Fehler (#Stexpert)
Achtung! Dieses Kapitel enthält über 9000 Wörter! Rechnet mit einer Lesezeit von etwa einer dreiviertel Stunde!
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Es war eine regnerische und stürmische Nacht, durch die ich unser Luxusauto jagte. Zu jeder anderen Zeit wäre ich bei diesem Wetter gemächlicher gefahren oder hätte sogar einen Chauffeur angeheuert, damit ich mich nicht mit den ungünstigen Gegebenheiten belastet hätte, aber jetzt handelte es sich um einen Notfall. Meine Frau hatte die Wehen bekommen, im denkbar ungünstigsten Moment - Ich erwartete einen wichtigen Anruf mit dem wohl bedeutendsten Angebot an meine Firma, das ich jemals bekommen würde. Und wenn sie genau jetzt anriefen, würde ich Schwierigkeiten bekommen. Ich durfte dieses Gespräch um keinen Preis der Welt verpassen und mir ebenso wenig durch fehlende Aufmerksamkeit eine Autopanne leisten. Jeder Klatsch darüber, dass ich meine Lebensgefährtin in dieser schlimmsten Phase der Schwangerschaft einer Gefahr ausgesetzt hatte, konnte verheerende Folgen mit sich ziehen und mein Geschäft beeinträchtigen! Und natürlich wäre es auch tragisch, wenn unserem Kind dadurch etwas passierte...
Glücklicherweise wurde ich nicht vor diese Wahl gestellt und wir erreichten das Krankenhaus rechtzeitig, wobei ich die schreiende und weinende Frau stützte und sofort nach einem Arzt suchte. Ich wurde fündig, ihr wurde auf eine Liege hinauf geholfen und dann wurde sie in einen der unzähligen Räume geschoben, in den ich folgte, um ihr wie im Voraus versprochen Gesellschaft zu leisten und bei ihr zu bleiben. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis es ernst wurde und die Ärzte und Schwestern ihr gut zuredeten und halfen, die Geburt unseres Kindes hinter sich zu bringen. Mitfühlend, aber vor allem gespannt wartete ich.
Wurde es ein Junge, konnte er eines Tages hoffentlich meine Firma weiterführen und die Zukunft unserer Familie war gesichert! Wurde es ein Mädchen... nun, vielleicht konnte ich sie ja für meine Arbeit begeistern, doch ich glaubte fast, dass sie eher einen Job wie ihre Mutter ergreifen würde, unbedeutend und wenig Gewinn bringend. Hoffentlich wurde es ein Junge, nachdem meine Gattin sich bisher gegen jede Vorhersage dessen gesträubt hatte. Nur Krankheitstests, die präzisesten und besten, hatten wir durchführen lassen. Wir konnten uns kein Kind mit seelischen und körperlichen Behinderungen leisten! Wie würde das denn nach außen hin wirken, wenn ich ansonsten schon immer versuchte, meine eigene Welt und mein Image picobello und auf Hochglanz poliert zu belassen und mir keinen noch so winzigen Fehler zu erlauben?
Als es endlich soweit war und das schreiende und eher unansehnliche Würmchen seiner Mutter überreicht wurde, klingelte es schließlich. Das Geschäft. Mich entschuldigend verließ ich das Zimmer, ging auf dem Flur ein wenig weiter weg und antwortete dann. Das Gespräch verlief optimal und man versprach mir, die angekündigten Projekte im Laufe der nächsten Woche zu meiner Arbeit schicken zu lassen. Mit ein wenig Glück würde ich davon in wenigen Jahren schon Multi-Millionär, ach was, Milliardär sein und würde meine lächerliche Konkurrenz in Grund und Boden stampfen. Ich bedankte mich also eine knappe viertel Stunde später bei meinem Gesprächspartner, legte auf und ging fröhlich und zufrieden mit mir zurück in das Entbindungszimmer.
Sie hatten das Kind in meiner Abwesenheit gewaschen, getrocknet, in eine Decke eingewickelt und gerade trank es die ersten gierigen Schlucke Muttermilch. Es sah auch schon nicht mehr so krebsrot und mit Adern übersät aus, wie zuvor. "Und, was ist es? Ein Junge, oder ein Mädchen? Und wie wollen wir es nennen? Richard oder Andrea fandest du doch immer ganz schön, nicht?"
Meine Frau schüttelte erschöpft den Kopf und sah mich vorwurfsvoll an: "Nein, die haben mir beide nie gefallen. Das waren immer bloß deine Favoriten gewesen. Es ist ein Junge und er heißt Stegi, egal was du sagst. Die Geburtsurkunde ist auch schon fertig. Wärst du da gewesen, hätte ich deinen Vorschlag vielleicht mit bedacht, Tim!"
"Du weißt ganz genau, dass es ein wichtiges Gespräch war, aber davon verstehst du ja wieder nichts!", fuhr ich sie unwirsch an. Was war Stegi denn bitte für ein Name? Das klang doch schon vom Hinhören wie ein schlechter Scherz! Hätte es nicht wenigstens ein Allerweltsname sein können, gegen den man nichts einwenden konnte? Thomas oder sowas vielleicht. Aber nein, sie musste ja wieder extravagante Namen nehmen!
"Wichtiger als deine Familie, als dein eigenes Kind?", bohrte sie nach, seufzte ohne eine Antwort zu erwarten und legte dann beinahe abschirmend einen Arm um den kleinen Körper. Wenigstens ein Junge. Die Zukunft meiner Firma war damit hoffentlich sicher!
"Hast du gehört Stegi? Nichts anfassen, nichts heimlich einstecken und absolut keinen Mucks sagen!"
"Jaja, ich weiß doch!", erklärte er zu Tode gelangweilt, zog seine Ohrstöpsel aus der Hosentasche und schaltete seine Musik lauter. Wie ich diese Dinger hasste. Unwirsch riss ich sie ihm wieder aus den Ohren. "Sicher? Versprich es mir! Immerhin könntest du damit jahrelange Arbeit verderben!"
Mein Sohn funkelte mich böse an, dann seufzte er übertrieben: "Ja doch, versprochen! Was will ich denn auch bitteschön mit diesen dämlichen Chemikalien anfangen?"
"Diese 'dämlichen' Chemikalien sind unsere Zukunft, Stegi! Deine Zukunft! Was sie bewirken, erkläre ich dir ein anderes Mal, aber heute bist du bloß Vorzeigeobjekt für die Firma. Verhalte dich einfach ruhig und mach keinen Ärger!"
Er sagte nichts mehr, sondern steckte sich nur die Kopfhörer zurück in die Ohren und war wieder unerreichbar für mich. Ich beklagte mich innerlich. Obwohl er ein Junge war, war er viel zu sehr nach seiner Mutter gekommen, das wurde deutlicher mit jedem Lebensjahr. Nicht nur seine blonden Haare, seine blau-grünen Augen und sein seltenes Lachen hatte er von ihr, sondern auch ihren Dickschädel! Hätte sie ihn jetzt noch sehen können, wäre sie bestimmt stolz darauf gewesen, zu welchem Widersporn er sich entwickelte. Aber das war schließlich unmöglich. Sie war vor beinahe neun Jahren gestorben und hatte mich mit Stegi allein zurückgelassen. Und es war klar, welchen Elternteil mein Sohn bevorzugt hatte.
Der Chauffeur meinte, dass wir bald da seien und fünf Minuten später hielt er auch schon vor der Firma. Ich bedankte mich bei ihm, nahm Stegi am Arm, die Stöpsel aus seinen Ohren und zog ihn dann bestimmend mit mir. Er folgte widerwillig. War ich froh, wenn der Tag erst vorbei war!
Die anderen Firmenchefs trafen etwa eine halbe Stunde später ein, ganz wie erwartet. Alle meine Mitarbeiter waren auf ihren Positionen und wussten haarklein, was sie zu tun und zu sagen hatten. Mein Sohn stromerte dagegen außerplanmäßig im Hintergrund herum und begutäugte unsere Experimente. Ich ließ ihn. Es wirkte immerhin, als hätte er endlich Interesse gefasst. Das sollte mir auch Recht sein und meine Gesprächspartner nicht stören!
Die vier Chinesen hatten dankbarerweise einen Dolmetscher mitgebracht, der mich nun meinen zukünftigen Partnern vorstellte. Ich verbeugte mich förmlich und sie sich auch vor mir. Dann kamen auch schon wie abgesprochen meine Sekretärinnen mit Getränken und teuren, kleinen Snacks, die sie uns anboten. Perfekt! In einigen Augen meiner Gäste sah ich Anerkennung aufflackern. Kurz ließ ich noch Zeit für gehaltvollen Smalltalk und die Frage, ob sie eine angenehme Reise gehabt hatten, dann führte ich sie in unsere Labore. "Gentlemen, darf ich Ihnen voller Stolz vorstellen: Der neue Treibstoff unserer Zukunft, unserer ganzen Welt!"
