Auf der Krankenstation
5-Auf der Krankenstation
Zeit/ Ort: unbekannt
Als ich das nächste Mal erwachte, fühlte es sich deutlich anders an. Ich hatte zwar immer noch schreckliche Kopfschmerzen, aber zumindest hatte ich den Eindruck, etwas klarer zu sein. Ich hob die rechte Hand vorsichtig an mein Gesicht, um die Infusionsnadel nicht wieder mit Gewalt herauszureißen, aber meine Haut war ganz kühl und während ich das registrierte, bemerkte ich auch, dass mein Arm eben frei war, nicht fixiert. Hatte ich das geträumt?
Vorsichtig hob ich den Kopf und sah hinab zu meinen Beinen. Probeweise zog ich das rechte Bein an, streckte es wieder – keine Fesseln. Also vielleicht doch ein Traum. Allerdings trug ich frische Kleidung und der Verband und die Schiene an meinem linken Arm waren ebenfalls neu und höchst real. Die beiden Finger, die an die dünnen Metallschienen geklebt waren, waren blau und grün verfärbt und die Haut juckte fürchterlich. Ich musste mich zusammenreißen, um den Klebeverband nicht abzukratzen. Hatte ihnen niemand gesagt, dass ich allergisch auf den Klebstoff in Pflastern war? Meine Eltern?
Allmählich kehrten auch diverse Bruchstücke aus meiner Erinnerung zurück und setzten sich zusammen. Unfall – wir hatten einen Autounfall, ich war im Krankenhaus, soweit war alles logisch. Der Arzt, verschwommen erinnerte ich mich an seine Worte. Gino... in Sicherheit. Das hieß, er war auch hier? Ich hätte gerne gewusst, ob er schwer verletzt war, wie es ihm ging, denn ganz so harmlos konnte es nicht sein, sonst wäre er wohl hier, bei mir.
Aber hier war niemand, ich war allein.
Für den Moment war das okay. Ich würde warten, bis der Arzt kam, und der konnte mir sicher sagen, wie es ihm ging, ob ich zu ihm konnte, er konnte meine Eltern informieren.
Leise seufzend wandte ich den Kopf und mein Blick fiel wieder auf den Medikamentenwagen. Sekundenlang starrte ich ihn nur an, bevor sich das ungute Gefühl so weit gesteigert hatte, dass ich mich nervös ein wenig weiter aufzusetzen versuchte. Das war überaus anstrengend und trieb mir die Schweißperlen auf die Stirn. Wieder starrte ich auf den Medikamentenwagen – ich hatte mich nicht getäuscht, das Ding war wohl eher ein ramponierter Servierwagen, der schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte, und alles was darauf lag, sah auch aus, als wären es Museumsstücke oder zweckentfremdet worden. Neben der Rolle mit den Klebestreifen lag auf alle Fälle eine Haushaltsschere, was allein schon seltsam gewesen wäre. Aber statt Zellstofftupfer türmten sich Stoffstreifen – in unterschiedlichen Größen und Zuschnitten – in einer Plastikschale, die früher vielleicht irgendwelche Lebensmittel enthalten hatte. Die Metallbox daneben sah aus, als entstamme sie einem alten Kriegsfilm, und ich schauderte, bei dem Gedanken, was darin wohl aufbewahrt werden mochte.
Verwirrt sah ich mich nun um und mein Blick fiel auf das Fenster. Im Gegensatz zum letzten Mal konnte ich jetzt ausmachen, was daran nicht stimmte. Das Fenster war in der Tat winzig, zwei Flügel mit einer altmodischen Verriegelung, dunkles Holz, von dem helle Farbe abblätterte, und deutlich in Mitleidenschaft gezogene Scheibengardinen. Welches Krankenhaus hatte solche Fenster?!
Überhaupt fand sich in diesem Raum eigentlich kein weiteres medizinisches Gerät, weder ein Überwachungsmonitor, noch ein Notfallwagen, auch kein Rollstuhl und bei genauerer Betrachtung war das auch kein voll ausgestattetes, modernes Krankenbett, sondern eher eine Pritsche. Wo zur Hölle war ich gelandet? In einem Feldlazarett? Verwirrt ließ ich mich wieder in das Kissen sinken und starrte die Decke an. Das Licht, das den Raum erhellte, stammte tatsächlich von einer Bunkerlampe, vielleicht war es auch eine Stalllampe, ich meinte mich zu erinnern, dass ich solche Lampen von Viehställen kannte. Und es schien auch Sinn zu ergeben, denn der Raum wirkte irgendwie unförmig.
