Kapitel 1 (September 1990)
Das sah mal wieder nach einer Punktlandung in letzter Minute aus. Gleich am ersten Schultag nach den Ferien zu spät zu kommen, war nicht unbedingt die feine Art. Das leuchtete sogar Ava ein. Zumal sie schon jetzt diverse Fehltage für die Zeit nach ihrem achtzehnten Geburtstag einplante. Sie konnte es kaum erwarten, sich ihre Entschuldigungen künftig selbst zu schreiben. Und wenn ihre Leistungen stimmten, würden die Lehrer hoffentlich mit einer gewissen Kulanz darüber hinwegsehen, dass sie regelmäßig mit Abwesenheit glänzte.
Der Schulweg war bereits leergefegt. Ava war das nur recht. Sie hasste es, sich morgens durch Horden von Schülern aller Altersstufen kämpfen zu müssen. Und vielleicht, zu allem Überfluss, noch von Hinz und Kunz zugetextet zu werden. Was vornehmlich dann passierte, wenn sie gerade einen besonders miesen Tag erwischt hatte. Ava sah sich selbst als den Inbegriff eines Misanthropen. Auch wenn ihre Mutter es als äußerst besorgniserregend erachtete, dass ihrer Tochter dieser Begriff überhaupt geläufig war. Ava vertrat die Ansicht, dass Menschen von Natur aus schlecht waren. Zumindest solange, bis sie Ava vom Gegenteil überzeugt hatten.
Ihr altes Fahrrad ächzte, als sie noch ein wenig kräftiger in die Pedale trat.
»Ja nicht schwächeln auf den letzten Metern«, feuerte sie sich selbst an. Mit Schwung bog sie in die Schulstraße ein und musste dabei einer getigerten Katze ausweichen, die ihr beinahe in die Räder lief. Im gleichen Moment hörte sie neben sich Reifen quietschen. Vor Schreck verlor Ava das Gleichgewicht und fiel vom Rad. Ihre Tasche flog vom Gepäckträger und ihr direkt hinterher. Der Inhalt verstreute sich in der ganzen Kurve. Wie in Zeitlupe registrierte Ava, dass das rote Auto nur wenige Zentimeter von ihr entfernt zum Stehen kam. Völlig paralysiert blieb sie auf dem Boden hocken, während die Fahrertür aufgerissen wurde und ein junger Mann heraussprang.
»Mensch, Mädchen!«, rief er und lief mit langen Schritten auf Ava zu. »Ist dir was passiert?«
»Jetzt komme ich defintiv zu spät«, murmelte Ava.
»Hast du dich verletzt?«, formulierte der Mann seine Frage anders. Er streckte ihr die Hand entgegen. Trotz ihrer Schockstarre stellte Ava fest, dass sie schon seit Ewigkeiten keinen derart attraktiven Typen mehr gesehen hatte. Dabei stand sie eigentlich gar nicht auf blond. Aber diese dunkelblauen Augen verursachten ihre weichere Knie als der Sturz eben. Zögernd ergriff sie seine Rechte und ließ sich von ihm hoch helfen. Fast war sie ein wenig enttäuscht, als seine warmen Finger sich von ihren lösten. Ava hatte ein ausgesprochenes Faible für schöne Hände. Und bei diesen hier hatte Mutter Natur ganze Arbeit geleistet.
»Hallo? Du bist der deutschen Sprache mächtig, oder?« Seine melodische Stimme hatte inzwischen einen ungeduldigen Unterton angenommen. Doch um seine Mundwinkel zuckte es. »Mir war so, als hättest du eben was gesagt. Oder habe ich mir das nur eingebildet?«
»Mir geht's gut.« Um nicht endgültig als minderbemittelter Backfisch abgestempelt zu werden, hielt Ava es für besser, ab sofort jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Ihr Gesicht glühte ohnehin schon. Schnell bückte sie sich und klaubte ihre auf der Straße versprengten Habseligkeiten zusammen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass auch er sich in die Hocke begeben hatte und den Collegeblock sowie das kleine Notizbuch in ihre Tasche stopfte.