Ich hörte sie hinter meinem Rücken angeregt tuscheln, während sie sich umsahen. An mehreren hundert Tischen arbeiteten dutzende Männer und Frauen hochkonzentriert, verglichen Messergebnisse und untersuchten die Inhalte ihrer Reagenzgläser. Die Arbeit von beinahe zwei Jahrzehnten lag hier offen vor uns, so vorbildlich vorgeführt, dass mir das Herz aufging! Sollten wir den Vertrag bekommen, würde ich sie alle befördern lassen, schwor ich mir und drehte mich lächelnd um. "Das, was sie hier sehen, ist streng vertraulich und einzigartig. Niemand anderes zuvor hat sich an die Arbeit mit diesem Stoff gewagt, aber wir stehen vor dem großen Durchbruch und sind der festen Überzeugung, das globale Energieproblem damit effizient und umweltschonend für immer lösen zu können!"
Der Dolmetscher übersetzte eifrig und die Geschäftsleute nickten beeindruckt. Einer erwiderte etwas und mir wurde übersetzt: "Dann seien Sie so freundlich und erklären uns, wie das funktionieren soll!"
Bestimmt eine dreiviertel Stunde erläuterte ich ihnen alles, was sie wissen wollten, bis ins kleinste Detail. Das hier war mein Element, ich hatte alles Wissen um diese Einrichtung schon von meinem Vater begierig gelernt und im Laufe meines Lebens noch weiter verbessert. Auf meinem Fachgebiet konnte mich perdu niemand schlagen! Die Mienen meiner Zuhörer wurden immer interessierter, bis plötzlich etwas unvorhergesehenes passierte.
Ich hörte ein gläsernes Splittern und unterbrach mich kurz, redete dann aber einfach weiter in der Hoffnung, dass diese Unprofessionalität kein Problem darstellte und meine Gäste nicht verunsicherte. Doch wie erwartet und nicht erhofft schauten sie sich nach der Quelle des Geräuschs um. Unruhe kam zwischen meinen Mitarbeitern auf und entschlossen verließ ich meinen Posten, um nachzuschauen, wer oder was für den Trubel verantwortlich war. Eine Traube hatte sich an der Stelle gebildet und ich schob und quetschte mich zwischen den Laboranten hindurch, nur um von einem grausigen Bild begrüßt zu werden...
Es war Stegi, der da in ihrer Mitte lag und sich unter Schmerzen wand! Eine tiefe Schnittwunde zierte seinen Arm und neben ihm lag ein zerbrochenes Reagenzgläschen, dessen Flüssigkeit in alle Himmelsrichtungen verspritzt und ausgelaufen war. Ich reagierte sofort: "Einen Krankenwagen, schnell! Jemand soll einen Krankenwagen rufen!"
Eine Bewegung aus meinen Augenwinkeln ließ mich aufschauen: Die Geschäftspartner aus China, die miteinander diskutierend auf schnellstmöglichem Wege nach draußen strömten. Sie würden sicherlich keine Hilfe rufen. Sie hatten gesehen, was sie sehen mussten, um zu beschließen, dass ihnen meine Arbeit zu unsicher und gefährlich war, und würden den Deal platzen lassen! Verdammt! Verzweifelt raufte ich mir meine Haare, zerrissen zwischen der Entscheidung, ihnen nachzulaufen und zu erklären, dass es nur mein unerfahrener Sohn gewesen war und es ansonsten kein Sicherheitsrisiko zu befürchten gab, und der Wahl, bei Stegi zu bleiben und seine Wunde zu versorgen, bis die Sanitäter eintrafen.
Ein gequältes Stöhnen nahm mir diese Bürde ab. Der Junge hatte sich plötzlich aufgebäumt, nachdem er bis eben recht still und zitternd dagelegen hatte, und schien sich unter Schmerzen zu winden. Wie hypnotisiert sah ich die Adern an seinem Hals ungewöhnlich stark pulsieren, dann schrie er Trommelfell zerreißend laut auf. Alle schreckten zurück, aber ich rutschte neben ihn, fischte mein gutes Taschentuch aus meiner Anzugsjacke und presste es entschlossen auf die riesige Wunde, um weiteren Blutverlust zu vermeiden. Stegi schrie wieder und versuchte, um sich zu treten und zu schlagen, seine Füße zuckten unkontrolliert und er begann, weißen Schaum zu husten. Das war nicht normal, irgendwas von der Chemikalie musste in seine Blutbahnen gelangt sein!
Schnell schaute ich mich um. Es war einer der unzähligen Stabilisatoren für unser großes Zukunftsprojekt gewesen, die Abteilung, in der die wenigsten Mitarbeiter eingestellt waren und jeden Tag mit dicken Schutzhandschuhen und Schutzbrillen hantierten! Hochätzend. Vielleicht sogar giftig. Die genauen Auswirkungen auf den menschlichen Körper waren bisher nicht bekannt gewesen und brauchten es ja auch nicht zu sein, solange der Stoff nur für Syntheseverfahren gebraucht wurde und nicht im Endergebnis auftrat! Was konnte ich nur tun, um ihm zu helfen? Es war bereits in seinem Blut und sorgte dafür, dass es ihm rapide schlechter ging! Das Zucken wollte nicht aufhören, immer stärker und in immer kürzeren Abständen warf sich sein Körper gegen meinen schützenden Griff, schließlich sogar so heftig, dass er mich um ein Haar von sich heruntergeschleudert hätte. Dann erschlaffte er plötzlich und rührte sich nicht mehr. St-stegi? Komm doch bitte wieder zu dir! Der Krankenwagen war sicherlich gleich da! Sein klägliches Husten war verstummt und sein Kopf pendelte seltsam endgültig und kraftlos hin und her, als ich seine Wange tätschelte. Niemand griff ein, absolut niemand half mir, sie standen nur stumm und entsetzt um mich und meinen Jungen herum. "Herrgott, schaut doch nicht alle bloß so blöd! Tut was! Mach euch nützlich oder geht zurück an die Arbeit, los doch!"
Alle wandten sich augenblicklich ab und wieder ihren Tischen zu, doch ich spürte noch immer ihre verstohlenen Blicke auf mir ruhen. Stegi durfte nicht tot sein! Er durfte es einfach nicht! Wer sollte sonst später meine Arbeit fortführen...?
Bis endlich der Notarzt eintraf, schienen Jahre vergangen zu sein. Ich hatte seinen Arm notdürftig verbunden und trug ihn mit starrem Blick in meinen Armen zum Rettungswagen hinaus. Er wurde mir abgenommen, sie setzten ihm eine Atemmaske auf und suchten nach seinem Puls. Ich wartete ab. Kam mir so unendlich nutzlos vor. Dann die erlösende Nachricht: "Er lebt! Aber wir müssen ihn schnell behandeln! Kommen Sie, auf der Fahrt können Sie dann erklären, was genau passiert ist!" Aber ich schüttelte meinen Kopf. "Ich kann hier jetzt nicht weg. Meine Firma braucht mich. Er hatte scheinbar einen Unfall und eine giftige Chemikalie ist in seinen Körper gekommen. Die genauen Daten kann ich Ihnen in wenigen Minuten noch zuschicken. Aber sorgen Sie bitte dafür, dass es ihm bald wieder besser geht!"
Die Sanis schauten sich unsicher an. "Wäre es nicht besser, wenn Sie mit uns kommen? Es ist immerhin Ihr Sohn!"
"Die Firma ist auch mein Kind. Ich werde Stegi besuchen kommen, sobald es geht!", verteidigte ich meine Entscheidung. Schließlich fuhren sie ohne mich los und ich machte kehrt, zurück zu dem Durcheinander, das sich im Labor befand.
