Ein seltsamer Fund (#Stexpert)
Ich liebte Sommerferien. Nur mit einer dünnen Badehose am Strand zu liegen und sich von der Sonne noch bräuner brutzeln zu lassen, als ich ohnehin schon war. Ein Haus in der Nähe des Meeres zu haben zahlte sich entschieden aus, denn ich kannte eine Menge kleiner Sandbuchten, die so gut wie nie mit Touristen überfüllt waren. Wenn kamen nur ab und zu verliebte Pärchen am Abend vorbei oder ein Hundebesitzer mit einer Frisbee. Ansonsten war es hier aber für gewöhnlich immer ruhig und friedlich. Herrlich, so konnte es für immer bleiben!
Natürlich hatte ich da meine Rechnung ohne meine beiden Kumpels Tobi und Rafael gemacht. Gerade als ich blinzelnd nach ihnen Ausschau halten wollte, hörte ich sie noch kichern, ehe sich ein riesiger Schwall kalten Salzwassers über mich ergoss. Ich erschrak heftig und saß im Anschluss an diese Scheißaktion noch für wenige Sekunden wie eingefroren auf meinem nun klatschnassen Handtuch, während die Jungs schadenfroh lachten und in ihre ausgestreckten Hände einschlugen. Doch ich hatte mich auch schnell wieder gefangen und verfolgte sie wütend über den ganzen Strand, bis ich Tobi zu greifen bekam, den strampelnden Scherzkeks an Armen und Beinen packte und bis ins bauchnabeltiefe Wasser trug. Dort warf ich ihn einfach grinsend ab und beobachtete, wie er bei dem recht heftigen Wellengang versuchte, wieder aufzustehen, mit sehr lustigen Resultaten. "Das hast du davon! Und Rafi ist gleich noch der nächste!", drohte ich an. Kaum hatte ich das gesagt, landete ich selbst auch schon bäuchlings im Wasser. Rafi thronte grinsend über mir. "Ach ja Tim? Ich bin der nächste?", feixte er zufrieden.
Die folgenden fünf Minuten balgten wir uns zu dritt und lachend im seichten Wasser. Das heißt, Tobi feuerte uns meistens nur an, da er ein wenig kleiner und schmächtiger war als wir beiden braungebrannten und muskulösen Jugendlichen. Am Ende waren wir alle verschwitzt, ausgepowert und runzelig durch das Salz im Meer und in der Luft. Ich hatte mich grade in mein Handtuch eingewickelt, als ich etwas ungewöhnliches in den fernen Wellen sah. Einen schwarzen, glänzenden Fleck, der immer mal wieder verschwand und dann ein wenig entfernt davon wieder auftauchte. Rafi war es scheinbar auch aufgefallen. "Was das wohl ist?", fragte er, aber er wirkte nicht sonderlich interessiert. "Keine Ahnung", antwortete ich, auch Tobi sah ratlos aus.
So weit draußen schwamm das Ding nicht, vielleicht konnte es einer von uns mal genauer unter die Lupe nehmen! Aber Rafi winkte schon ab, als er meinen abenteuerlustigen Blick bemerkte, und Tobi hatte sein Handtuch vergessen und schlotterte trotz der warmen Sonnenstrahlen. Nochmal schaute ich aufs Meer. War es das wirklich wert? Auch trotz meines Trainings und meiner guten Kondition würde das eine kräftezehrende Strecke werden. Und wie schwer der Rückweg mit einem vielleicht extrem sperrigen Gegenstand war, wollte ich mir nicht ausmalen. Aber ich war halt auch neugierig! Patrick aus meiner Parallelklasse war begeisterter Taucher und hatte schon die verrücktesten, aber auch mega wertvollen Sachen in der ganzen Gegend hier gefunden und sein Zimmer quoll angeblich schon über von seinen Schätzen. Höchste Zeit, meinen ganz eigenen Schatz zu bergen!
"Wartet hier bitte auf mich und helft mir, wenn ich euch brauche!", befahl ich meinen Freunden, drückte Tobi mein Strandtuch in die Arme und lief dann zurück ins Wasser. Ab Hüfthöhe machte ich einen Hechtsprung nach vorne und kraulte weiter ins offene Meer hinaus. Doch als ich nach ein paar Minuten innehielt, um mich nach meinem Ziel umzuschauen, fluchte ich innerlich. Durch den Wellengang hatte ich es völlig aus den Augen verloren.
