Ziffernblätter
(Diesen Text habe ich nicht im Zuge der Schreibchallenge verfasst, sondern im Zuge einer Schulaufgabe. Trotzdem ist er vielleicht ganz schön.)
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Ein Vogel flog an meinem Zimmerfenster vorüber. Was das wohl für einer war? Er war grün, mehr hatte ich nicht erkennen können. Aus Gewohnheit griff ich an mein Handgelenk - nichts. Ich atmete kontrolliert aus. Es war noch nicht lange her, dass ich die Uhr verloren hatte, es fühlte sich an wie kalter Entzug. Obwohl ich wusste, dass es besser war, wie es jetzt war, vermisste ich oft die Möglichkeit, Dinge ungeschehen zu machen. Eine zerbrochene Tasse, ein Wort, dass man lieber nicht gesagt hätte, ein Missverständnis, ein blöder Zufall, all das musste doch nicht sein. Und ich hatte die Möglichkeit gehabt, nichts bereuen oder bedauern zu müssen. Ja, ich hatte eine Zeitmaschine besessen.
Es war ein Sonntag, der so normal schien und doch so schicksalhaft enden sollte. Ein Sonntag im Frühling. Ja, es war ein richtiger Frühlingssonntag, an dem Vögel zwitscherten, die Sonne endlich wieder schien und man spürte, dass das Gras wuchs. Vielleicht war es das, was mich damals dazu verannlasste, Kümmels Landen wieder einmal zu besuchen. Kümmel, das war ein alter Freun meiner Mutter, Arnd Kümmel mit vollem Namen. Er besaß ein Geschäft, das er - lustig wie er war - "Kümmels Klüngel" genannt hatte. In meiner Kindheit war dieses kleine, mit interessanten Dingen gefüllte Geschäft wie ein zweites Zuhause für mich gewesen. Wann immer mir bei meinen Eltern die Decke auf den Kopf gefallen war, war ich zu Kümmel gegangen. Auch heute noch verbrachte ich gerne Zeit bei ihm, nur leider nicht mehr so oft.
Ich öffnete mit einem leichten Stoß die hölzerne Tür, die Glocke leutete. "Bin sofort da!", hörte ich Kümmels Stimme aus einer Ecke des Landens. Dann ein Rumpeln und ein Ausruf, der sehr nach "Mist!" klang. Ich musste schmunzeln, das war typisch für Kümmel. "Ach du bist es, Mika", sagte er, nachdem er hinter Kisten und Kästen hervor gekommen war. "Schön, dich hier mal wieder zu sehen." "Danke", antwortete ich und lächelte. Seine liebevolle Art sorgte dafür, dass man sich hier, zwischen aufgestapelten Büchern, unsortiertem Krempel und altem Trödel direkt wohl fühlte.
"Da fällt mir ein", fuhr Kümmel fort, "es gibt da noch etwas, das ich dir geben will." Und mit einer Handbewegung, die mir bedeutete, ihm zu folgen, verschwand er hinter einem Regal voll Antiquitäten. Ich beeilte mich, hinter ihm her zu kommen. "Es fiel mir neulich in die Hände, als ich einem alten Bekannten besucht habe", sprach er im Gehen. "Ich musste sofort an dich denken, weil dir Uhren ja so gefallen..." Nach einem gezielten Griff in eines der oberen Regalbretter legte er mir etwas in die Hand Ich spürte das kühle Metall, bevor ich den Blick auf den Gegenstand senkte und diesen als Taschenuhr identifizierte. Die Taschenuhr war aus Kupfer gefertigt und mit feinen Linien aus Silber verziert.
"Handarbeit, 18. Jahrhundert", informierte mich Kümmel, während ich das Uhrwerk an mein Ohr hielt, um das leise Ticken wahrnehmen zu können. Es klang atmeberaubend schön. "Sie geht auf die Millisekunde genau. Faszinierend, nicht?" "Wow", entfuhr es mir, zu mehr war ich nicht im Stande. Dann entdeckte ich ein winziges Rädchen auf der Rückseite der Taschenuhr. Mit den Fingerspitzen drehte ich vorsichtig daran und beobachtete, wie sich die elegant geschwungenen Zeiger gegen den Uhrzeigersinn auf dem Ziffernblatt bewegten. Jetzt hast du sie verstellt, du Idiot!, beschimpfte ich mich innerlich selbst.
"Mist!", ertönte es plötzlich. Ich schaute auf. Wo war Kümmel hin? Er hatte doch eben noch vor mir gestanden. Und wieso befand ich mich wieder an der Tür? "Ach du bist es, Mika. Schön, dich hier mal wieder zu sehen", sagte Kümmel. "Danke", sagte ich perplex und ließ vor Schreck die Taschenuhr fallen, als mir bewusst wurde, was hier passierte. Hatte ich soeben die Vergangenheit wiederholt?
Ich bückte mich und hob die Uhr wieder auf. "Zum Glück ist sie nicht kaputt", sagte Kümmel, der mit einem Mal wieder vor mir zwischen den hohen Regalen stand. "Sie mag wohl wertvoller sein, als manch einer denkt", fügte er mit einem Zwinkern hinzu. "Ich werde gut auf sie Acht geben", erwiderte ich, nachdem ich erst Kümmel und dann die Uhr lange anstarrte. Entweder, die Zeit ist gekommen, um mich in die Psychiatrie einzuweisen, oder ich halte eine Zeitmaschine in den Händen, dachte ich ungläubig.
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