»Da fehlt doch eindeutig was auf deinen Heften.« Trotz Avas Einsilbigkeit schien er weiter Konversation betreiben zu wollen. Und auch wenn sie ihn nicht ansah, registrierte sie seinen bohrenden Blick.
»Und was sollte das sein?« Ihre Gegenfrage klang schnippisch. Doch tatsächlich klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
»Diddlemäuse sind doch bei Mädchen deines Alters momentan groß in Mode. Aber bei dir gibt es ja nicht einmal einen mickrigen Glitzersticker.«
»Mädchen meines Alters?«, wiederholte sie gedehnt. In ihrem Ärger vergaß sie ganz, dass sie den Kerl nicht mehr ansehen wollte. Zu spät. Hatte die Farbe »Blau« eine hypnotische Wirkung, von der sie nichts wusste? Aus seinen Augen blitzte der Schalk und goldene Punkte tanzten im Meer seiner Iris. Doch Ava hatte nicht vor, die Waffen zu strecken. »Für wie alt hältst du mich denn? Und warum tust du so, als wärest du hundert?« Anstatt sich brüskiert zurückzuziehen, brach ihr gutaussehendes Gegenüber in schallendes Gelächter aus.
»Danke für die Blumen. Ich bin dreiunddreißig.« Seine Zähne blitzten und nun bemerkte Ava auch die hauchfeinen Lachfältchen.
»Hoppla.« Nicht eben eine Glanzleistung in Sachen Eloquenz. Aber eine prägnante Zusammenfassung dessen, was sie gerade dachte. Sie hätte ihn auf Anfang Zwanzig geschätzt. Maximal. »Dann muss ich ja »Sie« sagen.«
»Das kommt darauf an«, erwiderte ihr Gesprächspartner schmunzelnd. Offenbar amüsierte er sich köstlich.
»Worauf denn?« Irgendwie hatte der Kerl, so ansehnlich er auch war, eine Art an sich, die sie im Nullkommanichts auf die Palme brachte. Attraktivität war außerdem relativ und der Typ fast doppelt so alt wie sie.
»Ach, ich glaube, für den Moment war dieser Fast-Unfall Aufregung genug.« Immer noch lächelnd erhob er sich. »Jetzt sieh zu, dass du in die Schule kommst.«
»Jawohl, Herr Lehrer«, konterte sie bissig. Sie sah ihm an, dass er sich mächtig zusammennehmen musste, um einem weiteren Lachanfall vorzubeugen. Hatte Adonis einen Clown verschluckt oder was war jetzt schon wieder so lustig?
»Na, ganz so förmlich muss es auch nicht sein.« Er grinste breit. »Aber im Grunde war das jetzt wohl die korrekte Anrede.«
Zunächst hatte Ava keinen blassen Dunst, wovon er sprach. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Typ war tatsächlich Lehrer. Ava stöhnte innerlich laut auf. Das durfte nicht wahr sein. In den vergangenen Jahren konnte er noch nicht an ihrer Schule unterrichtet haben. Das Hemingway-Gymnasium war nicht gerade klein. Aber solch ein Bild von einem Mann wäre ihr aufgefallen. Fehlte gerade noch, dass sie ihm in einem ihrer Kurse über den Weg lief. Bei dem Gedanken wurde ihr abwechselnd heiß und kalt.
»Erde an Mädchen ohne Namen: Machst du gerade eine Astralreise?«
»So ähnlich. Ich bade in einem gigantischen Fettnäpfchen.« Wenigstens befanden sich ihre Gehirnzellen nicht mehr im Streik. »Ich bin Ava. Ava Wendorf.«
»Jon Keller.« War es verwerflich, dass sie sich insgeheim darüber freute, noch einmal seine schöne Hand halten zu dürfen? Jetzt, wo sie wusste, was er war? Ein „Leerkörper". Sie konnte es immer noch nicht fassen. Die kurze Berührung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Zugleich wäre sie angesichts ihrer albernen Reaktion am liebsten im Erdboden versunken.
»Dann gehe ich jetzt mal. Oder schreiben Sie mir eine Entschuldigung?« Sie wusste selbst, dass sie nur versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen. Hauptsache, ihr Mundwerk funktionierte wieder einwandfrei.