Ein scharfer Pfiff gellte durch die Stille und fragend schaute ich zurück zum Ufer. Rafi und Tobi waren bereits auf die Größe von Spielzeugsoldaten geschrumpft und der Ältere deutete heftig wedelnd nach links. Also folgte ich seinem Tipp, hielt kurz darauf wieder an, ließ mich weiter von ihm leiten, bis ich das schwarze, glänzende Ding plötzlich wieder ganz nahe vor mir sah. Es war ein riesiger zugeknoteter Plastikbeutel und als ich ihn rasch abtastete, spürte ich, dass auch etwas darin war. Etwas ziemlich schweres sogar. Mensch, dann würde es ja tatsächlich etwas werden mit meinem Schatz!
Wie erwartet war der Sack durch sein Gewicht aber sehr unhandlich und ich wechselte ständig meine Schwimmart, ohne jedoch eine wirklich optimale Lage zu finden. Schob ich meinen Fund, konnte ich mir nicht sicher sein, wohin ich schwamm, zog ich ihn aus der Rückenlage, schwappte mir andauernd Salzwasser über Mund und Nase. Ich wurde auch immer müder und nickte Rafi dankbar zu, als er sich auf der Hälfte der Strecke ein Herz zu fassen schien und mir entgegen kam. Dann ging es deutlich schneller und bald schon spürte ich wieder Sand und Muscheln unter meinen Füßen. Erleichtert atmete ich durch. "Dankeschön Rafi!"
Er winkte ab, schob den Plastikbeutel den letzten Meter auf den Strand und hielt verblüfft inne. "Tobi, du müsstest auch helfen! Was auch immer da drin ist, ist verdammt nochmal schwer wie ein Fels! Tim, kannst du noch?"
Ich murmelte bestätigend und packte mit an. Mein Kumpel hatte Recht, an Land war das Ding noch sehr viel schwerer als im Wasser! Wie hatte es überhaupt die ganze Zeit schwimmen können?! Doch nach ein paar koordinierten Anstrengungen lag es sicher vor der nächsten Flut vor uns im Sand, noch immer durch die vielen Tröpfchen leuchtend und glänzend in der Sonne. "Na los, machs auf!", drängte mich Rafi, "Du hasts gefunden!" Jetzt wirkte auch er furchtbar aufgeregt und stolz kniete ich mich zu dem zugeknoteten Ende hinunter. Aber ich fand mit meinen Fingern kaum einen Halt, um den durch Algen total glitschigen Knoten zu öffnen. Also musste eine scharfe Muschelschale her, um die Tüte aufzuschlitzen, denn sie ließ sich auch durch rohe Gewalt nicht zerreißen. Mittlerweile schienen wir alle vor Neugier beinahe zu platzen und als die kleine Klinge durch die Plastikhaut drang, beugten wir uns automatisch ein Stück nach vorne.
"Das- das ist ja-!", hob Tobi erschrocken an.
"Ist das wirklich..."
"Ein Mädchen?!", beendete ich ihrer beiden Sätze verblüfft. Da drinnen lag ein nackter Körper mit über schulterlangen, hellblonden Haaren. Ihr Gesicht war zum Boden gedreht, ich konnte nicht einmal sagen, ob sie noch lebte. Und aus der Gegend kam sie ganz sicher auch nicht, dafür war sie viel zu blass und niemand von hier hatte so goldene Haare. Nur eine Frau aus unserem Ort war noch blond, aber bei der erinnerte es eher an Stroh und wirkte schmutzig und ungepflegt. Sie konnte es nicht sein, das Mädchen war auch viel zu dünn für sie. Ratlos schauten wir drei uns an.
