Angst und Zorn
Shadow tappte Seite an Seite mit Mond und Black durch die Nacht. Vor ihnen liefen ihre neuen Ausbilder. Schleier - ein grauer Kater mit roten Beinen und Streifen - drehte sich zu ihnen um. "Und? Freut ihr euch schon?"
Wolfs Augen blitzen fröhlich auf. "Natürlich. Was machen wir denn?", fragte er und wechselte einen raschen Blick mit Natter.
Jetzt ergriff Skorpion, Schleiers Bruder, das Wort. "Lasst euch überraschen.", schnurrte er mit einem Schwanzzucken. "Wir machen etwas Aufregendes."
Shadow schluckte ungewollt. Was könnten die vier älteren Katzen meinen? Unsicher spähte er zu Frost, die mit starrem Blick in den Wald hinaus sah, der das Lager vom Stamm der Nacht umgab.
Doch als die gelbe Kätzin mit den weißen Ohren ihren Kopf zu ihm herumdrehte, wandte er den Blick sofort ab und starrte auf den steinigen Boden.
Plötzlich schrie Sasha erschrocken auf.
Shadow blieb abrupt stehen und wirbelte zu der gelben Kätzin mit den grünen Augen herum.
"Was ist los?", fragte Mond besorgt.
Wolf musterte seine Schwester abfällig. "Fahr doch nicht gleich aus dem Pelz!", fauchte er.
Blitz tappte an Sasha heran, die wie erstarrt auf eine Stelle weiter vor der Truppe sah. Shadow folgte ihrem Blick und schnappte nach Luft. Eine hohe Steinwand ragte aus dem Boden heraus, vor ihr eine große Sandkuhle. Doch die trockene Erde war mit roten Sprenkeln bedeckt. Hier und da lagen kleine Fellbüschel.
"W-was ist...hier passiert?", stotterte er entsetzt.
Zu seiner Überraschung fing Frost an zu schnurren. "Ganz ruhig. Willkommen am Trainingsfels!"
Ihre Schwester Blitz nickte Sasha zu. "Kommt, das ist nicht schlimm. Ihr werdet schon nicht weitere Flecken hinterlassen, wenn ihr euch benehmt."
Shadow versuchte den sarkastischen Ton in ihrer Stimme zu überhören.
Schleier gesellte sich zu Blitz nach vorne und deutete einladend auf die Kuhle. "Traut euch ruhig." Ohne auf eine Reaktion zu warten, trabten die Ausbilder vor.
Shadow folgte ihnen schweigend. Auch Dunkelheit und Black setzten sich wieder in Bewegung, dahinter Natter und Wolf, deren Augen in der Finsternis aufgeregt funkelten. Die Geschwister waren dem schwarzen Kater nicht ganz geheuer. Ständig machten sie ihre Schwester Sasha nieder und hetzten andere Katzen gegen sie auf. Dazu hatten sie schon immer Gefallen an Tod und Blut gehabt.
Er erinnerte sich noch an seine Zeit im Beschützerbau, wo seine Mutter ihm und Mond oft Geschichten vom Stamm der Nacht erzählt hatte. Die Mutter von Sasha, Natter und Wolf hingegen - sie hieß Rauch - erzählte ihren Jungen meist von mörderischen Schlachten und qualvollen Toden. Kein Wunder, dass die zwei so geworden sind.
Als Shadow bei dem "Trainingsfels" ankam, nickte Skorpion ihm aufmunternd zu. "Freut mich, dass du dich traust.", miaute der Kater freundlich, wobei sein Blick kurz an Sasha hängen blieb, die zögerlich eine Pfote auf den Sand setzte. Mond stupste sie aufmunternd an.
"Und jetzt?", fragte Natter gelangweilt.
Frost sah sie kalt an, ehe sie sich der Felswand zuwandte. "Dies sind die Felsen der sterbenden Sonne. Sie befinden sich schon ewig in unserem Territorium, schon seit der Stamm hier ist. Der Name Trainingsfels ist entstanden, als die jungen Katzen kein Interesse mehr daran hatten, die Geschichten zu diesem Ort zu hören."
"So alt?", flüsterte Dunkelheit überrascht.
Shadow zuckte mit den Schultern. "Keiner weiß, wie alt der Stamm wirklich ist.", erwiderte er und schielte zu den Ausbildern.