»Nein, da muss ich leider passen. Ich bin eine Autoritätsperson. Vergiss das nicht. Und erfahrungsgemäß mache ich mich noch früh genug unbeliebt im Kollegium. Wenn dir aber irgendwer blöd kommt wegen deiner Verspätung, kannst du mich gerne in den Zeugenstand rufen."
Eine Hupe ertönte. Hinter Jon Kellers rotem Peugeot hatte sich ein silbernes Schlachtschiff eingereiht und wartete ungeduldig darauf, dass sie endlich die Straße räumten. Mit einem kurzen Blick über die Schulter meinte Jon:
»Ich wünsche dir einen guten Start, Ava. Und vielleicht bis später!«
»Danke. Den wünsche ich Ihnen auch. Und keine unschuldigen Mädels mehr umnieten.« Sein Lachen klang wie Musik in ihren Ohren. Ava wartete, bis er die langen Beine in seiner Seifenkiste verstaut hatte. Dann schwang sie sich auf ihr Rad. Winkend fuhren sie aneinander vorbei.
***
Sechzig Augenpaare verfolgten ihren Büßergang von der Tür des Zimmers 210 bis zu den Schulbänken. In der vorletzten Reihe signalisierte ihr Sonja mit spastisch anmutenden Verrenkungsübungen, dass neben ihr noch ein Plätzchen frei war. Zuerst musste sie aber an Claus Nowak, seines Zeichens Kollegstufenleiter und Profilneurotiker allersten Ranges, vorbei. Zwischen ihm und Ava war es Antipathie auf den ersten Blick gewesen. Damals in der 9a. Als sie erstmalig mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten und damit ihrem Hassfach Nummer Eins konfrontiert wurde. Der bisherige Höhepunkt ihrer Feindschaft war dann ein Kommentar, den der werte Herr Nowak unter ihre Arbeiten platziert hatte. Mit der übergroßen und kühn geschwungenen Sechs auf der ersten Seite hätte Ava sogar noch leben können. Physik war nun wirklich nicht ihre Stärke und sie zählte bereits seit der ersten Stunde die Tage, bis sie dieses furztrockene Fach endlich abwählen konnte. Aber dass er, der Herr Physiklehrer, sich anmaßte, zu behaupten, das sei kein „deutsch", was sie da zusammenfabuliert habe, das war echt der Supergau. Sie liebte die deutsche Sprache. Seit sie fünf Jahre alt war, verschlang sie jedes Buch, das sie in die Finger bekam. Und in der Schule war der Deutschunterricht der einzige, den sie nie versäumte. Bereits eine Zwei war für Ava ein kleiner Weltuntergang. Eine Note, für die sie in manch anderem Fach dem Lehrer die Füße geküsst hätte. Ausgenommen Herrn Nowak natürlich.
„Ah, das Fräulein Wendorf hat wahrscheinlich mal wieder auf eine Extraeinladung gehofft." Nowaks Stimme triefte nur so vor Süffisanz.
„Ihnen auch einen wunderschönen, guten Morgen", erwiderte Ava überfreundlich. Sie deutete demonstrativ auf die Stelle oberhalb ihres linken Knies, an dem die dunkle Strickstrumpfhose den Sturz nicht überlebt hatte. „Ich entschuldige mich aufrichtig dafür, dass ich mir erlaubt habe, vom Fahrrad zu fliegen." Leises Lachen wehte aus den Schülerreihen zu ihr nach vorne. Skeptisch musterte Nowak das etwas unorthodoxe Indiz. Dann räusperte er sich und wedelte mit den Papieren in seiner Hand Richtung Ava. Als müsste er ein lästiges Insekt verscheuchen.
„Wenn Sie nun die Güte hätten, sich zu setzen. Dann kann ich endlich mit meiner Einführung fortfahren."
„Liebend gerne." In dem Moment, als sie Nowak den Rücken zukehrte, hätte Ava fast die Augen verdreht. Aber sie verkniff sich diesen kindischen Impuls. Sie war schon immer für die direkte Auseinandersetzung. Ganz gleich, in welchem Alter oder welcher Position sich ihr Gegenspieler befand. Erleichtert, dass sie sich in dieser unerquicklichen Situation nicht völlig zum Affen gemacht hatte, ließ sie sich auf den freien Sitzplatz neben Sonja gleiten. Diese knuffte sie freundschaftlich in die Seite. Ihre grünen Augen blitzten.