"H-hallo?", fragte Rafi, ich rüttelte sie dabei leicht an ihrer Schulter. Kein Laut und keine Reaktion kamen zurück. "Ich glaube, wir sollten die Tüte ganz aufschneiden und sie da rausholen!", schlug Tobi vor. Beinahe hätte ich ihn aus Spaß einen Lustmolch genannt, wenn man bedachte, dass sie obenrum nichts anhatte, aber es ging hier um ein Menschenleben! Da war das in Ordnung, denke ich. Also ritzte ich weiter mit der Muschelschale und bemerkte mit Erleichterung, dass sie noch eine völlig durchnässte, knielange Hose trug. Immerhin. Rafi übernahm den Teil, sie an den Achseln aus ihrer Transporthülle zu heben und umzudrehen.
Ich konnte beinahe spüren, wie bei uns allen die gleichen zwei Gedanken in den Köpfen einschlugen und zu rattern begannen. Zuerst, wir hatten kein Mädchen gefunden, sondern einen Jungen! Einen kleinen, zierlichen, langhaarigen Jungen, dessen Gesicht, wahrscheinlich durch unseren Umgang mit ihm, mit tausend kleinen Sandkörnchen verklebt war. Als zweites und noch sehr viel schockierender: Jemand hatte ihm den Mund mit einem dicken, dreckigen Faden grob zusammengenäht, so straff, dass er ihn bestimmt auch beim besten Willen nicht hätte öffnen können! Nur an einer Erkenntnis änderte sich nichts. Er bewegte sich immer noch nicht, sondern hing schlaff und wie tot in Rafis Armen. Wir schwiegen, völlig erstarrt wie Statuen.
Dann kam Bewegung in mich zurück und mit grimmigem Gesichtsausdruck robbte ich neben den Fremden. "W-was hast du vor?", fragte Tobi ängstlich, dabei beäugte er die scharfe Muschelkante in meiner Hand. "Na was wohl? Ich werde diesen ekligen Faden aufschneiden! Welcher Bastard tut denn sowas einem kleinen Jungen an?!"
"Aber was wenn das aus einem guten Grund gemacht wurde? Was wenn er vielleicht... gebissen hat. Oder..." Tobi verstummte unter unseren bösen Blicken. "Ja, er sieht auch so aus, als würde er uns sofort anspringen und beißen, wenn wir ihn befreien", murmelte Rafi sarkastisch, aber mit tonloser Stimme. Entschlossen setzte ich fort, was ich eben hatte anfangen wollen, legte dem Kleinen meine linke Hand an die Wange, damit sein Kopf nicht versehentlich zur Seite kippte, und trennte dann langsam und vorsichtig den aufgeweichten Stofffaden auf. Nach zwei Schnitten wünschte ich mir bereits mein heißgeliebtes Taschenmesser her, aber das lag Zuhause in meinem Nachttisch. Die Schale war einfach nicht scharfkantig genug und mir tat es schon vom Zusehen weh, wie sein Mund durch die bloß geringe Reibung unter seiner Haut erst gereizt und rot wurde und dann sogar leicht zu bluten anfing. Aber das hieß, es gab auch noch die Möglichkeit, dass der Junge lebte! Doch wenn das so war, dann mussten wir uns beeilen, bevor es zu spät war! Seine Wange war eisig kalt unter meiner Hand...
"Fertig", murmelte ich mit zitternder Stimme, als ich endlich alle Nähte durchtrennt und aus den winzigen Löchern gezogen hatte. Sofort beugte ich meinen Kopf zu ihm hinunter und lauschte auf einen Atemzug. Und tatsächlich, da war er, ganz schwach und unregelmäßig, aber er atmete noch!
"Was ist Tim? Sag schon!", drängelte Tobi mich ungeduldig und ich setzte mich wieder auf. "Meine beiden Ohren habe ich noch, abgebissen hat er mir also nichts. Er lebt, aber wir müssen uns beeilen! Hat irgendjemand sein Handy mit?"
Niemand meldete sich, weder Rafi noch Tobi, der vor Scham über meine Antwort außerdem rot angelaufen war. Mist, Hilfe konnten wir so schonmal nicht rufen! Und alleine waren wir heute auch noch hier am Strand. Also lag es an uns!
