38 | all things end
3 TAGE NACH SOKOVIA
Dad hat sich nicht erweichen lassen, und so betrete ich keine 72 Stunden nach Ultrons gescheiterter Apokalypse die Midtown High. Sokovia ist das Lieblingsgesprächsthema, das merke ich schon, bevor ich meinen Spind erreicht habe. Donnerstagmorgen steht zuerst eine Doppelstunde Literatur auf dem Stundenplan, wie gewohnt. Doch irgendetwas ist merkwürdig an diesem Morgen. Ich muss mich nicht wie sonst durch die Schülermengen schieben, mir wird bereitwillig Platz gemacht. Nein, vielmehr weicht jeder vor mir zurück. Gespräche verstummen, sobald ich an den Leuten vorbeigehe, und verwandeln sich in Getuschel, wenn ich ihnen wieder den Rücken zugewendet habe.
Im Unterrichtsraum ist es nicht anders.
»Hab ich 'nen Popel an der Nase oder ein Tritt-Mich-Schild auf dem Rücken, oder warum starren mich alle an?«, frage ich Cass, die mir einen Platz freigehalten hat.
»Sie reden alle über das, was in Sokovia passiert ist. Es ist kein Geheimnis, dass dein Dad dabei war.«
»Ja und? Sie sollten mir auf den Rücken klopfen und Dankeskarten in die Hand drücken, die an die Avengers adressiert sind.«
Cass tippt mit ihren Fingernägeln auf den Tisch. Ihr anderer Arm steckt in einem Gips, eine Verletzung, die sie sich in Sokovia zugezogen hat. So lautet natürlich nur die inoffizielle Geschichte. Offiziell war es ein Fahrradunfall. »Einige halten die Avengers für das Chaos verantwortlich. Nicht Ultron. Mein Vater ist einer von denen.«
»Ultron wollte die Apokalypse auslösen«, sage ich fassungslos. »Die Avengers haben die Welt vor ihm gerettet.«
»Die Welt sieht das anders.«
7 TAGE NACH SOKOVIA
Wie anders die Welt das sieht, stellt sich in den nächsten Tagen heraus. Die Nachrichtensender haben nichts Besseres zu tun, als Aufnahmen von Explosionen und in die Tiefen stürzenden Fahrzeigen zu zeigen. Die meisten Berichte handeln von den unmittelbaren Folgen der Katastrophe, deren Ausmaße bis jetzt noch nicht in ihrer Gänze einzuschätzen sind.
Das Geflüster geht weiter, doch ich höre nicht hin. Was interessiert es mich, was meine Mitschüler davon halten? Wenn sie nur wüssten, was an diesem Tag wirklich geschehen ist. Der ganze Horror Sie wissen gar nichts. Und das einzige, was mich momentan interessiert, ist Matts Rückkehr von SHIELD, die in wenigen Wochen stattfinden wird. Wir schreiben, mehr als vorher zumindest, und manchmal findet er auch Zeit zum Telefonieren. Die Vorfreude auf unser erneutes Treffen ist das einzige, was mich die letzten Schultage über davon abhält, komplett auszuflippen.
30 TAGE NACH SOKOVIA
Der langgezogene Gebäudekomplex erstreckt sich auf dem ehemaligen Gelände einer Stark Industries Außenstelle. Dad hat es renovieren lassen, und ein schickes Logo auf dem Dach anbringen lassen. Nach einer kurzen Fahrt hierher schlage ich die Tür des orangenen Audis zu, während Dad sich eine Sonnenbrille aufsetzt, eine kleine Fernbedienung betätigt, und der Wagen von selbst in eine Garage rollt. Er spaziert auf den Eingang zu. Ich folge ihm.
»Und, was sagst du?«
»Nicht ganz so protzig wie der Tower«, sage ich.
»Keine Panik, das ist nur der Anfang«, beteuert Dad.
Die New Avengers Facility, das neue Quartier der supergeheimen Boyband um Nick Fury und Cap, liegt in Upstate New York, und als beschaulicher Luftkurort wäre er bestens geeignet. Anstatt von Kurgästen laufen allerdings neue und alte Mitarbeiter durch die Gänge. Helen Cho arbeitet jetzt hier, genauso wie Erik Selvig, ein schwedischer Astrophysiker, der von Thor rekrutiert wurde. Die anderen Avengers wuseln hier sicher auch irgendwo rum, aber ich halte nur nach einer bestimmten Person Ausschau.