„Du bist ja schon wieder voll auf Kuschelkurs", flüsterte sie.
„Mit dem da vorne, meinst du?" Möglichst unauffällig wies Ava mit ihrem Kinn in Nowaks Richtung. „Ja, du weißt doch - wir sind so:" Unter dem Tisch hakte Ava ihre beiden Mittelfinger ineinander. Sonja kicherte und kassierte prompt einen bösen Blick vom Herrn Kollegstufenleiter.
„Ich glaube, ich habe den Bogen jetzt endgültig überspannt", wisperte Ava. „Ich mache jetzt ab sofort lieber mal einen auf Musterschülerin." Sonja nickte. Und Ava schaffte es tatsächlich, den Ausführungen von Nowak für ganze zehn Minuten konzentriert zu folgen. Als klar war, dass er die Stundenpläne erst im Anschluss an seinen Sermon austeilen und danach kein Unterricht mehr stattfinden würde, schweiften ihre Gedanken schon wieder ab. Ihr Blick wanderte über die vollgestopften Schulbänke und die Köpfe der Schüler. Die meisten taten mehr oder weniger interessiert, waren aber eigentlich auch nicht bei der Sache. Max zeichnete Comicfiguren in sein Hausaufgabenheft, Marie las in einer Zeitschrift, die sie geschickt vor Nowaks Augen verbarg und Jan zählte die Blätter an den Bäumen oder weiß der Teufel. Lehrer hatten wirklich kein einfaches Los. Wahrscheinlich war Nowak schon froh darüber, dass er seine Litanei in Ruhe herunterbeten konnte, ohne dass irgendwelche Unruhestifter den großen Macker markierten. Sie verkniff sich ein Gähnen und begegnete Ralfs dunklen Augen. Sie erwiderte sein Lächeln und freute sich schon darauf, sich auf dem Heimweg später ein wenig austauschen zu können. Er war wirklich ein dufter Typ und sie schätzte seine treue Freundschaft sehr. Obwohl er genau wusste, wie verkorkst Ava war, hatte er immer zu ihr gehalten. Und er war einer der wenigen Jungs in ihrem Alter, dessen geistiges Niveau nicht im pubertären Chaos versumpft war.
»Hast du eigentlich mitbekommen, dass wir einen neuen Lehrer an der Schule haben? Der hat echt das Zeug zum ultimativen Mädchenschwarm. Ich habe ihn heute Morgen in der Aula gesehen.« Sonja sah nahezu verklärt aus. Und Ava wurde sich selbst von Sekunde zu Sekunde peinlicher. Auf keinen Fall wollte sie zu einem dieser albernen Groupies mutieren, die einem unerreichbaren Idol hinterherlechzen und sich - ganz nebenbei - komplett lächerlich machen. Das fehlte gerade noch. Krampfhaft versuchte sie, die Begegnung mit Jon Keller objektiv zu betrachten. Wahrscheinlich war sie deshalb so empfänglich für romantische Anwandlungen gewesen, weil der Sturz ihr vorübergehend die Zurechnungsfähigkeit geraubt hatte. Ja, so musste es gewesen sein. Sie schwor sich, Keller aus dem Weg zu gehen, so gut es ging. Zumindest solange, bis sich die letzten Schmetterlinge in ihrem Bauch endgültig verpisst hatten.
»Hey, ich rede mit dir!« Sonja sprach zwar leise, aber mit Nachdruck. »Hast du schon einen Blick auf ihn erhaschen können? Er heißt Keller, oder so ähnlich.«
»Ja, ist schon möglich, erwiderte Ava ausweichend. »Sonja, ich muss jetzt echt meine Klappe halten. Nowak sieht aus, als würde er mich am liebsten aus dem Fenster schmeißen.«
»Ok, ok.« Sonja hob abwehrend die Hände. »Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du echt Dussel hast.«
Ava sah sie nur fragend an. Ihr schwante nichts Gutes.