Ich trug den beiden ersten, die ich fand, auf, dass sie die gefährlichen Spritzer und Scherben beseitigen sollten, einem weiteren, dass er die chemische Verbindung davon an das nächste Krankenhaus faxen sollte. Hoffentlich wussten die damit etwas anzufangen! An den Rest appellierte ich, dass sie sich wieder an ihre Arbeit machen sollten und uns der heutige Rückschlag keinesfalls daran hindern sollte, immer weiter zu machen. Wir würden auch andere Sponsoren finden! Danach zog ich mich in mein Büro zurück, nahm meine Brille mit den Kunststoffgläsern von der Nase und rieb mir zweifelnd und bestürzt die Augen. Die Partner aus China waren unsere beste Gelegenheit gewesen! Sie hätten uns nicht nur mit Geld, sondern auch mit in Deutschland halblegalen Chemikalien oder Experimenten helfen können. Noch eine Möglichkeit bekam ich nicht. Heute, nur heute, hätte alles wie am Schnürchen laufen müssen. Und mein eigener Sohn hatte alles verdorben, weil er seine Finger nicht bei sich hatte behalten können!
Am nächsten Tag überwand ich mich dazu, meinen Job für eine Stunde zu vernachlässigen und zu Stegi zu fahren. Ich hatte noch keine weitere Nachricht vom Krankenhaus bekommen, also war er noch am Leben, aber noch nicht wieder bei Bewusstsein. War für diesen Besuch vielleicht auch erstmal besser, denn im Laufe des gestrigen Abends war mein Unmut noch weiter angewachsen. Es war seine eigene Schuld gewesen, dass er sich verätzt hatte! Ich hatte ihn schließlich gewarnt und ihm verboten, irgendetwas anzufassen! Aber wahrscheinlich hätte Stegi meine Vorwürfe wieder nicht verstanden. Hatte er noch nie. In seinen Augen war immer ich für alles Schuld! Bestimmt auch wieder hierfür. Trotzdem hoffte ich, dass er bald wieder gesund wurde. Unser Zuhause fühlte sich riesig und leer an ohne eine weitere Seele, die darin lebte...
In Stegis Zimmer angekommen, bekam ich einen leichten Schock. Sein Gesicht war von gräulichen Flecken überzogen, besonders seine Wangen, seine Stirn und seine Lippen. Man hätte es für Blutergüsse halten können, wäre da nicht dieser penetrante Grünstich dabei, der sie mehr nach entzündeten Eiterbeulen aussehen ließ! Wenn die... wenn die ewig bleiben sollten, dann würde ich ihn zu einem Schönheitschirurgen schleifen müssen, damit der das wieder richtete. Ich kannte einen guten, aber Stegi dort mit dieser hässlichen Entstellung hinschicken zu müssen, missfiel mir. Überhaupt, dass jemand meinen Sohn so sah! Das warf kein gutes Licht auf uns!
"Wir haben keine Ahnung, was dieses Zeugs ist, das da in sein Blut eingedrungen ist, aber es greift seinen Körper nicht länger lebensbedrohlich an! Und auch dieser seltsame Ausschlag sah gestern Abend noch sehr viel schlimmer aus. Mit etwas Glück ist auch der in wenigen Tagen vollständig verschwunden! Nur... Sein Nervensystem macht uns große Sorgen. Keine Angst, es ist noch alles intakt und er wird nicht im Rollstuhl sitzen müssen, aber ab und zu machen unsere Geräte bei ihm schlapp! Alle paar Stunden müssen wir es reparieren lassen, dabei ist uns das noch nie passiert!"
"Dann schafft bessere Geräte heran!", verlangte ich, "Und sollten diese Flecken doch bleiben, unternehmen Sie etwas dagegen! So kann er sich nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen!"
"S-sehr wohl, Herr Bau...", nuschelte der Arzt eingeschüchtert und verschwand, um mir kurz Zeit alleine mit meinem Sohn zu geben.
Plötzlich wusste ich wieder nicht, wohin mit mir selbst. Mochte sein, dass ich ein ausgezeichneter Chemiker war, aber von Biologie verstand ich nur wenig. Von Medizin noch weniger. Stegis Leben lag jetzt in den Händen fremder Mächte und ich hatte keinen Einfluss darauf. Etwas ermattet setzte ich mich auf den Stuhl neben seinem Bett und beobachtete ihn. Er atmete wieder sichtbar. Sein Oberkörper hob und senkte sich regelmäßig unter der Bettdecke und seine noch immer so winzigen Nasenflügel weiteten sich mit jedem Atemzug ein wenig. Mir kam der Gedanke, dass ich ihn nie wirklich so genau angesehen hatte. Früher vielleicht noch, als er ein kleines, speckiges Baby gewesen war, aber dann nie wieder. Ich hatte mich immer nur darüber geärgert, welche offensichtlichen Merkmale er mit seiner Mutter teilte, anstatt mit mir. Aber mit etwas Fantasie konnte ich mir einreden, dass der Schwung seines Kinns, seine runden Wangen und seine dichten Wimpern eher mir glichen, als ich noch in seinem Alter gewesen war. Vielleicht würde doch noch eines Tages ein feiner Herr Bau aus ihm werden und kein Penzel, wie meine Frau mit Mädchennamen gehießen hatte.
Als hätte er meine Blicke auf sich gespürt, kam plötzlich Regung in Stegi zurück. Seine Stirn zog sich in angestrengte Falten und er seufzte im Schlaf. Kurz darauf blinzelte er langsam und starrte gegen die Zimmerdecke. "Wo bin ich?", nuschelte er leise und undeutlich und ich rutschte unwillkürlich ein Stück weiter auf meinem Stuhl nach vorne: "Im Krankenhaus, Stegi. Du hattest einen Unfall im Labor und es war unklar, ob du es überhaupt überleben würdest."
Wie in Zeitlupe wandte er mir sein Gesicht zu. "Dad? Müsstest du nicht in der Firma sein?"
"Richtig. In ein paar Minuten muss ich wieder los."
"Hmm..." Stegi nickte leicht und kniff die Augen zusammen. Ein kurzes Beben schien durch seinen Körper zu wandern, dann seufzte er nochmal und sah im nächsten Moment wieder tiefenentspannt aus.
"Dein Unfall hat die Kunden aus China verjagt", warf ich plötzlich ein, "Sie sind sofort gegangen, als sie es gesehen haben."
"Du hast den Vertrag nicht?", schlussfolgerte Stegi daraus nachdenklich. Ich schüttelte den Kopf. "Und wetten, du machst wieder nur mich dafür verantwortlich?"
"Auch das. Ich hatte dir gesagt, dass du nichts anzufassen hast, und du hast dich meinen Befehlen widersetzt! Jeden meiner Mitarbeiter hätte ich für so eine Sache ohne Frist entlassen, aber dich-"
Ich hatte es in einem sachlichen Ton angesprochen, aber Stegi unterbrach mich einfach. "Weißt du was, Dad? Verschwinde! Komm nie wieder hierher, um dich nach mir zu erkundigen, wenn es dich eh nicht interessiert, wie es mir geht!"
"Mich interessiert es sehr wohl!", knurrte ich drohend. Er lächelte schwach: "Ja, wegen deiner Firma, aber nicht wegen mir! Geh, bevor du noch ein Unheil anrichtest!"
Okay, wie er wollte! Dem Zorn nahe drehte ich mich um und stapfte aus dem Zimmer.
Die Maschine, die sein Nervensystem überwachen sollte, funktionierte wieder nicht mehr, als ich an ihr vorbei nach draußen stapfte.
"Und? Wie geht es Stegi? Wieder besser? Konnten Sie sich mit ihm unterhalten?", fragte Monika, meine persönliche Sekretärin, sobald ich das oberste Stockwerk betreten hatte. Ich antwortete ihr erst mit einem genervten Wedeln meiner Hand, dann erbarmte ich mich doch zu ein paar einzelnen Worten: "Konnte ich. Er hat gesagt, ich solle verschwinden!"
"Ja, aber... Warum sind Sie dann nicht bei ihm geblieben? Er braucht Ihre Unterstützung jetzt mehr denn je!", hakte sie nach. Ich blieb mitten im Gang zu meinem Büro stehen und legte ihr meine Hände auf die Schultern. "Ich möchte jetzt nicht mehr über dieses Thema sprechen, verstanden?" Sie wirkte irritiert: "Aber... Es ist doch Ihr-"
"Kein Wort!", wiederholte ich mich klar und deutlich, ließ sie los und ging mit großen Schritten weiter. Sie folgte mir wie ein treues Hündchen. "Okay, gut. Was steht heute an?"
Gut eine Woche später erhielt ich einen Notruf auf dem Krankenhaus. Ich solle sofort erscheinen, es ginge um meinen Sohn! Erst rang ich mit mir, seine ablehnenden Worte waren mir noch zu klar im Gedächtnis, doch dann gab ich mir einen Ruck, setzte mich in meinen Wagen und befahl dem Chauffeur, mich zur gewünschten Adresse zu fahren.
