Colourblind (#Stexpert)
Das passiert wenn Phara sich "Top 15 Menschen sehen zum ersten Mal im Leben Farben" anguckt, falls ihr euch fragt :'D
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Kunstunterricht war das wahrscheinlich schrecklichste Fach auf der ganzen Welt. Zumindest für mich; Tim, einziger Sohn eines Geschäftsmannes, der etwa jedes halbe Jahr komplett umziehen musste. Das bedeutete für mich immer wieder aufs Neue einen Schulwechsel, eine unendliche Überwindung und das Hoffen darauf, dass die zukünftigen Klassenkameraden nett waren und mein Geheimnis nicht herausfanden. Denn, um zum Anfang zurückzukommen, ich hasste Kunst. Nicht weil ich nicht malen konnte oder unkreativ war, sondern weil ich keine Farben sehen konnte. Ich war farbenblind.
Was andere Kinder rot, orange, rosa und gelb nannten, war für mich ein einziger gleich aussehender Klecks, von dem mir von Ärzten erklärt worden war, dass das am ehesten an ein braun herankam. Grün ging von diesem Brei widerstandslos in blau über, lila ebenfalls. So kannte ich mein ganzes Leben und es war schwer, durch versehentliche Ausrutscher diese Tatsache langzeitig zu verbergen. Irgendwer fand es doch immer heraus und mobbte mich dann. Oder zeigte mir überbegeistert seine Buntstiftsammlung und fragte jedes Mal nach, was ich dort sah. Was sollte ich ihnen sagen? Ich wusste es doch selbst nicht einmal genau! Es war ein und derselbe Farbton, keine Ahnung, was sie hören wollten! Ich wusste nicht, wie ihr rot, orange und so weiter aussahen, wie sollte ich das bitte vergleichen? Und anstatt daraus zu lernen versuchten sie mir dann auch noch ihre Welt zu erklären. Wie immer wenig hilfreich. Hoffentlich würde es jetzt, in der 8c am Gymnasium in Karlsruhe, besser werden!
Mein erster Weg in den neuen Kunststunden führte beinahe schon traditionell zu den neuen Lehrern. Auch hier hatte ich schon die unterschiedlichsten Reaktionen erlebt und teilweise abenteuerliche Halbjahre hinter mich bringen müssen. Einige waren so nett mir zu helfen, andere führten mich vor. Finger kreuzen und beten, dachte ich mir, wartete bis alle anderen hinter meinem Rücken vorbei zu ihren Plätzen gestrebt waren und flüsterte dann: "Frau ...Fischer, richtig? Ich bin Tim, der Neue in der Klasse, und hätte eine Bitte an Sie. Der Rest sollte es wenn möglich nicht erfahren, aber ich bin farbenblind, Rot-Grün-Schwäche. Könnten Sie da bitte ein wenig Nachsicht mit mir haben?"
Die mollige Frau zog eine Augenbraue hoch, seufzte schulterzuckend und lehnte sich in ihrem Drehsessel zurück. "Kannst du das irgendwie bescheinigen? Sonst könnte ja jeder behaupten was er will!", mäkelte sie herum. Mein Herz startete einen Tiefenflug. Den Attest hatte ich natürlich nicht dabei, weil ich erst heute den Stundenplan bekommen hatte. Mit hängendem Kopf gab ich ihr Recht: "Werde ich nächste Woche nachreichen, 'tschuldigung."
"Setz dich bitte neben Stegi und arbeite so weit es geht mit. Die Aufgabe für die Stunde erkläre ich gleich!"
Damit ging auch meine zweite Hoffnung auf einen Einzelplatz flöten. Wenn jemand meine wild colorierten Bilder sah, folgten immer komische Blicke, Bemerkungen und eventuell sogar Spott. Hatte ich alles schon erlebt. Zerknirscht schaute ich mich um. Die Namen meiner Klassenkameraden hatte ich bei Weitem noch nicht alle drauf. Stegi... Stegi. Wer war das nochmal? Zögernd ging ich durch die Reihen an Schülern, die miteinander schwatzten, lachten oder ihr Frühstück verschlangen. In Frage kamen drei, neben denen noch ein Platz frei war und gleich der erste war zum Glück der Richtige.