»Der Neue ist Deutschlehrer. Und jetzt rate mal ...« Sonja machte es sichtlich Spaß daran, die Katze so lang wie möglich im Sack zu behalten. Nur blöd, dass der schon total löchrig war.
»Er übernimmt den Deutsch-Leistungskurs«, antwortete Ava trocken. Doch ihre Gelassenheit war nur gespielt. In ihrem Magen tanzten die Flattertierchen Samba. Warum sie derart aus dem Häuschen war, konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie hatte dem Mann schlappe fünf Minuten gegenübergestanden. Und sie hatten nur über belanglosen Quatsch gesprochen. Und er war alt, Herrgott nochmal. Auch wenn er nicht danach aussah. Außerdem Lehrer. IHR Lehrer.
»Ja, das ist doch super. Ich würde gerne mit dir tauschen.« Sonja seufzte. »Ich muss mit Schnarchnase Siebert vorlieb nehmen. Und ...«
»... mit mir«, vollendete Nowak ihren Satz. Er stand direkt vor ihnen und schien alles andere als amüsiert. Sonjas Gesichtsfarbe wechselte in Sekundenschnelle von rosa zu weiß und schließlich zu tomatenrot. Der Kollegstufenleiter knallte ihnen wortlos zwei Seiten Papier auf den Tisch. Die Stundenpläne.
Nowak war schon zehn Bänke weiter und Ava hatte sich noch immer nicht dazu überwinden können, einen Blick auf ihre Kursaufstellung zu werfen. Derweilen studierte und kommentierte Sonja bereits eifrig ihren eigenen Plan. Generell war der Geräuschpegel im Klassenzimmer angestiegen. Doch Ava hatte keine Lust, mit den anderen über die individuelle Stundenverteilung und die verschiedenen Lehrkräfte zu diskutieren. Sie würde sich die Termine zu Hause in Ruhe zu Gemüte führen. Kaum hatte Nowak den offiziellen Teil für beendet erklärt, schnappte sie ihre Tasche und stand auf.
»Sei mir nicht böse, aber ich verzieh mich. Mir geht's nicht so gut.« Sonja sah sie überrascht an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ich bin bloß noch etwas neben der Spur wegen des Sturzes.« Das war schließlich noch nicht einmal gelogen. »Morgen bin ich wieder Alte.«
»Wir sehen uns dann in Englisch, oder?« Ava warf einen kurzen Blick auf den Stundenplan. Der Englisch-Leistungskurs bildete den Auftakt zu einem vollgepackten Mittwoch. Sie stöhnte.
»Na, na. So schlimm wird es schon nicht werden.« Sonja klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
»Ne, noch schlimmer, vermutlich«, gab Ava zurück. Sie lachten beide. So herzhaft, dass Sonjas dunkelblonde Locken dabei fröhlich wippten.
»Ich sehe, du willst aufbrechen«, schaltete sich in diesem Moment eine männliche Stimme mit ein. »Da würde ich mich glatt anschließen.« Ralf hatte seine Tasche ebenfalls schon geschultert. Sie verabschiedeten sich von Sonja, die sich noch ein wenig Ratsch und Tratsch widmen wollte, und verließen gemeinsam das Gebäude. Schweigend liefen sie nebeneinander zu den Fahrradständern.
»Wie ist das heute Morgen eigentlich passiert?«, fragte Ralf, als sie die Schlösser aufsperrten. »Ich habe dich noch nie vom Rad fliegen sehen. Sogar dann nicht, wenn ich fest damit gerechnet habe, dass du dich gleich langlegst.«
»Ich hab nicht aufgepasst und bin an der Straßenecke vorne fast mit einem Auto kollidiert.«
»Uff, da hast du aber Glück gehabt, dass es so glimpflich ausgegangen ist. Hat der Fahrer dir wenigstens geholfen?«
»Ja, hat er«, erwiderte Ava schroff. Ralf musterte sie erstaunt.
»Bitte entschuldige. Ich bin heute einfach etwas durch den Wind«, versuchte Ava, ihren Faux-Pas wieder auszubügeln. Sie schwangen sich auf die Räder. Als sie die Schule und besagte Straßenecke hinter sich gelassen hatten, fühlte sich Ava gleich viel besser. »Du hast dich doch jetzt für Bio und Latein entschieden, oder?« , wechselte sie das Thema.