»Dein Rumgezappel macht ja sogar mich nervös«, stöhnt Dad. »Anstrengender als Steve, der sich einen Plan in den Kopf gesetzt hat, und ihn vorher ausdiskutieren muss.«
Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange herum. Tatsächlich steht mein ganzer Körper unter Strom. Dad weiß nichts davon, wie nah Matt und ich uns tatsächlich stehen, doch er vermutet sicher etwas, denn so blöd ist er nicht. Ich hoffe nur, dass er Matts Ankunft nicht peinlicher macht, als sie ohnehin schon sein wird. Für sowas hat er nämlich ein Händchen.
Und da biegt Matt auch schon um die Ecke. Seine schwarze SHIELD-Uniform hat er gegen Jeans und T-Shirt getauscht, und die blonden Haare stehen in alle Richtungen ab. Über der Schulter trägt er einen Rucksack. Als er mich sieht, verziehen sich die sonst so ernsten Mundwinkel zu einem Lächeln. Ein Teil von mir wäre gerne auf ihn zugerannt, doch Dads Gegenwart und meine Würde halten mich davon ab. Es bleibt vorerst bei einer flüchtigen Umarmung. Meine Hände kribbeln bei dem Gedanken daran, Matt die unordentlichen Haare zurechtzustreichen.
Die Frau neben Matt hat die gleichen blonden Haare und die besorgten Augenbrauen. Mrs. Manson sieht ein wenig blass um die Nase aus, doch sie schüttelt Dads Hand mit einem gefassten Gesichtsausdruck.
»Nett, Sie wiederzusehen, Rita.«
Matts Mom lächelt, aber ich sehe ihr an, dass ihr ein weiteres Treffen mit Tony Stark lieber erspart geblieben wäre. Besonders unter diesen Umständen.
»Miss Hill hat Ihnen sicher alles erklärt«, fährt Dad fort. »Ihr Sohn wird hier in den besten Händen sein. Naja, sagen wir mal in den Zweitbesten.«
»Mir wäre es lieber, ihn in Sicherheit zu wissen«, sagt Mrs. Manson. »Ohne den ganzen Wirbel um Superkräfte und Heldentaten. Meinten Sie nicht, Sie könnten etwas gegen diese... gegen Matts Besonderheit tun?«
»Mom, wir haben das besprochen. Die Kräfte bleiben.« Beschwörend sieht der blonde Junge seine Mutter an. Ein Schatten huscht über ihr Gesicht.
Dad seufzt. »Hören Sie, Rita, wir können den Jungen zu nichts zwingen. Dieses Training ist eine Möglichkeit, etwas Kontrolle in die Sache reinzubringen. Ich zeig Ihnen Doctor Banners Untersuchungsergebnisse. Er selbst könnte es Ihnen sicher besser erklären, aber leider ist der gute Mann gerade... verreist.« Er eskortiert Mrs. Manson den Gang entlang, natürlich nicht ohne mir vorher noch den berühmten Stell-bloß-keinen-Unsinn-an-Blick zuzuwerfen.
Als die beiden Erwachsenen außer Sichtweite sind, schlinge ich meine Arme um Matts Oberkörper und vergrabe mein Gesicht an der Stelle, wo die Schulter in den Hals übergeht. Er legt sein Kinn auf meinem Kopf ab.
»Ich hab ihr gesagt, sie soll keine Szene machen«, sagt er, wobei jede Silbe in meinem Kopf vibriert.
»Wenn du das eine Szene machen nennst, dann warst du noch nie mit meinem Dad unterwegs.« Ich atme ein letztes Mal in Matts T-Shirt, dann ziehe ich meinen Kopf zurück. Auf diese Nähe kann ich ihm nicht in beide Augen gleichzeitig gucken, weshalb mein Blick zwischen seinen schokobraunen Sehorganen hin und her wandert.
»Sie wird sich damit abfinden müssen«, entscheidet er. »SHIELD war nichts für mich, aber bei den Avengers könnte ich gut aufgehoben sein.«
Seine kühle Stirn auf meiner Haut ist ein Segen. Matt ist wie meine persönliche, transportable Klimaanlage.