Es war ein stürmischer Tag, wie ich es eben durch das Fenster sah. In meinem Büro erfuhr ich fast nie, welches Wetter draußen herrschte. Jetzt sah ich, wie sich die Baumwipfel bogen und wie dunkle Wolken am Himmel aufzogen. Hoffentlich geriet ich nicht genau in diesen drohenden Regenschauer, wenn ich gleich ausstieg oder nachher wieder zurück zum Auto ging. Ich mochte keinen Regen. Von mir aus konnte es den ganzen Tag grau betrübt sein, solange nichts unverhofft vom Himmel kam. Aber alles andere Wetter störte doch bloß, Schnee, Hagel, Nebel oder blendender Sonnenschein. Schon glaubte ich das ferne Donnergrollen eines heraufziehenden Gewitters zu hören und schenkte der Außenwelt keine weitere Beachtung mehr. Nur noch zwei Kilometer bis zum Krankenhaus!
Sobald wir geparkt hatten, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht zehn andere Patienten waren auf Rollbetten vorerst vor den Türen der Klinik untergebracht worden und Ärzte flitzten wie aufgescheuchte Ameisen zwischen ihnen hin und her. Einer kam sofort auf mich zu, sobald ich ausgestiegen war. "Herr Bau! Ihr Sohn, er ist-"
Mehr brachte er nicht mehr heraus, sondern zog mich am Arm mit sich. Ich ließ es mir gefallen, obwohl ich eine solche Behandlung hasste. Die Dringlichkeit in seiner Stimme verdrängte diese Nebensächlichkeit vorerst. Der Mann führte mich an den ausgelagerten Kranken vorbei, auf die mechanische Schiebetür zu und ins Innere.
Mir fiel sofort auf, dass mehrere Lampen im Flur nicht mehr funktionierten oder nur noch kurz aufflackerten, ehe sie wieder erloschen. Eine seltsame Stille herrschte im gesamten Trakt. Noch um zwei Ecken führte mich der Arzt, ehe er die Tür zu Stegis Zimmer aufstieß und der Anblick mich zusammenfahren ließ.
Die hintere Wand des Zimmers fehlte vollständig, dahinter kam eine Art winzige, praxiseigene Parkanlage zum Vorschein. Auf der kurzgetrimmten Wiese lagen Mauerziegel. Der Wind war in das Krankenzimmer gefahren und hatte Papier über den ganzen Boden verstreut, das Bett war gekippt und gegen die intakten Seitenwände geschleudert worden, Maschinen piepten wie wild und eine Deckenlampe sprühte elektrische Funken. Von Stegi gab es keine Spur. Was war hier nur passiert...?
"Wir sind Ihrem Rat gefolgt, Herr Bau, und haben leistungsfähigere Geräte benutzt, aber auch diese haben gesponnen und waren ständig kaputt! Also... haben wir eine extra Maschine auf Ihre Kosten einfliegen lassen und eine Überwachungskamera angebracht. Schauen Sie!"
Die Maschine, die er erwähnt hatte, war die einzige noch funktionstüchtige in diesem Raum. Sie zeigte eine Zahl im Millionenbereich an und blinkte rot. Das konnte nichts gutes bedeuten. Dann zeigte der Mann mir noch das Video. Erst sah alles ganz normal aus, ich konnte Stegi entdecken, der mit unmotiviertem Blick gegen seine angekippte Lehne saß und in die Ferne starrte. Dann veränderte sich etwas. Er zuckte plötzlich zusammen und verkrampfte sich, ein ohrenbetäubendes Piepsen schaltete sich ein und den kleinen Körper begann es plötzlich wie wild zu schütteln. Die wieder so schön verheilte Haut bildete teerfarbene Blasen, die ihn innerhalb von Sekunden vollständig befielen und schier unendliche Dimensionen annahmen. Schlagartig entstand ein Riss im Glas vor der Kameralinse, das Bild rauschte, wurde unkenntlich, es schepperte und krachte im Hintergrund und klang danach, als tobte gerade ein Sturm in Stegis Zimmer. Nach vielleicht dreißig Sekunden sprang die Videofunktion wieder an. Ein schwarz-weiß Bild zuckte auf und zeigte zwischen Trümmern und Elektroschrott eine dunkle Silhouette im neu geschaffenen Durchgang zwischen Krankenhaus und Freiheit stehen. Turmhoch, schwer atmend, mit undeutlichen Umrissen, die allerdings keineswegs menschlich aussahen. Mehr wie... ein Monster...
Ich hatte als kleines Kind von meiner Oma Gruselgeschichten über den Golem gehört, eine hebräische Sagengestalt aus Lehm oder Ton, der Zerstörung und Unheil über die Nichtgläubigen gebracht hatte. Sie hatte mir auch ein Bild von ihm gemalt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie dieser Golem aussehen sollte. Ihre Zeichnung hatte erstaunliche Ähnlichkeiten mit diesem... Ding, in das sich mein Sohn offenbar verwandelt hatte. Unfassbar... Wie sollte das möglich gewesen sein?
"Zwei Patienten wollen ihn gesehen haben, kurz nach dem Lärmen, wie er laut brüllend davongestürmt war. Und seit einer Stunde bekommen wir immer mehr Meldungen über verletzte Passanten rein, die in Kontakt mit diesem Ding geraten sein sollen. Wir haben die ungefähre Route markiert und sind uns mittlerweile relativ sicher, dass er zu Ihnen will, zu Ihrer Firma. Was auch immer in sein Blut geraten ist, hat Ihren Sohn dazu gemacht, kein Zweifel möglich!"
Während ich dem Arzt zuhörte, wurde es mir kalt. Stegi... war jetzt dieses Monster? Etwa für immer? War auf dem Weg zu meiner Firma und verwüstete dabei alles, was ihm vor die Füße kam? Ich musste versuchen, ihn irgendwie aufzuhalten! Er konnte nicht ganz bei Sinnen sein, und wenn man beschloss, dass eine Gefahr wie er mit Polizei- oder Militärsgewalt bekämpft werden müsse, dann konnte ich ihn nicht retten! Er war mein Sohn und ich sein Vater, also würde ich endlich das tun, was Väter normalerweise taten! Und das war, Stegi zu beschützen, vor allem anderen, aber besonders vor sich selbst! Wortlos drückte ich dem Doktor den kleinen Bildschirm in die Hand zurück und rannte zum Eingang, von dort zum Auto und befahl dem Chauffeur er solle mich bis kurz vor die Firma bringen. Vielleicht hatte ich ja Glück und konnte das Schlimmste noch abwehren!
Der Gewittersturm kam zügig immer näher, doch jetzt bildete ich mir ein, dass es kein fernes Donnern mehr war, was ich durch die Fensterscheiben bis in den Wagen hinein vernahm, sondern das Krachen der Zerstörung, die Stegi in seinem Golem-Körper verursachte. Doch als ich schließlich hastig ausstieg und dem Fahrer nahelegte, schnell das Weite zu suchen, war mein Sohn noch nicht auf dem Firmengelände angelangt. Es wirkte wie die Ruhe vor dem Sturm, wie der riesige Gebäudekomplex im Schatten der schwarzen Regenwolken dalag. Kalt und verlassen, als wüsste er von seinem drohenden Schicksal. Aber in Wahrheit gab es da drinnen noch hunderte von unschuldigen Menschen, die nichts von der sich nähernden Gefahr wussten. Und die konnte ich noch retten, wenn schon nicht meine jahrelange Forschung!
"An alle Mitarbeiter, Sekretärinnen und Laboranten, eure Arbeit ist für heute beendet! Verlasst sofort das Gebäude und geht nach Hause! Kümmert euch um eure Familien!", verkündete ich laut, sobald ich den Vorraum betreten hatte. Alle schauten überrascht auf und bombardierten mich sofort mit besorgten Fragen: "Was ist los?"
"Gibt es ein Problem?"
"Heißt das, wir sind allesamt gefeuert?"
Ich musste brüllen, um mir durch das Schnattern Gehör zu verschaffen: "Nein! Absolut niemand ist gefeuert! Aber jeder, der länger hierbleibt als nötig, schwebt in Lebensgefahr! Ein... Ein Monster kommt direkt auf unsere Firma zu und hat das Ziel, alles zu vernichten und dem Erdboden gleich zu machen! Geht! Na los doch, rettet euch!"