"Hat er eventuell zu viel Salzwasser geschluckt?", vermutete Rafi und als niemand von uns widersprach, versuchte er Druck auf den blassen Oberkörper auszuüben. Immer noch keine Reaktion. "Nochmal vielleicht?" Keiner hatte einen besseren Einfall. Mein Kumpel presste dieses Mal ein wenig fester zu und als hätte er damit einen Schalter umgelegt, kam plötzlich das Leben in den Jungen zurück. Sein Brustkorb wölbte sich nach oben, er stöhnte und wäre beinahe von Rafis Schoß gefallen, hätte ich ihn nicht festgehalten. Im nächsten Moment erbrach er sich nämlich auch schon heftig in den Sand und ließ Tobi von dem Anblick einen spitzen, erschrockenen Schrei entfahren. Auch mein anderer Freund sah nicht gerade begeistert davon aus, bekleckert zu werden, aber er zuckte nicht beiseite und riskierte, dass der Fremde deswegen mit dem Kopf voran in seiner eigenen Kotze landete. Zum Glück!
Sobald das ganze, salzige Brackwasser aus seinem Körper gepumpt war, begann er plötzlich ganz furchtbar zu zittern. Besorgt schaute ich mich um. Wir saßen mittlerweile im Schatten und der nächste Sonnenplatz war ein paar Meter entfernt. Also schob ich vorsichtig meine Arme unter die bebenden Beine und den Rücken und hob ihn von Rafi hinunter, um ihn das Stück zu tragen. Doch auch dort schien es ihm nicht besser zu gehen, er fror immer noch und wich vor mir zurück, als ich ihm helfen wollte.
"Tobi, das Handtuch!", rief ich hastig, doch da stand er schon neben mir und schlang es schnell um den Fremden, bevor er wieder unseren Berührungen entkommen konnte. Er hatte Angst vor uns, das war eindeutig. Seine weit aufgerissenen, blau-grünlichen Augen wanderten verschreckt von einem von uns zum nächsten, als erwartete er jeden Moment, dass wir das Werk unseres offensichtlich unfreundlichen Vorgängers vollendeten, was auch immer er getan haben sollte, um zum Schweigen gebracht zu werden. Auch schien er noch nicht bemerkt zu haben, dass sein Mund nicht länger versiegelt war, denn er bewegte ihn krampfhaft kein noch so kleines Stück, redete nicht und schrie nicht um Hilfe. Der Arme... Wir mussten ihm dringend zeigen, dass wir ihm nichts böses wollten!
"Hey, hey du. Wir tun dir nichts, versprochen!", versuchte ich es mit einem freundlichen Lächeln, aber es löste nichts bei ihm aus, höchstens nur noch mehr Panik. Tobi neben mir biss sich unsicher auf die Unterlippe. Rafi hatte sich auf meiner anderen Seite in den warmen Sand gesetzt und schaute ebenso unentschlossen drein.
Wieder schoss mir ein spontaner Gedanke durch den Kopf. Wenn man jemanden nicht mit Worten beruhigen konnte, musste man es mit Taten versuchen. Hunde zum Beispiel konnte man mit Tüchern oder anderen weichen Gegenständen streicheln, bis sie sich an die Berührungen und die Nähe von Menschen gewöhnt hatten. So ähnlich konnte es auch bei ihm funktionieren, einen besseren Einfall hatte ich einfach nicht.
Der kleine Junge versuchte, rückwärts im Sitzen vor mir davonzukriechen, aber ich war schnell bei ihm und umarmte ihn rasch. Er erstarrte, ich spürte seinen rasenden Herzschlag durch das Handtuch hindurch, aber ich drückte ihn einfach weiter sanft an mich in der Hoffnung, dass er bald besänftigt war.
So vergingen viele Minuten. Er hatte sich nicht gewehrt, sondern war weiter in seiner Schockstarre geblieben, aber so hatte er sich wieder aufgewärmt und war tatsächlich ruhiger geworden. Tobi und Rafi waren irgendwann ebenfalls näher gekommen, hatten ihm durch die leicht verfilzten Haare gestrichen und ihm gut zugeredet. Jetzt konnte ich ihn bedenkenlos wieder loslassen und lächelte ihn erleichtert an. Er lächelte ganz leicht zurück.