Ein ganz seltsames Gefühl setzte sich in mir fest, während ich weitere Einzelheiten aufnahm. Entgegen meinem ersten Eindruck waren die Wände nicht weiß, sondern bestenfalls beige, deutliche Risse zogen sich über das Mauerwerk und ich war mir ziemlich sicher, dass die Decke zu tief war und obendrein auch ein wenig durchhing. Das, was ich vom Boden sah, machte den Gesamteindruck auch nicht besser, denn mein Bett stand auf altem Linoleum, das stellenweise schon so abgerieben war, dass das ursprüngliche Muster nicht mehr zu erkennen war. An manchen Stellen war es ganz aufgerissen und ich wollte gar nicht wissen, was sich darunter befand. Der Vorhang zu meiner Rechten war immerhin tatsächlich weiß, wenn auch aus zwei unterschiedlichen Stoffen zusammengenäht und an manchen Stellen geflickt. Die Ringe, mit denen er auf eine Führungsschiene gefädelt war, bestanden dafür aus einem bunten Sammelsurium aus Metall, Plastik, Holz und... Stoffbänder?
Rasch sah ich wieder weg. Das war unheimlich. Irgendwie fühlte ich mich gerade wie in einem dieser Horrorfilme, in denen der fragliche Held plötzlich inmitten von völlig Wahnsinnigen zu sich kommt und um sein Leben rennen musste. Nur war an Rennen gar nicht zu denken. Mein Herz pochte wie wild und ich lauschte angestrengt auf irgendwelche Geräusche. Da ich nichts ausmachen konnte, versuchte ich erneut, mich aufzusetzen, was allerdings einem unglaublichen Kraftakt gleichkam und die Idee aufzustehen im Keim erstickte. Ich saß halb aufgerichtet, atmete schwer und sowohl meine linke Seite als auch mein Brustkorb schmerzten bei jedem Atemzug. Und gerade als ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, wurde der Vorhang zurückgeschoben und der Kerl, den ich für meinen Arzt gehalten hatte, trat an mein Bett.
„Oh", machte er überrascht, als er mich halb sitzend im Bett vorfand, und lächelte dabei auch noch vage. „Offenbar geht es dir besser. Das Fieber ist endlich gesunken, hm?"
Ich zuckte zurück, als er die Hand nach mir ausstreckte und rückte so weit ab wie ich konnte.
„Wer bist du?", krächzte ich.
„Seho. Sugawara. Doktor Sugawara und du?"
Ich antwortete nicht und wurde stocksteif, als er mich nun doch anfasste, weil ich in diesem Bett ohnehin nicht weit ausweichen konnte. Seine Hand legte sich auf meine Stirn, er fummelte an der Infusion herum und gleich darauf jagte er ein Medikament in den Schlauch.
„Was ist das?!"
„Etwas gegen die Schmerzen."
„Ich will das nicht!", zischte ich und jetzt sah er mich an und schmunzelte.
„Du willst es, glaub mir."
Nun, ich konnte ohnehin nichts dagegen ausrichten, immerhin war es längst in der Infusion, also hoffte ich nur, dass es nichts war, um mich zu betäuben. Unterdessen umrundete der Kerl mein Krankenbett und ich versuchte, auf die andere Seite auszuweichen, was von wenig Erfolg gekrönt war.
„Nicht anfassen!", stieß ich hervor, als er erneut die Hand nach mir ausstreckte und tatsächlich hielt er kurz inne und sah mich an. Zum ersten Mal fiel mir nun auf, dass das, was ich davor zu sehen geglaubt hatte, offenbar nur meinen wahnhaften Fieberfantasien sowie einer optischen Täuschung zu verdanken gewesen war. Dieser vermeintliche Arzt war keineswegs so riesig, wie ich geglaubt hatte, er war vermutlich kaum größer als ich, aber der Raum, in dem wir uns befanden, war deutlich niedriger als ein normales Zimmer. Seine Haare allerdings... Gerade drehte er sich um, nahm etwas von dem altersschwachen Servierwagen und ich konnte sehen, dass er die etwas zu langen Strähnen vom Oberkopf zu einem unordentlichen Knoten geschlungen hatte, während sie über den Ohren und im Nacken ganz kurz geschoren waren. Und sie waren tatsächlich schwarz und weiß gescheckt, wie... seltsam.