Einige schienen meine Worte noch nicht völlig für bare Münze zu nehmen, andere verließen hastig das Gebäude, wieder andere liefen los, um ihren Kollegen in den Laboren Bescheid zu sagen. Aber die allgemeine Unruhe steckte an und erleichtert sah ich, wie immer mehr Leute ihre Sachen packten und verschwanden. Wie ihre zukünftige Karriere ohne die Firma aussah, konnte ich noch nicht sicher sagen, aber ich schätzte, dass ich genug Geld hatte, um ihnen allen noch ihren Lohn zahlen zu können und in einem Jahr vielleicht wieder klein anzufangen. Wenn es denn dazu kommen sollte.
Um sicher zu gehen, streifte ich durch die verschiedenen Räumlichkeiten, gab denjenigen Bescheid, die noch von nichts wussten, und kontrollierte anschließend noch einmal das Labor. Niemand befand sich mehr hier, alle waren bereits geflüchtet. Es war totenstill hier drinnen. Eilig ging ich auf die Schränke zu, in denen unsere Reserven lagerten, öffnete die unterste Schublade und nahm eine Phiole heraus. Davon war Stegi zu diesem Golem mutiert... Dabei sah sie so harmlos und freundlich aus, wie sie bei jeder Bewegung leicht in ihrem gläsernen Behältnis schwappte! Aber in der Chemie war nichts je wirklich harmlos und freundlich, das war der erste Grundsatz gewesen, den ich gelernt hatte. Vielleicht konnte ich mit einer Probe davon ein Gegenmittel entwickeln und Stegi zurückverwandeln. Sollte ja theoretisch möglich sein! Und ich wollte unbedingt meinen Sohn gesund und ganz normal zurück! Nicht mehr nur als neuen Chef für meine Arbeit, sondern um mich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass ich ihn all die Zeit so schlecht behandelt hatte. Diese Erkenntnis war mir viel zu spät gekommen, erst vorhin bei diesen Videoaufnahmen. Erst dann, als die Möglichkeit bestand, dass ich ihn für immer verloren hatte. Aber davon musste ich dringend abkommen! Ich musste ihn auch dann wie einen Sohn lieben, wenn sein Leben nicht bedroht war, wenn er sauer auf mich war oder mir wieder nicht zuhörte. Es war doch überhaupt erst soweit gekommen, weil ich ihm nie zuvor Beachtung geschenkt hatte! Und das musste ich unbedingt wieder gut machen!
Plötzlich hörte ich ein fernes Rumpeln. Überall um mich herum klirrte das Glas leise in seinen Gestellen, ehe es kurzzeitig still wurde. Wieder ein Krachen, wieder ein Klirren, diesmal lauter und länger anhaltend. Er war gekommen.
Als ich zurück in die Vorhalle stürmte, sah ich ihn gegen das letzte Tageslicht, wie er auf das Gelände zuschlurfte. In einer seiner gigantischen Pranken trug er einen entwurzelten Baum mit sich, der in etwa halb so groß wie er selbst war. Zielsicher steuerte er die Firma an, Autos, Mülltonnen und Laternenmasten zertrat oder verbog er dabei mühelos und ohne jedes Interesse. Das war unmöglich, was Stegi tun oder wollen würde. Er hätte vermutlich nur persönliche Rache im Sinn und würde keine Menschenleben dafür aufs Spiel setzen! Es musste diese Chemikalie in seinem Blut sein, die ihn zu dieser blinden Tobsucht trieb, das musste es einfach sein! Und vielleicht ließ es sich dann auch ablenken! "Stegi! Ich bin hier! Wenn du wütend auf mich bist, dann lass es an mir aus, aber bitte verletze niemanden sonst mehr, verstehst du?"
Der Golem hielt inne, als er meine Stimme hörte, und schaute auf mich herab, wie ich durch die Eingangstür trat. Vorsichtig ging ich auf ihn zu und gleichzeitig seitlich vom Gebäude weg. Erst wirkte es, als ginge mein Plan auf und er würde mir folgen, doch dann wandte er sich plötzlich ab und zog seinen Pfad der Zerstörung weiter, direkt an mir vorbei und geradeaus auf die Labore zu. In meinem Kopf ratterte es. Er war gar nicht auf mich aus, wie ich vermutet hatte! Stegi wollte einfach nur die Firma zerstören! A-aber was dann? Würde er seinen Amoklauf dann stoppen? Oder weiter wüten, bis man ihn fällte? Ich stolperte durch die Erschütterungen seiner Schritte, aber ich schaffte es, ihm den Weg zu versperren und mit ausgebreiteten Armen zu ihm aufzublicken. "Nein Stegi! Wenn du das tust, wenn du weiter wütest, dann wird man Jagd auf dich machen! Bitte, es tut mir alles so leid und ich möchte dir zukünftig ein besserer Vater sein! Ich wusste es nicht besser, aber jetzt bin ich von meiner Blindheit geheilt! Stegi, ich liebe dich als meinen Sohn und bitte dich inständig, damit aufzuhören!"
Der Golem stoppte. Aus seinem grob geformten Gesicht flammten zwei dunkelrote, eckige und pupillenlose Augen auf und er begann plötzlich, laut zu lachen. Ein böses, tiefes Lachen, das die Erde und meinen ganzen Körper erzittern ließ. "Es ist zu spät, Vater!", malmte das Monster langsam mit Stegis stark verzerrter Stimme, "Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen! Geh mir aus dem Weg oder du wirst mit deiner Arbeit zusammen untergehen!"
"Bitte komm zu dir! Das bist nicht du! Du würdest so etwas nicht tun!", versuchte ich weiter auf ihn einzureden und hörte ihn wieder so schaurig lachen. "Nicht? Bist du dir da auch ganz sicher? Eine Schande, wie schlecht du mich kennst! Und deine 'Sorgende Eltern'-Nummer kannst du dir sparen! Du bist ein miserabler Vater!"
"Das mag wahr gewesen sein, aber ich versuche, meine Fehler wieder gut zu machen, Ehrenwort!"
Der Golem holte zum Schlag aus: "Schön dass ich dir wichtig bin, sobald ich zu einem Riesen mutieren kann! Aber was auch immer du dir schon für mein neues Ich ausgedacht hast, kannst du dir schenken!"
Seine Faust kam direkt auf mich zugewalzt und im letzten Moment bekam ich kalte Füße. Geradeso rechtzeitig wich ich aus, dann zerschlug Stegi die gläserne Fassade so einfach, als wäre sie aus Papier. Splitter in der Größe von Flachbildschirmen stürzten überall um mich herum zu Boden und ich hatte wahnsinniges Glück, dass mich nicht ein einziger von ihnen erwischte. Trotzdem baute ich mich wieder auf und stellte mich in Stegis Weg. Er knurrte und brüllte, dann holte er mit seiner Waffe zu einem seitlichen Hieb aus, der zwar aufgrund seiner Größe und Masse behäbig begann, dann aber mit der Wucht einer Lawine näherkam. Ich wusste nicht, wohin ich ausweichen sollte. Der Angriff würde mich trotzdem treffen und zerschmettern, seine Reichweite war einfach zu groß. Das letzte, was ich spürte, war der Zusammenprall, der mir alle Luft aus der Lunge presste und dann, wie ich davongeschleudert wurde, danach verlor sich mein Bewusstsein in der Finsternis und ich gab ihrem Verlangen nach.
"Herr Bau? Herr Bau! Bitte, wachen Sie auf Tim!"
Die Stimme hallte lange in meinem Kopf nach, ohne dass ich darauf kam, wer sie war. Eine Frau auf jeden Fall. Hieß das, ich lebte noch? Oder begrüßte sie mich im Nachleben? Das wusste ich nicht sicher und der einzige Weg, es herauszufinden, war, meine Augen zu öffnen.
Ich hatte mit einem grellen Licht gerechnet, aber es war stockdunkel um mich herum. Dunkel und nass vom Regen. Und mir war kalt. Wie lange war ich schon hier und diesem schlechten Wetter ausgesetzt gewesen?
"T-tim?", fragte die Stimme wieder und etwas bewegte sich vor mir. Eine zierliche Gestalt und ich realisierte, wer sie war. Monika! Aber was machte sie hier, offenbar mitten in der Nacht und im schlimmsten Gewitter?
"Mir geht es gut", brachte ich hervor, "aber sollten Sie nicht bei ihrer Familie sein?"
Monika stockte. "Hatte ich es Ihnen nie erzählt? Ich habe keine Familie. Ich... ich habe nur Sie... Und Sie haben sich nicht gemeldet, als ich Sie angefunkt habe, also habe ich nach Ihnen gesucht! Es sind mittlerweile acht Stunden vergangen, seitdem Sie uns weggeschickt haben."
Acht Stunden? Dann war es jetzt schon weit nach Mitternacht! Ohne lange zu überlegen, versuchte ich aufzustehen und scheiterte schon an den ersten Bemühungen. Ich war vom Oberkörper abwärts gefangen in einem Feld aus Trümmern und meine Beine waren irgendwo verschüttet darunter. Ob ich dann überhaupt noch laufen konnte, nach so einem Vorfall?
"Bitte helfen Sie mir, die Steine ein wenig beiseite zu stemmen! Ich komme hier sonst nicht raus!", erklärte ich Monika meine Situation und dann machten wir uns gemeinsam mitten in dieser stockdunklen, verregneten Nacht daran, mich von diesem Schlachtfeld zu bergen. Mehrmals berührten sich unsere Hände versehentlich und wir entschuldigten uns beieinander dafür, aber endlich war genug Gewicht von meinem Körper verschwunden, dass ich aufstehen konnte, und auch stehen blieb. Kein Knochen war gebrochen, aber dafür tat mir alles weh, als wäre ich windelweich geprügelt worden. Während wir zu meinem Haus losgingen, warf ich einen Blick zurück auf das ehemalige Firmengelände. Nichts erinnerte hier mehr an "Die Zukunft der Welt", wie ich unsere Arbeit gerne angepriesen hatte. Es lag alles in Schutt und Asche da. Und Stegi war auch verschwunden. Wohin wusste ich nicht.
Es war anstrengend, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulaufen, aber Monika stützte mich ein wenig und nach etwa einer viertel Stunde standen wir im Hausflur, zitternd, tropfnass und müde. Eilig nahm ich ihr die Jacke ab, hängte sie mit meiner eigenen in die Garderobe und bot ihr an, dass sie sich im Bad waschen und frisch machen dürfte. Sie nahm dankend an und verschwand hinter der Tür, die ich ihr zeigte, und ließ mich allein mit der Möglichkeit, auch meine Klamotten zu wechseln.
Dabei betrachtete ich mich im Spiegel. Allerlei kleine Schnittwunden zierten mein Gesicht und meine Hände, und meine Beine waren mit Blutergüssen übersät wie vor einer Woche Stegis Körper im Krankenhaus mit den seltsamen, grau-grünen Flecken. Als ich meine durchweichte, zerrissene Hose beiseite legte, fühlte ich plötzlich etwas in der Hosentasche. Verwundert griff ich danach und beförderte die Phiole hervor, die auf wunderliche Weise den ganzen Trubel heil überstanden hatte! Natürlich... Ich hatte sie einfach eingesteckt, als Stegi zur Firma gekommen war und sie dann beinahe vergessen. Nur gut, dass sie vorhin nicht zersplittert war und mich ebenfalls zu so einem Monster-
Ich hielt inne. Steckte die Phiole hastig wieder ein und humpelte ins Wohnzimmer, von dem aus ich einen guten Blick über die Stadt hatte. Viele Lichter und Straßenlaternen leuchteten noch, aber dazwischen glaubte ich auch, eine Schneise zu entdecken, die so dunkel war wie der Nachthimmel und die Häusermasse in zwei Hälften teilte. Kein Zweifel, wer dafür verantwortlich war. Er tobte noch irgendwo da draußen und mit einem Stich im Herzen glaubte ich, in der Ferne Polizeisirenen zu hören. Sie würden versuchen wollen, ihn aufzuhalten. Ihn zu töten. Meinen kleinen Jungen!
Ich erinnerte mich an das, was er gesagt hatte. Dass das seine freie Entscheidung gewesen wäre. Dass nicht der Golem ihn, sondern er dieses Monster kontrollierte und ich mich ja nur um ihn scherte, sobald er irgendwie nützlich für mich war. Das war einmal so gewesen, aber jetzt nicht mehr! Jetzt brauchte er mich nur sehr viel mehr als je davor!
"T-tim? Das müssen Sie sich ansehen! Ist das nicht das Monster, vor dem Sie uns gewarnt haben?" Fragend drehte ich mich zu Monika um, die ihr Handy gezückt hatte und hastig darauf herumtippte, ehe sie es mir überreichte. Es war ein Clip auf Facebook, verschwommen und immer wieder schwankend zwischen kompletter Schwärze und völlig überhellten Straßenabschnitten, aber mir wurde trotzdem klar, was er zeigte. In den ersten paar Sekunden flüchtete die Person, die das ganze aufzeichnete, vor dem Golem, der immer wieder kurz am Bildrand auftauchte, doch dann stoppte der Mann mit der Kamera und drehte sich um. Durch das grelle Licht sah ich, wie der Golem plötzlich schrumpfte und in sich zusammen sank. Das alles passierte unfassbar schnell, auch zu schnell für den Mann. Während er sich unsicher nach dem Ungetüm umschaute, stoppte ich das Video und kniff die Augen zusammen. Ich hatte mich nicht getäuscht! Genau in diesem Moment lief Stegi durch den Bildhintergrund! Ich konnte ihn genau sehen, seine Haare waren zwar wirr und ungepflegt und er trug die seltsamen Klamotten vom Krankenhaus, aber es war ohne Zweifel er! Er konnte sich zurückverwandeln! Er hatte tatsächlich Kontrolle darüber! Aber anstatt aufzuhören, setzte er seine Terrormärsche einfach an einer anderen Stelle fort! Jemand musste ihn dringend stoppen und zur Vernunft bringen! Und ich wusste auch schon wer und wie.
"Monika, sei so gut und hole eine Spritze aus dem Bad. Der Schrank gleich links, mittleres Schubfach!"
"O-okay!", antwortete sie und ging los. Dafür hatte ich sie immer ganz besonders gemocht. Sie stellte keine Fragen, sondern tat, was ich von ihr verlangte, selbst wenn sie vielleicht Bedenken hatte. Sie kam schneller als erwartet zurück und reichte mir die kleine Spritze. Dankbar nahm ich sie, zog die Phiole aus meiner Tasche, entkorkte sie und zog ihren Inhalt dann in die Spritze ein. Monika beobachtete mich dabei besorgt. "Was haben Sie vor? Was ist das?"
Mit der freien Hand krempelte ich meinen Ärmel hoch, setzte die Nadel auf meiner Ellbeuge an und wollte mir die Verbindung gerade ins Blut jagen, als die Frau dazwischenging und meinen Arm beiseite drückte. Ich hielt inne. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet: "Ist das etwa das Zeug, dass Ihren Sohn beinahe umgebracht hat? Was wollen Sie damit tun? Sich tatsächlich das Leben nehmen? Dann lassen Sie das, Sie dürfen das nicht tun!"
"Ich muss aber. Verstehst du, Monika? Dieses Ding, vor dem die Leute da so große Angst haben, das ist mein Sohn. Dieser Stabilisator hat ihn dazu gemacht und irgendjemand muss ihn stoppen! Ich will es versuchen, und wenn es mich umbringt, dann bringt es mich halt um! Nicht, dass ich es besser verdient hätte!" Ich wollte die Spritze wieder ansetzen, aber Monika schlang ihre Arme so um meinen Körper, dass ich von ihr gefesselt wurde und mich nicht mehr vom Fleck bewegen konnte. "Sagen Sie das nicht! Vielleicht empfinden das einige so, aber ich... ich liebe Sie! Ich möchte nicht, dass Sie sterben, bitte!"
Kurzzeitig wurde mir warm ums Herz. Das war nett von ihr, aber es musste getan werden. Ich würde Stegi nicht noch einmal im Stich lassen! Durch sanften Druck löste ich ihre Klammer, küsste sie kurz auf ihre bebenden Lippen und injizierte mir dann den Stoff, der mich hoffentlich auch in den nächsten Stunden zu solch einem Golem werden ließ. Monika quiekte erschrocken auf, aber es war zu spät. Ich spürte mein Blut bereits schneller durch meinen Körper rasen.
Wenn ich Recht hatte, gab es eigentlich keinerlei Risiken hierbei. Das redete ich mir jedenfalls ein. Stegi hatte in der Zeit seines Krankenhausaufenthaltes keine Medikamente erhalten, außer Schmerztabletten. In Lebensgefahr hatte er auch nur durch seinen Blutverlust geschwebt. Das einzige unangenehme würde sein, wenn das Zeug gleich meinen Körper umprogrammierte und die Möglichkeit gab, zu einem Mutanten zu werden. Das war das Zucken und der weiße Schaum gewesen, den Stegi damals gespuckt hatte. Und danach... Danach hoffte ich, schnell wieder auf die Beine zu kommen und meinen Jungen retten zu können!