"Wie heißt du eigentlich? Hast du einen Namen?", fragte ich ihn endlich, aber es kam keine Antwort. Es wirkte beinahe, als hätte er mich nicht gehört, denn er zeigte wieder absolut keine Reaktion, nicht einmal Verwirrung. "Verstehst du mich nicht? Kannst du sprechen?" Die Frage nach dem Hören sparte ich mir, weil Tobi in diesem Augenblick niesen musste und der Blick des Jungen sofort zu ihm geschnellt war. Zum Glück, dann hatte man ihm also nicht noch schlimmeres angetan, als seinen Mund zuzunähen. Und seine Zunge? Einige Menschen schnitten Verrätern die Zunge heraus, um sie für immer Verstummen zu lassen. Aber auch die war noch da, als ich ihm vorsichtig die Hände an die Wangen legte und seinen Mund leicht öffnete, bedacht darauf, die vielen Stichwunden möglichst nicht zu berühren. Dann hatte er vielleicht einfach nie eine Sprache gelernt. Seltsam, aber andererseits auch nicht völlig auszuschließen.
"Wie wollen wir ihn nennen?", fragte ich meine Freunde. Rafi kratzte sich am Kopf. "Äh... uff... wie-, wie wärs mit Bobby?"
"Selber so ein Bobby", stichelte Tobi, aber auch ihm fiel kein überzeugender Name ein. Ich dachte angestrengt nach. Bobby passte einfach nicht wirklich. Na komm schon, ich war doch sonst der Kreative unserer Gruppe. Dann plötzlich kam mir ein Gedanke, von dem ich glaubte, dass er ein wenig besser war. "Wie wärs mit Stegi?", fragte ich optimistisch.
Aber ich traf auf Skepsis. "Stegi? Ist das überhaupt ein richtiger Name?"
"Ich weiß nicht Tim, irgendwie... Haben wir vielleicht noch mehr Vorschläge?"
"Nein", stellten wir alle zusammen fest. Damit waren wir mit unserer Beratschlagung wieder am Anfang angekommen.
"Wir können ihn ja Stegi nennen, bis uns noch ein besserer Name einfällt", schlug ich halbherzig vor, als Rafi die Stirn runzelte und an mir vorbei schaute. "Guckt euch den Kleinen mal an!"
Verwundert drehten wir uns um. Er saß ganz aufmerksam vor uns, seine Augen leuchteten und er wippte leicht vor und zurück. "Sags nochmal!", forderte Rafi mich auf. "Wir können ihn ja Stegi nennen, bis uns-", wiederholte ich meinen Wortlaut möglichst genau und bemerkte dann, was mein Kumpel meinte. Der Junge hatte urplötzlich zu lächeln begonnen, sobald ich meinen Namensvorschlag geäußert hatte! Als würde er ihm gefallen! "Magst du Stegi heißen?", fragte ich vorsichtshalber nach und meine Vermutung wurde endgültig bestätigt. Sein Lächeln wurde noch breiter.
"Tja, gegen das Schicksal komme ich wohl nicht an", gab Rafi sich mit einem Schulterzucken geschlagen, "Willkommen bei uns, kleiner Stegi!"
Tobi nieste wieder und ich begann mir Sorgen zu machen. Er fing sich ungewöhnlich oft Erkältungen ein und das klang echt verdächtig nach einer. Ohje, wenn wir das seiner Mutter beichten mussten, würden wir uns wieder ihr Gemecker anhören müssen. Laut ihr lag es ja immer an uns, dass wir uns nicht genügend um ihn und seine Gesundheit kümmerten. Aber was machten wir jetzt mit Stegi?
"Kann er denn laufen?", in Rafis Stimme schwangen Zweifel mit. Er musste den selben Gedankengang gehabt haben wie ich. Ich seufzte: "Zeit, es herauszufinden!"
"Und was machen wir mit ihm? Wo kommt er unter? Er kennt niemanden außer uns und bei uns aufnehmen können wir ihn nicht! Unsere Eltern würden ausrasten!"
Ich schluckte. Er hatte Recht. In meinen Gedanken hatte ich schon gesehen, wie Stegi mit zu mir kam, mit in meinem Zimmer schlief, bei mir aufwuchs und der Vierte in unserer Gruppe - mein kleiner Ziehbruder wurde... Aber ja, das ging so nicht. Bei wem konnte er nur unterkommen und wer würde ihn auch gut behandeln, ihn vielleicht auch unterrichten und unsere Sprache beibringen?