"Seit unendlich vielen Blattwechseln wird den Lehrlingen hier alles übers Töten, Kämpfen und Jagen beigebracht.", fuhr Frost, die anscheinend nichts bemerkt hatte, fort. "Jetzt seid ihr an der Reihe."
Ein Schauer lief Shadow den Rücken herunter. Das geschah so gut wie jedes Mal, wenn jemand das Wort "Tod" in den Mund nahm. Felsen der sterbenden Sonne..., wiederholte er den Namen der Felswand in seinem Kopf. Ein viel zu langer Name, wenn sie mich fragen.
"Entschuldigung, aber warum heißen sie denn so?" Er räusperte sich und sah von Schleier zu Blitz.
Schleier blinzelte kurz überrascht, lächelte dann aber zufrieden. "Es gibt wohl doch noch ein paar Lehrlinge, die nicht nur auf neue Kampftechniken aus sind." Er nickte Blitz zu.
Diese maunzte zustimmend und erklärte: "Abends, wenn die Sonne untergeht, taucht sie hinter diesen Felsen unter, wodurch es dunkel wird. Unsere Vorfahren dachten, die Sonne würde sterben und vom Himmel fallen, daher der Name >Felsen der sterbenden Sonne<."
Shadow sah seine Ausbilderin mit großen Augen an. Wann kann etwas so unglaubliches einfach vom Himmel fallen? Etwas sehr mächtiges muss sie von dort hinunter stoßen.
"Aber warum scheint sie dann immer noch?", fragte Black verwirrt und setzte sich neben seinen Freund. Sein braungetigertes Fell sträubte sich dabei beunruhigt.
Schleier erwiderte den Blick des jungen Katers. "Der Stamm ist davon überzeugt, dass die Sonne nicht wirklich stirbt, sondern in ihrem Bau schlafen geht. Am nächsten Morgen steigt sie dann auf der anderen Seite wieder auf."
Mit einem Schwanzschnippen gab er Frost das Zeichen, weiterzusprechen. Die gelbe Kätzin mit den weißen Ohren trat nach vorne.
"Jetzt ist aber genug geplaudert.", miaute sie mit einem strengen Ton. "Beginnen wir mit unserer ersten Trainingseinheit."
Ein Schauer jagte Shadow den Rücken hinunter. Davor hatte er sich schon die ganze Zeit gefürchtet. Was werden wir wohl machen? Er spürte, wie seine Beine leicht zu zittern begannen. Wieso bin ich so nervös? Neben ihm machte Sasha ein eingeschüchtertes Gesicht. Ob sie auch so denkt?
Während der schwarze Kater grübelte, tappten Blitz und Frost ein paar Schwanzlängen weiter in die Mitte der Lichtung und fingen an zu buddeln. Irritiert traten die Lehrlinge näher, wobei Shadow unsicher die Augen zusammenkniff. Was hatten sie vorher?
Auf einmal streckte Blitz ihre krallenbesetzte Pfote in das Loch und zog etwas braunes, pelziges heraus.
"Eine Maus?", schnaubte Wolf. Seine Lippen kräuselten sich abfällig. "Uns werden doch keine Essmanieren beigebracht?"
Skorpion warf ihm einen verärgerten Blick zu, ehe er zu den beiden Kätzinnen lief. "An dieser Maus werden wir heute den schnellsten und praktischsten Tod erproben. Zwar ist sie schon tot" Er stupste den schlaffen Körper an "Aber es wird trotzdem klappen. Stellt euch einfach vor, würde leben."
Sein Bruder Schleier stimmte ihm mit einem Schwanzzucken zu. "Diese Aufgabe erfordert noch nicht viel, aber sie eignet sich gut als Anfangsübung. Natter, du fängst an."
Shadow schluckte. Ganz einfach...? Er versuchte sich vorzustellen, wie die kleinen Beine der Maus wackelten. Sofort durchzuckte Shadow ein seltsames Gefühl, das ihm das Bedürfnis gab, seine Nase einfach unter seinen Pfoten begraben zu wollen. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Mond ihn sanft anstupste. "Hey, alles in Ordnung?", zischte sie und warf ihm einen besorgten Blick zu.
Erschrocken nickte er. "Natürlich. Wieso?"
Die getüpfelte Kätzin mit dem langen Fell öffnete den Mund zu einer Antwort, brach jedoch schnell ab und sah an ihrem Bruder vorbei.
"Ihr sollt aufpassen und nicht schwatzen!", fauchte die wütende Stimme von Frost und Shadow wirbelte überrascht herum. Die Ausbilderin funkelte ihn durch ihre blauen Augen an, ihr Fell war gesträubt. "Ihr glaubt wohl, der Kampf da draußen wäre ein Witz, was?"
Entsetz wich Mond ein paar Schritte zurück. Sie versuchte etwas zu sagen, doch brachte nur ein flüchtiges "Was? Ich, also, nein!" heraus.
Shadows Gedanken kreisten in seinem Kopf herum. So wie die gelbe Kätzin sich mit blitzenden Augen und gesträubtem Fell vor ihm aufbaute, spürte er, wie seine Beine anfingen zu zittern. "Ich...ich", hob er mit belegter Stimme an, doch Frost schnitt ihm das Wort ab.
"Erspar mir deine Entschuldigungen!", knurrte sie. Mit einem Nicken gab sie Blitz ein Zeichen, woraufhin ihre Schwester eilig die Maus am Rand der Sandkuhle ablegte. "Du fängst an." Frost warf Shadow einen eisigen Blick zu und machte ein paar Schritte beiseite.
Jetzt stand der schwarze Kater nur noch wenige Schwanzlängen von dem schlaffen Tier entfernt. Schleier trat an seine Seite. Schnell erklärte er dem Lehrling die Jagdposition. "Den Todesbiss kennst du sicher schon, nicht wahr?", schnurrte er.
Beschämt starrte Shadow auf seine Pfoten. "Na ja, nicht richtig." In Wirklichkeit hatte er überhaupt keine Ahnung davon, was er tun sollte. Black hatte ihm manchmal ein paar seltsame Bisse und Schläge gezeigt, doch er hatte nie so richtig aufgepasst.
Nachdem Schleier ihm noch einmal alles erklärt hatte, auch den Todesbiss, stellte Shadow sich in Position. Seine Schnauze schwebte knapp über dem Boden, seine Beine angewinkelt,
"Mehr bücken.", befahl Skorpion und musterte Shadows gekrümmte Haltung prüfend.
Rasch beugte Shadow seine Beine noch mehr. Fühlt sich das komisch an., murmelte er in Gedanken, ehe der schwarze Kater mit einer seiner roten Vorderpfoten Shadows Schweif einen Klapps gab. "Soll deine Beute dich etwa schon vom Weiten sehen?", fragte er tadelnd.
Beschämt senkte Shadow seinen Schweif und hoffte, dass vielen gerade erst ernannten Lehrlingen diese Fehler unterliefen.
"Und jetzt los." Blitz sah ihn erwartungsvoll an.
Unsicher bewegte Shadow sich in der neuen Haltung voran. Er spürte die interessierten Blicke seiner Baugefährten und schluckte. Was wenn ich etwas falsch mache? Angst brodelte in ihm auf. Aber da war noch etwas anderes. Belustigung? Nein, das konnte nicht sein. Warum sollte er in diesem Moment auch nur einen Funken Freude empfinden?
In Gedanken versunken merkte er gar nicht, dass er nur noch eine knappe Schwanzlänge von der Maus entfernt war, bis Schleier ihn mit einem Fauchen darauf aufmerksam machte. "Konzentrier dich! Mäuse mögen uns unterlegen sein, aber deshalb sind sie nicht gleich blind!"
Erschrocken fixierte Shadow das tote Tier erneut.
"Ich freu mich schon auf sein Versagen.", hörte er den abfälligen Kommentar von Natter.
Normalerweise ignorierte er die weißbraune Kätzin und ihr Miaue. Doch dieses Mal wurde er von so viel Wut überschwemmt und seine Pfoten begannen zu pochen. Unglaublicher Zorn ballte sich in seinem Magen zusammen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und zu seinem Entsetzen staute sich das drängende Gefühl in ihm auf, mit gebleckten Zähnen auf Natter loszugehen.
Nur mit Mühe konnte er den Drang unterdrücken, doch das schien ihm etliche Kraft zu rauben. Von einem Moment auf den anderen verschwamm seine Sicht und es wurde schwarz.
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