„Poliosis circumscripta", sagte er und drehte sich wieder zu mir um. Dabei wies er auf seinen Kopf. „Falls du dich gerade fragst, was mit meinen Haaren passiert ist. Pigmentstörung und ja, ich bin wirklich Arzt."
Er sah aber überhaupt nicht aus wie ein Arzt! Er trug schwarze Cargohosen, die aussahen wie ein Überbleibsel einer Uniform, dazu ein graues T-Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck einer mir völlig unbekannten Rockband oder etwas ähnlichem, außerdem weiße Stoffsneakers – oder besser: sie waren irgendwann mal weiß gewesen. Und natürlich die Goldrand-Brille. Das einzige Detail, das ihm tatsächlich einen irgendwie akademischen Anstrich gab.
„Verrätst du mir, wie du heißt?" Er hatte abwartend die Arme verschränkt, die Augenbrauen hoben sich amüsiert über den Rand seiner Brille.
Einen Moment zögerte ich, doch dann gab ich nach. Was konnte es schaden.
„Jonah", murmelte ich, sah hin und wieder weg.
„Also gut, Jonah, das ist ein Anfang. Ich würde mir gerne deine Verletzungen ansehen, ist das in Ordnung?"
Nein, war es nicht – noch nicht, ich klemmte die Decke mit dem geschienten Arm an meinen Körper und musterte ihn misstrauisch.
„Wo bin ich? Was ist das hier? Doktor...?" Wie war das?
„Seho reicht. Du kannst mich auch Jess nennen", sagte er. „Die meisten tun das. Und du bist immer noch im Capitol. Das hier", er vollführte eine ausholende Geste und lächelte dann schief, „naja, die anderen nennen es Genesungsraum, hm? Es ist nur... eine Krankenstation. Meine." Ein vages Schulterzucken folgte.
Krankenstation, wow, ich warf einen zweifelnden Blick in den Raum, kommentierte das aber nicht. Dann erst begriff ich, was er noch gesagt hatte und ich runzelte die Stirn. Capitol?
„Washington... D.C.?" Das ergab doch überhaupt keinen Sinn – wie sollte ich von New Jersey dahin kommen? Das war... fast 200 Meilen entfernt.
„Bitte?" Irritiert sah der seltsame Arzt – Seho – mich an.
„Capitol – ich bin in der Hauptstadt?"
„Hauptstadt! Capitol City? Nein... nein", er lachte, „Capitol, der Distrikt, also im Grunde..."
„Capitol City – Michigan?", murmelte ich vor mich hin. „Niemals, das ist doch verrückt."
„Bitte?"
„Was?"
Seho lächelte, aber es wirkte irgendwie leer. „Lebst du in der Hauptstadt?", wollte er jetzt wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein", sagte ich nur und hüllte mich dann in Schweigen.
Seho sah mich nachdenklich an, hakte aber nicht nach, sondern drehte sich um, griff sich die Schere, Tücher, den Verband, bevor er sich wieder zu mir umwandte. Wieder zeigte er dieses seltsame Lächeln.
„Na gut, kannst du mir sagen, was passiert ist, woran du dich noch erinnerst?"
„Wir waren auf dem Heimweg", flüsterte ich und starrte auf meine Hand. „Gino und ich. Wir...", meine Stimme begann zu schwanken, also brach ich ab.
„Wer ist dieser Gino?"
„DeLuca", antwortete ich automatisch, „Gino DeLuca, er ist mein-", wieder brach ich ab, sah kurz zu ihm hin und dann rasch weg.
„Hör zu, Jonah", begann Seho nun behutsam. „Ich bin nicht hier, um zu urteilen, okay? Ich will nur verstehen, was passiert ist, damit ich dir helfen kann."
„Er...", ich atmete tief durch und blinzelte gegen die Tränen an. „Gino ist gefahren, es hat geregnet – nein! – es war ein Gewitter, und...", mit einem Kopfschütteln wehrte ich mich gegen die Bilder. „Ich weiß es nicht!", brach es aus mir heraus. „Ich weiß gar nichts mehr!"