»Ich kann aber nicht immer herkommen«, murmele ich. »Wenn du dich allerdings, vielleicht auch nur ein paar Mal, ich weiß auch nicht, in den guten alten Tower teleportieren könntest...«
»Ich brauch erstmal ein wenig Eingewöhnungszeit.«
»Nein, du, mein Lieber Wonderboy, brauchst einen Kamm. Und zwar dringend.« Ich zupfe ein paar Strähne seines Haares zurecht.«
»Ach ja? Wie wäre es dir denn lieber?« Im Sekundentakt verändern sich Form und Farbe seiner Haare. »Rote Locken? Einen Irokesen? Dreadlocks? Schwarz und fettig?«
»Meine Lieblingsfarbe ist Rot«, greife ich unser kleines Faktenspiel erneut auf.
»Blau.« Matts Lippen nähern sich meinen, da räuspert sich jemand neben uns und wir fahren auseinander.
Es ist Wanda. »Der Captain will uns gleich sehen«, sagt sie mit dieser schwermütigen Miene, die sie seit dem Tod ihres Bruders nicht abgelegt hat.
Bei der Erinnerung an Pietros Tod macht sich ein klammes Gefühl in mir breit.
»Äh, ich komme«, sagt Matt mit hochrotem Kopf und kratzt sich verlegen am Nacken.
Ich presse peinlich berührt die Lippen aufeinander. Na gut, besser Wanda als Dad oder Matts Mutter.
Wanda hat sich nicht von der Stelle gerührt, und sieht uns beide aus geschminkten, traurigen Augen an. Matt hebt den Rucksack, den er neben sich auf dem Boden abgestellt hat, wieder auf und wirft sich ihn über die Schulter.
»Bis bald«, verabschiedet er sich von mir.
Bin ich traurig, dass ich keine Abschiedskuss bekommen habe? Vielleicht. Aber diesmal habe ich die Gewissheit, ihn wiedersehen zu werden. Und das ist gut so.
Mit Dad war ausgemacht, dass ich ihn vor der New Avengers Facility wiedertreffen würde, sobald wir unsere Angelegenheiten geregelt hätten. Als ich vor der Garageneinfahrt eintreffe, unterhält er sich noch mit Steve. Letzterer trägt, wie so oft in letzter Zeit, seinen Captain America Anzug.
»Du wirst mir fehlen, Tony«, höre ich ihn schon von Weitem sagen. Rührend. Aus der Garage fährt der lautlose Sportwagen und kommt vor den beiden zum Halt.
»Naja, ich muss mich erstmal ausklinken. Vielleicht sollte ich mir 'ne Scheibe von Barton abschneiden, Pepper 'ne Farm bauen und hoffen, dass sie keiner in die Luft jagt.«
»Das einfache Leben.«
»Wirst du auch mal haben.«
»Ich weiß nicht, Familie, Stabilität. Der Kerl, der das alles wollte, liegt seit fünfundsiebzig Jahren auf Eis. Rausgekommen ist ein anderer.«
Ich klopfe auf das Dach des Autos, um mich bemerkbar zu machen. »Hi Steve.«
Er nickt mir zu, nicht ganz so genervt wie sonst immer.
Dad öffnet die Fahrertür. Bevor er einsteigt, wendet er sich ein letztes Mal an Steve. »Kommst du klar?«
»Ich bin zu Haus.«
Viele Geschichten beginnen mit ihrem Ende. Aber enden sie auch mit einem Anfang? Einem neuen Anfang? Als wäre alles, was vorher geschehen ist, nie passiert? Man kann Geschehenes nicht rückgängig machen, oder es aus dem Gedächtnis löschen. Vielleicht muss man das auch gar nicht. Egal ob gut oder schlecht, Erinnerungen bleiben. Aus Fehlern lernt man.
Wir haben Verluste erlitten. Ängste durchlebt. Und was haben wir dazugewonnen? Die Avengers haben die Welt erneut gerettet, doch diesmal ist es anders. Die Folgen sind anders. Die Menschheit beginnt, anders über die Helden zu denken, die die eigentliche Aufgabe haben, sie vor derlei Gefahren zu beschützen.
Vielleicht können die Avengers das nicht. Vielleicht waren sie nie dazu bestimmt. Aber sie werden die Welt rächen, komme was wolle. Und wie wollen sie das anstellen?
Naja, eben so, wie der alte Mann gesagt hat.
Gemeinsam.
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