Mir wurde langsam schwindelig und ich begann, schrecklich zu husten. So schnell schoss mir das Blut gerade durch jede Ader und jede Vene! Monika begleitete mich noch schluchzend zur Couch und versprach mir, auf mich aufzupassen, dann wurde ich heute zum zweiten Mal ohnmächtig.
Als ich erwachte, stand Monika mit dem Rücken zu mir an der großen Glasfront und starrte auf die Stadt hinaus. Leise ächzend hievte ich mich auf und taumelte den ersten Schritt, bevor ich mich an der Armlehne auffangen konnte. Monikas Kopf flog zu mir herum, unsere Augen verbanden sich und gleichzeitig fragten wir: "Und?"
Es entstand eine verwirrte, unangenehme Pause, bis ich nachsetzte: "Wie sehe ich aus?"
"Schrecklich", bekam ich als Antwort, "Und wie fühlen Sie sich?"
"Ebenfalls schrecklich. Und bitte, du darfst mich ruhig duzen. Sonst komme ich mir nicht nur angematscht, sondern auch noch unnötig alt vor!"
Sie erwiderte mein schwaches Lächeln. "Okay Tim!"
"Ich muss jetzt los!"
"Ich weiß. Ich habe die Radioberichte gehört. Stegi ist gerade irgendwo im Südviertel. Weißt du denn, wie du dich verwandeln kannst?"
Eine gute Frage. Im Moment spürte ich nichts dergleiches wie eine Art zweite Persönlichkeit, der ich meine Kontrolle übertragen konnte, aber irgendwie würde ich das sicher noch auf dem Weg herausfinden! Stegi hatte es komplett ohne fremde Hilfe geschafft, also konnte ich das auch!
"Wir werden uns wiedersehen, versprochen!"
Als ich in mein Auto stieg, das ich privat fuhr und nicht dem Chauffeur überließ, kam mir der Gedanke, dass ich Monika vielleicht noch nach ihrer Schminke hätte fragen sollen. Ein fixer Blick in den Rückspiegel auf meine eigene Reflektion offenbarte mir nämlich ein grausiges Bild. Dieselben Flecken wie bei Stegi, nur sehr viel größer und so viele, dass mein Gesicht eher grau als hautfarben wirkte. Aber da musste ich jetzt durch! Ich durfte nicht noch länger warten und Zeit vergeuden! Also startete ich das Auto und brauste los zum Südviertel, in dem mein Sohn gerade sein Unwesen treiben musste...
Schon von weitem sah ich die Schneise der Verwüstung ganz genau. Nur der gigantische Golem hätte solche Spuren hinterlassen können. Also folgte ich ihnen so gut es über die unwegsame Straße ging und hielt weiterhin Ausschau. Sirenen in der Ferne, gedämpfte Schreie der Panik, ab und zu ängstliche Menschen, die ihre Gesichter aus den verhangenen Fenstern streckten. Aber kein Donnergrollen und keine Erschütterungen. Er musste gerade wieder ein Mensch sein! Also folgte ich jetzt dem Tumult der flüchtenden Menschengruppen und wurde bald fündig. Eine ganze Traube an Leuten, die mir auf der Straße entgegenkamen. Andauernd warfen sie prüfende Blicke hinter sich, als erwarteten sie, dass dort gleich wieder jemand erschien, der sie weiter verfolgte. Stegi musste irgendwo dort in der Nähe sein!
In der nächstbesten Seitenstraße ließ ich das Auto stehen und ging zu Fuß weiter. Mir war zum Glück nicht mehr so schwindelig und sogar meine von gestern erschöpften Beine trugen mich wieder sehr viel zuverlässiger! Zwei Blocks brachte ich noch hinter mich, dann stoppte ich plötzlich und versteckte mich hinter einer Häuserecke. Ich hatte ihn gesehen! Wie ein Kleinkind stromerte er zwischen den Trümmern seines Wutausbruchs herum und kam mir langsam entgegen geschlendert. Noch hatte er mich wahrscheinlich nicht gesehen und ich nutzte den Überraschungsmoment aus, als er auf meiner Höhe angekommen war. Schnell verließ ich mein Versteck, stellte mich ihm in den Weg und packte ihn bei den Schultern. "Stegi! Hör zu, du musst das sein lassen! Komm mit mir, wir gehen nach Hause und fangen nochmal ganz von vorne an!"
Stegi erschrak sich heftig, Unglaube und Furcht blitzten in seinen großen Murmelaugen auf, doch er fing sich schnell wieder und riss sich los. "Lass mich in Ruhe! Du kannst nicht mehr über mich bestimmen!"
"Nein, aber ich kann dich bitten! Noch können wir das alles irgendwie retten, bitte denk nach! Lass deinen Hass nicht an Unschuldigen aus. Wenn schon, dann bin ich der Schuldige", erklärte ich und umarmte ihn. Er zitterte am ganzen Körper. "Geh weg!"
"Nein, nie wieder! Den Fehler habe ich schon einmal gemacht!"
"Lass mich los!"
"Wir kriegen das wieder hin, versprochen!"
"Ich sagte: Lass mich los!"
Meine Arme wurden quasi von seinem Körper gesprengt, als er sich verwandelte und wütend brüllte. Innerhalb von Sekunden ragte er als unheilvoller Schatten wieder über mir und stemmte seine grob geformten Fäuste links und rechts von mir in den Boden. In seinen Augen schien dabei ein zornig loderndes Feuer zu brennen. Zeit, dass auch ich herausfand, wie ich mich verwandelte!
Ich dachte, dass es sich wie ein Prickeln anfühlen musste. Eine flüsternde Stimme in meinem Kopf, die von mir verlangte, dass ich mich zurücklehnen und ihr den Platz überlassen sollte. Aber tatsächlich war es sehr viel einfacher. So einfach, wie zu Blinzeln oder zu Atmen, nur durch pure Gedankenkraft! Als wäre dieser innere Dämon schon immer da gewesen. Ich konnte sehen, wie der Boden unter mir schrumpfte, spürte neue Kraft durch meinen Körper pulsieren und meinen Kopf seltsam leicht werden. Es war erstaunlicherweise ein schönes Gefühl! Ich wollte begeistert jubeln, aber nur ein kampflustiges Brüllen verließ meine Kehle. Sogar als Riese überragte ich meinen Sohn, der sich wieder aufgerichtet hatte und meinen Aufschrei erwiderte. So standen wir uns gegenüber, abwartend, einander abschätzend. Ich wollte Stegi kein Haar krümmen müssen und wusste noch nicht, welche schrecklichen Auswirkungen eine einzige Bewegung als Riese mit sich zog. Doch er ersparte mir weitere Gedanken darüber, indem er den Kampf eröffnete und ausholte.
Meinen Arm zu heben, um mich zu verteidigen, dauerte plötzlich ewig. Als hätte mir jemand mehrere Kilogramm schwere Gewichte angeschnallt. Schon prallte der breite Steinklotz mitten in mein Gesicht und brachte mich ins Taumeln. Es schmerzte, als hätte mir jemand einen Volleyball aus nächster Nähe vor den Kopf geschleudert. Doch ich fing mich, bevor ich stürzte und riss meine Unterarme schützend vor meinen Kopf, als auch schon der nächste Schlag auf sie niederschmetterte. Aber so war es richtig. Stegi ließ seinen Zorn jetzt an mir aus und vergaß ganz und gar, die Stadt in Trümmer zu legen! Und wenn ich selbst jetzt noch Schmerzen empfinden konnte, die vergleichbar mit welchen in meiner Menschenform waren, dann wurde Stegi irgendwann auch müde und erschöpft! Bis dahin musste ich einfach ausharren und Acht geben, dass er niemanden anders mehr verletzte!
Während er mich Fausthieb um Fausthieb bearbeitete, gelang es mir, wieder einen sicheren Stand zu fassen und mich schließlich unter seinen Pranken hinweg zu ducken. Ich packte Stegi am Oberkörper und riss ihn mit mir zu Boden, wo ich ihn an Armen und Beinen festsetzte. Er brüllte und fluchte wütend, aber ich ließ ihn nicht wieder frei. Jetzt würde alles wieder gut werden. Er konnte niemanden mehr verletzen! Und falls er es doch versuchte, würde ich ihn dann wieder aufhalten. Und wieder und wieder, bis er verstand, dass sein Handeln nicht richtig war!