»Ja, ich denke noch immer, dass das die beste Fächerkombination im Hinblick auf das Medizinstudium ist.« Ralf wollte schon immer Arzt werden. Ava und er kannten sich seit der Grundschule. Und bereits damals stand sein Berufsziel fest. Ava bewunderte Ralf für seine Sicherheit. Sie selbst hatte sogar jetzt noch keine Ahnung, welchen Weg sie beruflich einschlagen sollte.
»Da hast du sicher recht. Aber das werden zwei arbeitsintensive Jahre.« Ava graute es allein schon bei der Vorstellung. Büffeln zu müssen, bis das Hirn kochte, war so gar nicht ihrs. Ralf lachte.
»Ich glaube, im Studium wird es noch wesentlich heftiger zur Sache gehen.« Doch diese Aussichten schienen ihn nicht zu schrecken. Für ihn war der Arztberuf eine echte Berufung. Er scherte sich nicht um Ansehen und Prestige. Nein, Ralf war es ein Bedürfnis, zu helfen. Er wollte Gutes tun. Seine zukünftigen Patienten würden von Glück reden können, einen solch fähigen Arzt gefunden zu haben. Dass Ralf das Studium mit Leichtigkeit meistern würde, stand für Ava außer Frage. Er hatte nicht nur menschlich eine Menge auf dem Kasten. »Hast du dir schon wegen der Fachrichtung Gedanken gemacht«, fragte sie ihn interessiert.
»Hm, ich möchte gerne mit den Menschen als Ganzes zu tun haben. Als Chirurg tauge ich also bestimmt nicht. Die Innere würde zu mir passen, denke ich. Oder vielleicht werde ich auch Gynäkologe.« Schelmisch grinste er Ava an. Mit seinem letzten Satz hatte er sie richtig aus dem Konzept gebracht. Sie merkte, wie sie rot wurde, und ihr Fahrrad machte einen wenig eleganten Schlenker. Ralf griff geistesgegenwärtig nach ihrem Lenker.
»Hoppla. Ich will nicht daran schuld sein, wenn du heute zum zweiten Mal eine Bruchlandung machst.« Er feixte immer noch. Inzwischen hatte Ava ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Mit gespielter Fassungslosigkeit schüttelte sie den Kopf.
»Du bist scheinbar doch nicht so unschuldig, wie ich dachte«, zog sie ihn auf. »Kommt da die dunkle Seite in dir zum Vorschein?«
»Ja, stell dir mal vor. Den ganzen Tag umgeben von Frauen. Und nackter Haut. Das ist doch der Traum jeden Mannes.« Ralf setzte einen lüsternen Gesichtsausdruck auf. Ava schmunzelte und betrachtete nachdenklich sein markantes Profil. Jetzt, da sie diese Option hatte sacken lassen, erschien sie ihr gar nicht einmal so abwegig. Ralf war der geborene Frauenversteher. Weibliche Wesen fühlten sich auf Anhieb wohl und geborgen in seiner Gegenwart. Er mochte Frauen einfach. Aufrichtig. Und er würde ihnen nie weh tun oder sie ausnutzen. Dessen war sich Ava sicher. Sie wunderte sich, dass Ralf keine Freundin hatte. An Angeboten mangelte es ihm wahrhaft nicht. Er war nicht nur smart und verständnisvoll, sondern obendrein sehr ansehnlich. Wenn Ava ihn nicht schon mehr als ihr halbes Leben lang kennen würde, hätte sie sich vielleicht selbst in ihn verliebt. Doch so war er mehr ein Bruder als ein potentieller Geliebter für sie.
***
Die hochgeschätzte Userin mauberzusel hat mir angeboten, das Korrektorat für diese Geschichte zu übernehmen und ich habe natürlich begeistert zugesagt. Daher wird es hier und in den folgenden Kapiteln zahlreiche Verbesserungshinweise geben, die peu à peu von mir eingearbeitet werden. Lasst euch also davon nicht irritieren - ich will das so! Danke für euer Verständnis! :-)
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