Eine Hand legte sich sanft auf meinen Arm. „Schon gut", sagte Seho. „beruhige dich, es ist alles okay, hm?"
„Gar nichts ist okay!", fuhr ich ihn aufgebracht an. „Hier..." meine vage Geste umfasste ihn, den Raum, alles, „ist gar nichts okay, verstanden? Warum bin ich hier? Warum bin ich nicht in einem anständigen Krankenhaus? Wo sind meine Eltern, wissen sie überhaupt, dass ich hier bin? Und wo ist-" Tränen und lautes Schluchzen würgten den Rest meiner Worte ab.
„Du bist durcheinander", sagte der Möchtegern-Arzt sanft. „Und das ist ganz normal. Mach dir keine Sorgen, das kommt alles wieder in Ordnung." Ich glaubte ihm auch jetzt nicht.
„Jonah", begann er, nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, „darf ich mir jetzt deine Verletzungen ansehen? Ich müsste auch den Verband wechseln."
Ohne ihn anzusehen, legte ich mich wieder hin, drehte den Kopf weg und starrte auf den Vorhang. „Mach was du willst", murmelte ich dumpf. Gerade sah ich keine Notwendigkeit mehr für eventuelle Höflichkeitsfloskeln.
Seho ließ sich von meiner abweisenden Haltung allerdings auch nicht stören. Vorsichtig befreite er meinen geschienten Arm – ich sah ihn mir nicht an – bewegte ihn noch vorsichtiger, wollte ab und zu wissen, ob diese oder jene Bewegung schmerzte, dann kam die Schiene wieder dran. Mein Handgelenk sei gebrochen erklärte er, sowie zwei Finger. Die Wunde an meiner Seite war genäht worden und er ließ mich wissen, dass er ganz zufrieden war, auch wenn eine gut sichtbare Narbe bleiben würde, wie er meinte. Die Schmerzen beim Atmen kämen von einem Gurttrauma, die Kopfschmerzen von einem Schleudertrauma und abgesehen davon hätte ich auch eine Gehirnerschütterung, weswegen jede rasche Bewegung zu vermeiden war und was auch der Grund dafür war, dass mir ständig schlecht wurde. Des Weiteren hatte ich einen Bänderriss am linken Sprunggelenk, ein gutes Dutzend Schnittverletzungen, die aber alle problemlos heilen würden und allgemein – seiner Meinung nach – unheimlich Glück gehabt. Ich erfuhr außerdem, dass ich beinahe zwei Tage komplett verschlafen hatte, weswegen sicher auch mein Zeitgefühl völlig durcheinander war. Am schlimmsten setzte mir wohl der Blutverlust zu, aber das würde, „alles wieder werden". So viel zu Sehos Worten. Das Schlimmste für mich war eher das emotionale Trauma, das sich immer tiefer in mich hineinzugraben schien, je mehr ich von meiner Umgebung wahrnahm, aber ich hütete mich, Fragen zu stellen, solange ich nicht wusste, was hier vor sich ging.
Ich wusste zwar nicht was, aber irgendwas lief hier komplett falsch.
„Okay", beendete Seho schließlich seine Untersuchung. „Das sieht besser aus, als erwartet. Und jetzt – möchtest du vielleicht etwas essen?" Er bemühte sich wirklich, freundlich zu sein, aber ich blockierte auch das.
„Ich hab keinen Hunger", maulte ich, was natürlich gelogen war. Trotzdem.
„Du bekommst ohnehin nur Suppe", meinte Seho und zwinkerte mir zu. „Ich sage Eliza, sie soll dir was bringen, vielleicht kommt der Hunger ja noch. Ansonsten – ausruhen, schlafen, du hast es nötig, glaub mir. Ich sehe später nochmal nach dir und wenn die Schmerzen zu stark werden, kann ich dir noch was geben." Er machte eine kurze Pause.
„Ist das okay?"
„Jaja", raunte ich bockig und sah wieder weg.
Dieser Arzt war echt mit überdurchschnittlicher Geduld gesegnet, denn nichts an mir schien ihn zu provozieren. „Gut", sagte er nur und verschwand durch den Vorhang.
Ja, gut. Einfach großartig. Schnaubend richtete ich den Blick wieder an die Decke
ೃ⁀➷
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro