Ende wäre.
Dann kam der Aufprall, hart, aber nicht hart genug, um das Bewusstsein zu verlieren. Alle Luft wurde aus meinen Lungen gepresst und sekundenlang röchelte ich hilflos. Wir waren in einem Container gelandet, vielleicht für Papier oder Kartonagen, so genau war das nicht zu sagen. Es blieb auch keine Zeit, um mich zu orientieren. Noch während ich mich aufzurappeln versuchte, packte mich jemand am Arm, riss mich herum und eine schwere Hand landete auf meinem Mund.
Über uns, im dunstigen Nebel eines beginnenden trüben Morgens, brüllte eine wütende Stimme: „JESTER! Du verdammter Hurensohn! Ich reiße dir dein verfluchtes Herz heraus, wenn ich dich kriege!"
Khai. Das Blut gefror mir in den Adern. Er war hier. Er hatte mich gefunden.
Mein erster Impuls war Flucht, rennen, so lang ich konnte und so weit weg, wie ich konnte. Doch in der Realität tat ich gar nichts, weil ich mich gar nicht bewegen konnte. Zuckend und panisch lag ich zwischen zerquetschen Pappschachteln, über mir ein schwerer Körper, der dafür sorgte, dass ich mich nicht rühren konnte und immer noch hielt mir Bonnie grob den Mund zu. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit nahm er die Hand weg, sodass ich keuchend nach Luft schnappte, dann rappelte er sich auf und zerrte mich erneut mit sich. Statt raus aus dem Container, ging es in einem Balanceakt über dessen Kante auf ein weiteres niedriges Gemäuer und weiter, halb geduckt, unter einem überhängenden Hausdach hinweg und schließlich wurde ich in einen Spalt gedrängt, den man erst wahrnehmen konnte, wenn man eben unter das Dach kroch.
„Arme vor's Gesicht und fallenlassen", raunte mir Bonnie ins Ohr und dieses Mal folgte ich der Anweisung, was blieb mir auch anderes übrig. Ich ließ mich nach unten in die Schwärze fallen, war mir dabei ziemlich sicher, dass ich auf halbem Weg einfach zwischen den rauen Steinwänden steckenbleiben würde, stattdessen wurde ich knapp vor dem Boden aufgefangen. Der Spalt war so eng, dass man sich nicht mal umdrehen konnte, die Wände hatten mir die Haut an Händen und Armen aufgerissen, aber ich lebte noch.
„Wo-", begann ich heiser, wurde aber sofort unterbrochen.
„Still jetzt", zischte Jax. „Keinen Mucks." Er griff in meinen Ärmel und zog mich hinter sich her. Hinter mir landete wohl Bonnie ebenfalls in dem Spalt und zu dritt arbeiteten wir uns voran. Wir waren nicht wirklich irgendwo draußen, denn über uns konnte ich keinen Himmel erkennen, allerdings wirkte dieser Spalt auch eher so, als wäre er einer Fehlplanung zu verdanken. Das, oder es war ein illegaler, nachträglicher Bau, der diese Lücke geschaffen hatte. An manchen Stellen war es so eng, dass man nicht mal vollständig einatmen konnte und beide, Jax wie auch Bonnie, größer als ich, schwerer als ich, hatten deutlich mehr Schwierigkeiten voranzukommen. Ich verdrängte jede aufkeimende Panik und die Vorstellung, dass ich hier sterben könnte, eingezwängt zwischen irgendwelchen Mauern, wo mich nie jemand finden würde und die Ratten allmählich meine Überreste auffressen würden.
Schließlich wurde der Boden abschüssig, die Lücke nach oben schloss sich komplett, dafür wurde es etwas breiter und es ging kriechend voran, nach etlichen Metern mündete dieser Gang in einem Zulauf zum Abwasserkanal, offenbar jedoch einer, der nicht mehr genutzt wurde, denn hier war alles trocken, wenn auch der Gestank erbärmlich war.
Wieder war es Jax, der voranging, uns über schmale unterirdische Pfade führte, gepflasterte Stege neben einem ausgetrockneten und mit Geröll und Müll verkrusteten Kanalbett in dem Dutzende Ratten geschäftig hin und her huschten.
Da ich ohnehin nicht wusste, wo sie mich untergebracht hatten, war es mühsam, mich orientieren zu wollen, also stolperte ich blindlings hinter Jax her, bis dieser plötzlich in einer Nische zu meiner Linken verschwand.
Mein Erschrecken wurde von Überraschung getoppt, denn erst im letzten Moment sah ich die Tür, durch die ich jetzt gezogen wurde. Ich stolperte in einen Raum, nach mir Bonnie, dann fiel die Metalltür zu und ein Riegel wurde betätigt. Schweratmend verharrte ich in völliger Dunkelheit, bis endlich ein Stück vor mir der schwache Lichtkegel einer Taschenlampe aufflammte.
„Da wären wir", sagte Jax nur.
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