Angeschubst
32-Angeschubst
Zeit: Herbst 79 / Ort: Capitol Distrikt
Es machte mich wahnsinnig. Ja, wirklich. Die Blicke, die Jonah mir zuwarf, das Lächeln und vor allem die Art, wie sich das alles in mein Bewusstsein fraß. Das vor allem, denn es sollte nicht sein, das wusste ich. Wie lange war er jetzt bei uns, fünf Monate? Und er hatte kaum über seinen Freund gesprochen, dafür gab es einen Grund, der mir nur allzu vertraut war. Ich sprach heute noch nicht gerne über Jason. Nein, das... war eine Lüge. Ich sprach gar nicht über Jason, vermied seit über vier Jahren, seinen Namen laut auszusprechen, wenn irgend möglich, so wie ich es vermied, mich dem Schmerz zu stellen. Das war nicht gesund, aber für mich so viel leichter. Und es war auch gar nicht so schwer gewesen, mich abzukapseln. Die Leute hier akzeptierten meine Art der Trauerbewältigung und drängten mich zu nichts.
Und jetzt war hier Jonah, der sich mit einem Lächeln, einem funkelnden Blick in mein Herz stahl und recht nachdrücklich an meiner Mauer kratzte, sofern ich es zuließ. Meistens würgte ich das recht erfolgreich ab. Ich hatte gelernt, solche Situationen an mir abprallen zu lassen.
Dabei glaubte ich nicht, dass irgendwas davon Absicht war, so wenig, wie ich glaubte, dass er irgendetwas in diese Richtung gezielt forcierte. Dafür war er immer noch zu verhaftet in seiner Welt. Es mochte sein, dass er sich mit den Leuten hier wohlfühlte, dass er sie auch als Freunde bezeichnen würde, aber das bedeutet nicht gleichzeitig, dass er sein altes Leben hinter sich gelassen hatte.
Manchmal suchte er meine Nähe, fast wie Blue, dann konnte ich nicht mal sagen, warum er das tat. Okay ja, wenn ein Gewitter heraufzog, war er nicht gerne allein, und hin und wieder, an einem traurigen Tag vielleicht, war ich seine Verbindung zu einer Welt, die es nicht mehr gab. Aber auch darüber hinaus suchte er oft meine Nähe, ohne ein konkretes Ziel und etwas dergleichen. Manchmal sprach er noch nicht mal, sondern saß einfach bei mir auf dem Sofa, die Füße unter sich gezogen, in dieser kindlichen Geste, beobachtete mich, die Kinder oder die anderen. Oft rätselte ich, woran er in diesen Momenten dachte, aber ich fragte ihn nie. Weil er von sich aus reden würde, wenn er das Bedürfnis danach hatte. So wie er eben auch Streicheleinheiten und Nähe forderte und hin und wieder für eine Nacht unter meine Decke kroch. Vielleicht waren es Albträume, vielleicht Erinnerungen, auch danach hatte ich ihn nie gefragt
Und gelegentlich, das musste ich zugeben, war ich froh um seine stille Gesellschaft, oder um das warme Bündel, das sich nachts an mich drückte. Auch ich war nur ein Mensch und brauchte ab und zu ein wenig Geborgenheit. Nicht, dass ich das nicht von jedem anderen hier hätte bekommen können, aber das was Jonah vermittelte, fühlte sich eben anders an – besser.
Und jetzt, nachdem wir zwei Wochen lang jeden Tag die Umgebung durchstreift hatten und ich fast überdosiert war, von seiner Gegenwart, dem vagen Lächeln, den dunkel schimmernden Augen, spürte ich seine Abwesenheit überdeutlich. Ich spürte sie auf eine Weise, die sich tatsächlich unangenehm anfühlte. Gerade noch hatte ich mich damit beruhigt, dass es gut so war, wie es nunmal war. Dass es mir ohnehin zu viel war, zu nah, zu... was auch immer. Und kaum war ich der drückenden Nähe entflohen, wollte ich sie zurück? Das war absurd.
Oder es war nicht einfach nur der Wunsch nach Nähe, sondern, dass mir verstärkt auffiel, wie Jonah und Santiago miteinander umgingen. Und dass es mir nicht gefiel. Gar nicht.
War ich eifersüchtig? Ja. Und zwar auf die Unbefangenheit, mit der Santiago um Jonah herumflatterte. Kein Nachdenken, kein Grübeln, kein Abwägen, er war einfach da und Jonah schien diese Unbeschwertheit durchaus zu genießen. Ich beobachtete, wie er sich grinsend an den Diskussionen beteiligte, wie er integriert wurde und zusammen mit Santiago eben in jene Gruppendynamik gesaugt wurde, die ich so schwer annehmen konnte.
