Schularbeit (#GermanLetsDado)
Ich saß an meinen Hausaufgaben und langweilte mich. Die letzten Tage hatte ich mit hohem Fieber und Erkältung Zuhause gelegen und hatte jetzt viel Schulstoff nachzuholen. Nur verstand ich gerademal die Hälfte der Mitschriften und hatte mich bereits stundenlang damit herumgeplagt, alles in meinen Kopf zu zwängen. Hätte ich jemanden, der es mir erklären könnte, wäre es bestimmt anders, aber meine Eltern waren noch auf Arbeit und meine Klassenkameraden waren mir dabei keine große Hilfe. Ich seufzte und trommelte mit meinem Bleistift sehr unrhythmisch auf dem Schreibtisch herum.
Ein Schatten in meinem Blickwinkel erschreckte mich plötzlich und mein Kopf zuckte zum Fenster links von mir. Jemand stand direkt davor und verdunkelte meinen Raum, während er suchend durch das Glas schaute. Sogar seine Hände hatte er platt gegen die Scheibe gedrückt und sie hinterließen gut sichtbare Fettflecken. Uhh... wer war das denn? Ich kannte diesen Jungen gar nicht, was machte er in unserem Garten? Seine blonden Haare standen zottelig vom Kopf ab und seine Hose hatte mehrere ungeflickte Löcher. Unsicher beobachtete ich ihn, bis er mich endlich auch entdeckte und mir fröhlich winkte. Ich winkte zögernd zurück.
Mein Gegenüber trat einen Schritt von der Scheibe weg, hob seine Hände und faltete sie so, dass nur noch Daumen und seine kleinen Finger aus den Fäusten herausguckten, überkreuzte die kleinen Finger und zog seine Arme mit einer flüssigen Bewegung zur Seite. Was...? Als nächstes eine kreisende Bewegung neben seinem Mund, dann zeigte er auf mich. "Wie heißt du?", fragte er! Er konnte Gebärdensprache? Sofort war mein Misstrauen gegenüber dem Jungen verschwunden und ich antwortete ihm begeistert mit meinen Händen: "M-a-n-u-e-l. Und du?"
"M-a-u-r-i-c-e", buchstabierte er grinsend zurück.
Eine Weile unterhielten wir uns so, ich erfuhr, dass er mit seiner Familie erst vor wenigen Tagen in unsere Straße gezogen war und seine Nachbarn gesagt hatten, es gäbe in der Nähe noch jemanden, mit dem er sich mithilfe von Gebärden unterhalten könnte. "Heißt das, du bist auch stumm?", wollte Maurice wissen. Ich schüttelte den Kopf: "Gehörlos."
"Willst du nicht mit nach draußen zum Spielen kommen?", war seine nächste Frage und meine gute Laune sank ein wenig. Das ging doch jetzt nicht... Wenn ich die Hausaufgaben nicht machte, würde ich nie mit dem Unterricht hinterher kommen! Also seufzte ich nur und zeigte auf meinen Schreibtisch. Der Blätterstapel sprach für sich. Maurice brauchte eine Weile, bis er ihn durch das spiegelnde Glas entdeckte, aber dann klopfte er aufgeregt gegen das Fenster und zeigte zu mir nach drinnen. Nanu, wollte er etwa reinkommen? Meine Mutter würde stinksauer sein wenn sie erfuhr, dass ich einen Wildfremden ins Haus gelassen hatte... Andererseits würde sie erst in einigen Stunden wiederkommen und mir fehlte im Augenblick sowieso die Konzentration für den Schulstoff. Eine kleine Pause würde nicht schaden!
Wie vermutet schlüpfte Maurice herein, kaum dass ich das Fenster weit genug geöffnet hatte, und schaute sich neugierig in meinem Zimmer um. So von nahem sah er noch zerzauster aus als eben noch und kurzzeitig überkamen mich Zweifel, ob ich denn das richtige getan hatte. Als neue Nachbarn konnte sich ja jeder vorstellen, aber jetzt war es sowieso zu spät. Wenn der Junge etwas klaute, würde ich ihn schlecht aufhalten können, er überragte mich um einen halben Kopf und wurde nicht von Migräne oder Gliederschmerzen geplagt. Doch nachdem Maurice sich satt gesehen hatte, steuerte er meinen Schreibtisch an und besah sich meine Schulaufgaben einmal genauer. Nahm das oberste Blatt und legte es beiseite, dann drehte er sich strahlend zu mir um. "Das hatten wir letztes Jahr!", verkündete er mir stolz, "Soll ich dir dabei helfen?"
"Gerne!", symbolisierte ich ihm erleichtert und sprintete los, um ihm aus der Küche einen Stuhl zu besorgen. Meine Sorge von eben, dass er unbeobachtet etwas stehlen könnte, war schon wieder völlig vergessen. Er konnte Gebärdensprache und war mir damit beim Lernverstehen bereits wertvoller als meine gesamte Klasse, die mit mir nur über Schriftverkehr und simple Gesten kommunizierte. Sie interessierten sich nicht dafür, meine Sprache zu lernen, oder wenn doch, dann nur zum Spaß um ihren eigenen Namen buchstabieren zu können. Dafür war ich ihnen nicht böse, aber es erschwerte natürlich vieles für mich.
Maurice hatte sich offenbar benommen in den paar Sekunden, die ich durchs Haus geflitzt war. Abwartend trat er von einem Fuß auf den anderen und setzte sich dann auf den Küchenstuhl, bereit mir alles bis ins letzte Detail zu erklären.
"-und dann hätte ich die Kundin heute beinahe in Gebärdensprache bedient! Ich glaube, ich werde langsam etwas schusselig", erzählte meine Mutter dem Rest der Familie zum Abendessen. Sie lachten, das konnte ich zwar nicht hören, aber eindeutig sehen, und auch ich grinste stumm vor mich hin. Am Ende von Maurices Besuch war tatsächlich noch genügend Zeit gewesen, um mit ihm nach draußen zu gehen und zu spielen, und ich hatte endlich all das schier unbegreifbare Schulzeug verstanden! Und der Junge hatte mir sogar angeboten, mir jederzeit wieder Nachhilfe zu geben, wenn ich ihn brauchte. Er war echt nett, obwohl er so wild aussah und ich erst meine Zweifel an ihm gehabt hatte.
Meine Schwester stupste mich sacht mit ihren Fingerspitzen an und ich schaute fragend auf. Ah, nicht sie wollte etwas von mir, sondern mein ältester Bruder Peter. Er war noch immer etwas unbeholfen mit Gebärdensprache, aber nach kurzem Rätselraten wusste ich, was er mich fragte: "Wie gehts mit dem Schulzeug voran?"
"Alles fertig!", grinste ich, aus den Augenwinkeln sah ich dankbar, wie meine Mom für alle laut übersetzte, "Ein neuer Nachbar ist vorbei gekommen und hat mir geholfen. Jetzt verstehe ich alles super gut!"
"Ein neuer Nachbar?", ging sofort die Fragerei los.
"Wo, etwa im Haus, wo ehemalig die Schusters gewohnt haben?"
"Kann der etwa auch Gebärdensprache?"
"Kam er einfach zufällig vorbei?"
Alle gestikulierten durcheinander und es viel mir schwer, ihrem Ansturm folgen zu können. In solchen Momenten hätte ich echt gern ein funktionierendes Paar Ohren gehabt... Aber die besaß ich nunmal nicht und nachdem ich meine Familie gebeten hatte, ihre Fragen alle nacheinander zu stellen, ging es schon viel besser.
"Er meinte, andere Nachbarn hätten ihn gebärden sehen und ihm verraten, dass ich mich auch so verständige. Eigentlich wollte er mich zum Spielen einladen, aber dann hat er mir stattdessen mit dem Schulzeug geholfen. Maurice ist nämlich schon eine Klasse weiter als ich!" Allgemeines Nicken, meine Mutter schien nachzudenken: "Dann sollten wir seine Familie doch demnächst mal zu uns zum Essen einladen, wenn ihr beiden euch schon so gut versteht! Und es gehört sich sowieso, neue Nachbarn freundlich zu begrüßen. Basti, bist du morgen mal so nett und fragst?"
Mir wurde warm. Das wäre wirklich schön! Hoffentlich kamen unsere Familien gut miteinander klar und ich hatte endlich einen Freund, der genauso war wie ich ...und vielleicht war es dann doch gar nicht mehr so schlimm, taub zu sein!
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Vor einiger Zeit habe ich mir die Manga-Verfilmung von "A Silent Voice" gekauft und mamma mia, ich liebe dieses Meisterwerk! Wenn ihr die Geschichte noch nicht kennen solltet: Unbedingt bei Gelegenheit anschauen, royaler Befehl von mir ;P
Das hier ist mein letzter OS vor meiner Sommerpause. Bei mir stehen Prüfungen an und ich muss mich die nächsten Wochen vollends auf den Lernstoff konzentrieren. Mitte August werde ich dann hoffentlich wieder zurück sein :)
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