"Sorry, warst du Stegi?", fragte ich einen blonden Jungen mit Brille, der in der dritten Reihe saß und auf einem Stift herumkaute. Er schaute zu mir auf, nickte freundlich und ich nahm Platz. "Und du warst?", fragte er nach wenigen Sekunden. Ich lächelte etwas schüchtern. "Tim, ist aber nicht weiter wichtig, lange bleibe ich eh nicht." Das wars dann erstmal mit Smalltalk, weil Frau Fischer uns jetzt begrüßte und dann ankündigte, dass die Klasse an ihren Bildern zum Thema Stillleben von letzter Woche weitermalen und ich eines neu anfangen sollte. Innerlich begann ich beinahe zu weinen. So viel Unglück in einem Tag. Dieser Stegi neben mir schien ebenfalls so spitzfindig, dass er spätestens am Ende dieses Tages über mich genauestens Bescheid wusste.
Lustlos kritzelte ich eine Vorskizze auf mein frisches A3 Blatt, quetschte aus dem beschrifteten Klassensatz an Tuben Farbe auf meine Palette und versuchte verzweifelt mir zu merken, was ich wohin verteilt hatte. Hoffnungslos, mein Gedächtnis war wie ein Sieb! Und da hatte ich noch gar nicht mal mit Mischen angefangen!
Nach etwa einer halben Stunde, in der ich planlos die nur dezent verschiedenen Braun- und Blautöne auf mein Bild geklatscht hatte, legte mein Partner dann seinen Pinsel beiseite und sah mir aufmerksam zu. Wie ich das hasste! "Schau auf deinen eigenen Kram!", zischte ich bissig und sah ihn erschrocken hochfahren. Seine Brille rutschte dabei halb seine Nase hinunter. "I-ich fand deins nur sehr kreativ", verteidigte er sich, ohne meiner Forderung nachzukommen. Meine Ohren begannen vor Anspannung zu glühen. Kreativ, aha. Und da kam auch schon die unausweichliche Frage: "Kann es sein, dass du die Farben nicht siehst?"
Ich war ihm immerhin in sofern dankbar, dass er es nicht laut herumposaunte. "Ja", gab ich also kleinlaut zu. Leugnen war sinnlos. Aber er wirkte auch nicht im geringsten überrascht über seine Entdeckung. Interessiert lunste er über den Rand seiner Brille auf mein Stillleben, dann wieder durch die Gläser. Grübelte. Schließlich zog er meine Mischpalette zu sich, begann ihren Inhalt neu durcheinanderzuwürfeln und gab sie mir dann so zurück, wie er sie sich genommen hatte. Wirkte jedenfalls für mich so. "Das da ist rot für die Äpfel", erklärte er mir leise, "das kannst du für deinen Obstkorb verwenden und das Braun für den Tisch. Den Hintergrund dann mit der Farbe."
Skeptisch schaute ich von Stegi zu der Einheitspampe auf dem Plastikschälchen und zurück. Verarschte er mich? Damit ich extra falsch malte und er sich die nächste Stunde lang schlapp lachen konnte? Andererseits, er sah nicht gerade nach so einer Person aus. Ich wusste nicht warum genau, aber er wirkte sehr ehrlich. Also beschloss ich, ihm zu vertrauen. "Danke", murmelte ich und nahm den Pinsel wieder auf.
Am Ende der Stunde war ich relativ weit gekommen, obwohl mir zum Rest der Klasse die letzte Wochenstunde fehlte. Und da niemand weiter dumme Kommentare über mein Bild machte, nahm ich an, dass mein Banknachbar tatsächlich nicht gelogen hatte. Doch warum ging er so locker mit diesem Fakt um und löcherte mich nicht wie die anderen vor ihm mit abermillionen Fragen?