Doch dann hörte ich die nahe Polizeisirene und die Durchsagen ihrer Lautsprecher, die verkündeten, dass sie uns umzingelt hatten und Widerstand mit Waffengewalt erwidert werden würde. Ich schaute erschrocken auf. Wenn sie uns zusammen sahen, würde ich automatisch auch als Feind abgestempelt werden, egal ob ich ihnen half oder Stegi unterstützte. Aber alleine seinem Schicksal überlassen konnte ich ihn auch nicht! Ich hatte versprochen, ihn zu beschützen! Doch schon dieser kurze Moment der Unaufmerksamkeit hatte Stegi gereicht. Mit einer heftigen Kopfnuss gelang es ihm, mich Sternchen sehen zu lassen und mich von ihm zu werfen. Ich wurde in die Höhe geschleudert und landete mehrere Meter entfernt schmerzhaft auf meinem Rücken. Stegi, nicht...! Sie würden dich für immer jagen, wenn du jetzt die Hand gegen sie erhebst! Schon kamen sie von überall zwischen den Häuserblocks hervor, Gewehre im Anschlag und von Kopf bis Fuß in stark gepanzerte Ausrüstung gekleidet.
Sofort visierten sie Stegi an, der sich wieder aufrappelte und ihnen entgegenstellte. "Nicht Stegi! Nein!", brüllte ich und wollte mich zwischen sie werfen, doch bevor ich wieder auf die Füße kam, schlang sich etwas um meine Arme. Seile mit Enterhaken daran und mit einem heftigen Ruck rissen mich die vereinten Polizisten zurück zu Boden. Und meine Finger waren viel zu grob, um die winzigen Widerhaken von meinem Körper zu lösen!
"Zielt auf die Augen!", brüllte einer der leitenden Polizisten seine Anweisungen und dann krachte es aus über einhundert Waffenläufen gleichzeitig ohrenbetäubend laut. Stegi taumelte und brüllte auf, einen Arm hob er schützend vor sein Gesicht und mit dem anderen holte er blind zum Schlag aus. Er musste damit aufhören! Sonst würden sie ihm weiter wehtun! "Lass es Stegi, bitte!"
Und dann geschah das schlimmste. Ich sah ihn viel zu spät und schaffte es nicht einmal mehr, etwas dagegen zu tun oder Stegi eine Warnung zu geben. Einer der Männer hatte einen Raketenwerfer geholt, sich soeben in Stellung gebracht und schoss, direkt auf das Herz des Golems. Ich konnte dem Geschoss nur noch nachsehen, wie es vor meinen Augen beinahe in Zeitlupe losging, sich leicht trudelnd um die eigene Achse drehte und immer schneller wurde. Mein Sohn konnte es nicht sehen, er hielt sich noch immer den Arm schützend vor seine Augen und hob soeben seinen Fuß, um ihn auf die herumwuselnden Bodentruppen sausen zu lassen. Die Rakete schlug in sein Bein ein und zerfetzte es mit seiner Sprengkraft in tausend winzige Steinsplitter. Ich begann zu schreien, als er erschrocken Luft holte, auf seinem verbleibenden Bein ins Straucheln geriet und kippte. Noch im Fall verwandelte er sich zurück, schrumpfte immer kleiner und schlug schließlich schwer wie Blei auf dem Boden auf. Er weinte vor Schmerzen und selbst aus der Entfernung meinte ich das ganze Blut zu sehen, dass aus der riesigen Wunde quoll, wo zuvor noch ein vollkommen intaktes Körperteil gewesen war. Die Polizisten rückten weiter vor, die Gewehre im Anschlag, sie zielten auf meinen Jungen, der wehrlos und geschlagen am Abgrund lag. Nein! Sie konnten ihn mir nicht wegnehmen!
Noch während ich ebenfalls schrumpfte, nahm ich Anlauf und sprintete zu Stegi. Niemand hielt mich auf. Schlitternd ließ ich mich neben ihm fallen, umarmte ihn, zog ihn hinauf auf meinen Schoß und schlang mich schützend um ihn. Mindestens fünfzig gesichtslose, bis zu den Zähnen bewaffnete Männer starrten mich an, die Finger am Abzug, bereit ihn und mich zu töten, wenn wir nur noch eine falsche Bewegung machten. Ich schluchzte: "Tut ihm nichts, es ist alles meine Schuld! Er hat die ganze Zeit so sehr gelitten und wusste nicht, was für einen Schaden er anrichtet! Bitte, wenn ihr schon jemanden erschießen wollt, dann nehmt mich!"
Die Polizisten hielten inne, sahen einander durch die verdunkelten Schutzhelme an, kommunizierten mit kleinen, mir unverständlichen Gesten. Schließlich kamen zwei auf uns zu, fesselten uns die Hände mit Handschellen und riefen sogar einen Rettungsdienst für Stegis fehlendes Bein. Ich dankte ihnen allen tausend mal und versprach, für alle Sachschäden, Verletzten und deren Angehörige mit meinem Privatvermögen aufzukommen. Hauptsache, sie nahmen mir nicht meinen Jungen weg! Da konnten die Strafen die uns drohten noch so hoch sein! Sein Leben war mir kostbarer als alles Geld der Welt! Wäre mir das nur früher klar gewesen, dann hätte es zu alldem nicht kommen müssen...
"Dad?"
Ich blickte von meiner Arbeit auf und lächelte: "Ja Stegi?"
"Störe ich grad?"
"Nein, gar nicht! Was gibt es?"
"Können wir bitte raus gehen? Die Sonne scheint gerade so schön und ich dachte, dass du vielleicht mal wieder aus deinem Kämmerlein kommen solltest!"
Ich lachte, stand auf und strubbelte über Stegis gewellten Haare. Hastig glättete er sie wieder notdürftig und ließ sich dann von mir zur Haustür schieben. "Wollen wir Moni noch fragen, ob sie mitkommen möchte?" Stegi nickte glücklich und ich ging schnell in die Stube, um ihr Bescheid zu sagen. Kurz darauf hatten wir uns fertig angezogen und gingen zu dritt nach draußen in einen nahen Park, um das schöne Wetter zu genießen.
Drei Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem Stegi sein Bein verloren hatte. Ich hatte mein Versprechen gehalten und alles eigenständig bezahlt, was wir an Schäden verursacht hatten. Am Ende hatten wir nur noch genug für einen Umzug in eine kleine, schmuddelige Wohnung übrig gehabt, die weder unserem gewohnten Luxus entsprach, noch geeignet für Rollstuhlfahrer war. Doch es waren genau diese Umstände gewesen, die uns als richtige Familie zusammengeschweißt hatten. Jeden Tag hatte ich Stegi die Treppen zu unserem Zuhause hoch- und runtergetragen, mich um seine Verletzung gesorgt und darauf geachtet, dass er an seiner neuen Schule nicht gehänselt wurde. Dafür hatte er auch nie wieder seine Superkräfte gebraucht, obwohl sie ihm einiges sicherlich erleichtert hätten. Er wusste jetzt, dass das falsch war und jede noch so winzige Unachtsamkeit eventuell ein unschuldiges Leben bedrohen könnte. Und Monika hatte er nach langer Zeit auch endlich als Stiefmutter angenommen. Mittlerweile hatten wir beiden auch wieder eine Arbeit gefunden und ganz besonders darauf geachtet, dass sie uns genügend Zeit für unseren Sohn ließ! Ohne ihn wäre mein Leben um etliches düsterer geworden...
"Dad? An was arbeitest du da Zuhause eigentlich?", fragte Stegi mich plötzlich und ich schaute versonnen in die Ferne. "Es sollte eine Überraschung für dich werden, aber wenn du mich so fragst: Ich versuche, eine Beinprothese für dich zu bauen, damit du wieder laufen kannst! Sie ist noch nicht fertig, aber bald kannst du sie einmal anprobieren!"
"Mein Mann, der Bastler", scherzte Moni glücklich und küsste mich flüchtig auf die Wange. Ein besserer Bastler, als Chemiker jedenfalls. Davon hatte ich seither die Finger gelassen. Nie wieder wollte ich an einer Energie der Zukunft für die ganze Welt arbeiten! Denn meine Zukunft lag bei meiner Familie und die reichte mir für den ganzen Rest meines Lebens mehr als nur genug aus, um glücklich zu sein. Das hier war meine Bestimmung, bis ganz zum Schluss! Happy End.
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Ahhh, wieso muss ich immer solche Geschichten schreiben?! Das ist doch deprimierend... Mindestens genauso deprimierend wie die Tatsache, dass ich seit 9 Uhr morgens beinahe ununterbrochen hier dran geschrieben hab! Und ich muss mich eigentlich aufs Vorabi vorbereiten...
Mögt ihr denn diese Themen überhaupt? Oder störts euch? Ich kann auch versuchen, wieder mehr fröhliche Sachen zu schreiben, wenn ihr wollt.
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