Früher, mit Jason, war das anders gewesen. Ich war anders gewesen, vielleicht ein bisschen mehr wie Santiago. Aber dann... Mit einem unhörbaren Seufzen legte ich das Kinderbuch zurück auf den Stapel, strich dann über Blues Haarschopf, während Blue sich leise kichernd an mir rieb.
„Blue", sagte Sun neben mir, „warum bringen Yule und du nicht die Kinder ins Bett, hm? Würdet ihr das für uns tun?"
Etwas überrascht hob ich den Kopf, sah, wie Sun mir schmunzelnd zunickte, während Blue sofort aufsprang und Zoja an die Hand nahm. Auch Yule hievte sich ächzend in die Höhe und scheuchte den Rest zusammen. „Na los", raunte er dumpf. „Ihr habt's gehört, ab ins Bett." So brummig wie Yule sich oft gab, war er nicht und das wussten die Kinder auch, weswegen sie meistens keine Einwände erhoben, wenn er und Blue das Abendritual übernahmen. Dann wurde hinten im Kinderlager gekuschelt und gebalgt und nicht selten endete es damit, dass Yule oder auch Blue ebenfalls im Kinderlager schliefen und um sie herum in wilden Knäueln die Kinder.
Da heute Sun extra darum gebeten hatte, ging ich davon aus, dass sie etwas mit mir besprechen wollte und täuschte mich wohl auch nicht. Denn kaum waren wir allein, nahm sie den Platz neben mir ein, umschlang ihre angezogenen Knie und schenkte mir ein schwaches Lächeln.
„Ist alles okay?"
Ich nickte und wartete. Offensichtlich hatte Sun etwas auf dem Herzen und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es nichts brachte, sie zu drängen. Sun war verschlossen, regelte Probleme lieber selbst und machte Dinge gerne ganz für sich aus. Womit es also auch zu tun hatte, es war geschickter, wenn man-
„Du wirkst unglücklich", grätschte sie da völlig ansatzlos in meine Gedanken und augenblicklich ruckte mein Kopf herum. Ich? Wir sprachen über mich? Das hatte ich nicht kommen sehen.
„Ich... nein, alles okay." Vielleicht wirkte mein Lächeln etwas erzwungen, denn Sun musterte mich nachdenklich, nickte schließlich und sah auf ihre Hände, die ihre Knie umklammert hielten.
„Weißt du, damals als Victor und ich getrennt wurden... kurz bevor wir uns dazu entschlossen wegzugehen, fühlte ich mich eine Weile wie betäubt. Ich war mir sicher, dass ich ihn verlieren würde, dass wir..." Ihre Stimme war heiser geworden und jetzt brach sie ab.
Ich legte meine Hand auf ihre „Sun..."
Sie lächelte und sah mich an. „Was ich damit sagen wollte, war, ich weiß, wie es ist, wie es sich anfühlt."
Dazu sagte ich jetzt nichts, hielt aber weiterhin ihre Hand und spürte, wie sich ihre Finger sanft um meine schlangen. Seltsamerweise wusste ich allerdings auch sofort, was genau sie eigentlich meinte.
„Sprich mit ihm", flüsterte Sun da und rempelte mich sanft an der Schulter an. Als ich sie ansah, schmunzelte sie vage. „Du magst ihn doch, ich kann sehen, dass du ihn magst."
„Möglich", murmelte ich dumpf, warf einen kurzen Blick auf die laut plappernde Runde an Möchtegernjägern, die sich um einen der großen Tische versammelt hatte. Wenn der Bär nur ein bisschen Instinkt besaß würden sie ihn ohnehin nicht erwischen, sie hatten noch nie einen erwischt.
„Und ich denke er mag dich auch", flüsterte Sun und rempelte mich schon wieder an.
„Darum geht es nicht", raunte ich jetzt und zog den Kopf ein. „Ich weiß auch nicht, ich..."
Sun rollte mit den Augen. „Worauf willst du denn warten? Du bist nicht der einzige, dessen Aufmerksamkeit er bekommen hat, hm?"
Das war mir absolut klar und ich war ja nicht dumm. Santiago und Jonah verstanden sich beinahe blind, als wären sie seit Jahren Freunde. Das versetzte mir einen leichten Stich ins Herz und wieder knurrte Sun neben mir verdrießlich.
„Also ehrlich, Seho, willst du einfach kampflos das Feld räumen? Sei doch wenigstens einmal egoistisch genug und mach einen Schritt auf ihn zu, hm? Sannie wird es überleben, vertrau' mir und Jonah... bist du gar nicht neugierig?"