"Kennst du jemanden außer mir mit einer Rot-Grün-Schwäche?", wollte ich auf dem Weg zum nächsten Klassenraum wissen. Das würde sein Schweigen zu diesem Thema jedenfalls erklären. Stegi legte seinen Kopf schief. "Der Jemand steht genau vor dir", antwortete er feixend und erntete von mir ein genervtes Kopfschütteln. "Haha, sehr witzig. Wie hast du mir dann bitte die Farben eben gemischt?" Doch mein sarkastischer Kommentar tat seiner guten Laune keinen Abbruch. "Zeig ich dir heute auf dem Schulhof nach der letzten Stunde!" Mit diesen Worten lief er los und ließ mich alleine im Gang zurück.
"Na dann, wie soll das bei dir funktionieren?", fragte ich mit in die Seiten gestemmten Armen.
"Mein Papa arbeitet bei einer Firma, die Farbenblinden das richtige Sehen ermöglichen will. Genau genommen ist er da wegen mir, davor hat er erst etwas ganz anderes gemacht. Aber jetzt stellt er dort Brillen her, die das Farbspektrum für uns erweitert. Solche wie diese hier!" Vorsichtig nahm Stegi seine eigene Brille ab und reichte sie mir. Ich nahm sie aber nicht an. Wie kasprig sollte das bitte aussehen, wenn uns jemand beobachtete? Und konnte ein Stück Glas in einem Plastikbügel wirklich eine Sehschwäche beheben? Das klang für mich wie Magie, die mich angeblich in wenigen Sekunden heilen sollte. Nett gedacht, aber unmöglich.
Stegi lächelte noch immer, während er mich unverwandt ansah. "Glaubst du mir nicht? Probier doch nur mal ganz kurz, das funktioniert, versprochen!" Widerwillig seufzend nahm ich ihm die Brille an den Bügeln ab und setzte sie behutsam auf. Und was dann folgte, schockierte und faszinierte mich zugleich. Ich sah zum ersten Mal Farben! Saftige, wahrhaft bunte Farben! Das Gras um uns herum zum Beispiel, das war plötzlich nicht mehr bläulich! Es hatte eine eigene Farbe! Es war so hell und wunderschön! Der Rasen, die Hecken um den Schulhof und sogar die Bäume, sie sahen plötzlich alle so... lebendig aus! Nicht kalt, sondern warm und kräftig! Das war also grün. Und ich hatte es bisher noch nie wahrgenommen...
Aber das war noch nicht alles! Als ich endlich meinen Blick davon lösen konnte und mich einmal komplett um meine eigene Achse drehte, entdeckte ich noch mehr. Da wuchsen Blumen in einem der spärlichen Beete, weder groß noch besonders, aber sie leuchteten! Sie waren nicht mehr braun! Sie sahen nicht mehr gleich aus, sondern hatten verschiedene Farben! "I-ist das rot?", fragte ich überwältigt, kniete mich auf den Erdboden und berührte die Blütenblätter, die von allen am dunkelsten waren. "Ja Tim. Das ist rot. Und daneben, das ist orange und das hellere ist gelb. Wunderschön, nicht?"
Wunderschön war eine Untertreibung dafür. Zitternd stand ich auf und schluchzte. Nie hatte ich gewusst, wie schön die Welt eigentlich doch war. Dass sie so intensiv strahlte und so vielfältige Farben besaß und eben nicht nur aus braun und blau bestand. Nie wieder wollte ich diese Brille absetzen! Trotzdem schielte ich ab und zu nochmal probehalber über den Rand, um die Unterschiede klar und deutlich vor mir zu sehen. Wieder und wieder grün von leblos blau zu seiner eigentlichen Färbung wechseln zu lassen gab mir dann endgültig den Rest. "D-d-dankesch-schön St-stegi!", weinte ich vor Freude und warf mich dem mir eigentlich noch immer unbekannten Jungen um den Hals. Er hatte mir soeben die schönsten fünf Minuten überhaupt geschenkt! Dafür war ich ihm unendlich dankbar!
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