"Wie wärs mit Pfarrer Bernard? Ich glaub, er würde sich freuen, wenn er sich wieder um jemanden jungen kümmern kann! Und die Zeit und die Mittel, um ihm ein angenehmes Leben zu bereiten, hat er bestimmt auch." Einen Versuch wäre es ja wert und mein Vorschlag traf dieses Mal auf vollkommene Zustimmung. Der Pfarrer war ein herzensguter Mensch und sehr einsam, nachdem sein einziger Sohn im Krieg vor ein paar Jahren gefallen war. Hoffentlich war er bereit, Stegi bei sich wohnen zu lassen!
Der Weg über den Hang zurück nach oben zur Landstraße war kein Problem, Stegi folgte uns auf Schritt und Tritt und konnte nach einigem Taumeln auch vollkommen alleine und selbstständig laufen. Rafi und Tobi holten noch schnell ihre Fahrräder, die sie nicht weit entfernt liegen gelassen hatten, dann liefen wir zu viert Richtung Stadt zurück.
BONUS:
Rafi hatte seinen Rucksack geöffnet und sein Mini-Radio ausgepackt. Jetzt drehte er schon seit einer Minute an den Knöpfen herum, doch nur Rauschen kam aus der Lautsprecherbox. Ich sah dem Ganzen etwas zwiegespalten zu. Ob Stegi solche Musik gefallen würde, die meine Kumpels sich anhörten? Was wenn er erschrak, weil er unsere Technik nicht kannte? Konnte ja genauso sein, wie mit unserer Sprache. Aber ich verkniff mir einen Kommentar und stellte einfach nur sicher, dass ich unseren neuen Freund im Zweifelsfall schnell beruhigen konnte. Der schien aber sogar ziemlich interessiert an dem Radio, andauernd schaute er zu dem Ding hinüber.
"Ah, jetzt hab ichs!", rief Rafi kurze Zeit später und drehte an dem Lautstärkeregler. Nirvana dröhnte uns lauthals entgegen und besorgt warf ich wieder einen Blick hinüber zu Stegi, doch er erschrak sich nicht im Geringsten. Aufmerksam lauschte er den Klängen und lächelte wieder so verschmitzt, wie er es auch bei seiner Namensgebung getan hatte. "Oho, schau an! Er liebt es!", jubelte Tobi und begann, die Melodie mitzusummen. Jedenfalls dachte ich das, bis er sich über sein Rad hinweg beugte und leise mit Rafi unterhielt, das Summen aber nicht stoppte. M-moment mal! War das etwa-? Den beiden war es jetzt auch aufgefallen und entgeistert starrten wir Stegi an, der glücklich vor sich hinsummte! Erst sagte er die ganze Zeit kein Wort und jetzt.. kannte er Smells Like Teens Spirit? Hä?
Er verstummte, als er unsere Blicke bemerkte, aber startete schon bald wieder, während wir weitergingen. Und bei Heart-Shaped Box summte er auch mit. Verlegen schauten wir uns an. "Bernard wird seinen Spaß mit ihm haben", grinste ich. Tobi stieg darauf ein: "Warts ab! Bald haben wir bestimmt ein neues Mitglied im Knabenchor! Wenn er so gut singen kann, wie er summt!"
Wir lachten. Das wäre wirklich lustig! Nachdem Tobi vor knapp einem Jahr in den Stimmbruch gekommen war, fehlte dem Kirchenchor eine Tenorstimme, dessen Stelle bis jetzt immer noch niemand übernommen hatte. Und Stegi, diesen so blassen, hellblonden Jungen unter all den braungebrannten Sängern zu sehen, war bestimmt auch sehr amüsant!
Die ersten Häuser unserer Stadt kamen in Sicht und Rafi schaltete sein Radio aus. Gleich würde sich zeigen, ob unser Findelkind bei uns bleiben konnte, oder wir weiter nach einer Pflegefamilie für ihn suchen mussten. Aber noch waren wir optimistisch. Schon jetzt war Stegi ein Teil unserer Gruppe geworden und wir würden alles versuchen, damit er uns nicht wieder verlassen musste! Wir würden schon eine Lösung finden!
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