Schmunzelnd sah ich wieder zu der Runde hin und prompt hob Jonah den Kopf und sah ebenfalls her. Ein leises Kribbeln erfasste mich und ich lächelte schwach. Sofort zog er den Kopf wieder ein und wandte sich den anderen zu, aber ich sah auch, wie er unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. Womöglich hatte Sun ja recht und ich sollte wirklich...
*
Ein paar Tage später, nachdem ich endlos über das kurze Gespräch mit Sun nachgedacht hatte, gab ich mir einen Ruck. Das Wetter war wunderschön, fast schon ein bisschen zu warm für die Jahreszeit und es war ziemlich ruhig, weil die Hälfte der Meute durch den Wald stromerte und einen Bären suchte, der vermutlich längst über alle Berge war.
Ich fragte Jonah, ob er Lust hätte auf einen Abstecher an den Weiher und er stimmte zu. Wir packen ein paar Sachen ein, außerdem eine Decke, stibitzten Essen aus der Küche und machten uns am frühen Nachmittag auf den Weg. Zuerst schien Jonah irgendwie beunruhigt und des dauerte eine Weile, bis mir klar war, dass es tatsächlich dieser dumme Bär war, der ihm Sorgen machte.
„Ich habe noch nie einen getroffen, okay?", sagte ich amüsiert und verließ den kleinen Trampelpfad in Richtung des Weihers. „Abgesehen davon ist das arme Tier sicher schon über alle Grenzen geflüchtet, so wie sie seit Tagen durch den Wald poltern."
„Machst du dir gar keine Sorgen?"
Schmunzelnd betrachtete ich Jonah. „Nein." Zumindest nicht wegen des Bären. Ich reichte ihm die Hand, half ihm durch das Dickicht und die tiefhängenden Zweige, dann waren wir am Weiher. Jonah blieb stehen, seine Hand glitt aus meiner und er atmete tief durch.
„Ich vergesse immer wieder, wie schön es hier ist", sagte er leise. Ein vages Lächeln traf mich, dann tappte er hinter mir her und wir stoppten vor dem großen, flachen Felsen. Zusammen breiteten wir die Decke aus, machten es uns bequem und Jonah durchstöberte das mitgebrachte Essen.
„Hast du schon wieder Hunger?"
„Hab ich doch immer", er grinste schief und knabberte etwas von dem Obst und streckte sich dann auf dem Stein aus, während ich an die Kante rutschte und Füße ins Wasser tauchte. Es war kühl, aber noch nicht unangenehm.
„Bist du abgehauen?", fragte Jonah hinter mir und als ich mich überrascht umdrehte, grinste er spitzbübisch. „Na das heute – bist du vor irgendwas abgehauen?"
Ich dachte an Suns Worte und musste selbst schmunzeln. „Womöglich", gab ich zu, sah ihn kurz an, erläuterte das aber nicht näher. Jonah fragte auch nicht, rückte stattdessen ebenfalls an die Kante und setzte sich schweigend neben mich, die Füße ins Wasser getaucht. Eine Weile saßen wir so, genossen den Moment, dann streckten wir uns auf der Decke aus, kauten auf Grashalmen, faulenzten in der Sonne und redeten über irgendwelche Nichtigkeiten.
Später grub ich aus meinem Rucksack kleine Schnapsfläschchen aus, die Madox bei seinem letzten Besuch mitgebracht hatte und zusammen vernichteten wir breit grinsend die Hälfte davon. Die Stimmung zwischen uns war friedlich und im Nachhinein würde ich sagen, es war der Moment, nichts weiter, ein unbeschwerter Augenblick, der zu etwas verleitete, das in dieser Welt viel zu selten Platz fand. Albernheit. Ich redete, gestikulierte wild, lachte vielleicht und dann – plötzlich – lachte Jonah ebenfalls. Erst prustete er leise, dann lachte er laut auf, sodass ich unwillkürlich verstummte und die Arme sinken ließ.
Ich hatte ihn bisher nicht ein einziges Mal lachen gehört. Ein Lächeln, ein Kichern, aber er hatte nicht ein einziges Mal wirklich gelacht. Seine Augen funkelten und auch wenn er den Blick sofort niederschlug, fühlte ich mich wie verzaubert. Ohne auch nur darüber nachzudenken streckte ich die Hand nach ihm aus und ließ sie sofort wieder sinken, als sein Lächeln abrupt erlosch.
„Entschuldige", sagte ich leise, zuckte dabei die Schultern und sah ihn an. „Ich... glaube das war das erste Mal, dass ich dich habe lachen hören."
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