21 | Judy | another place
-
Als ich aus einem traumlosen Schlaf aufwache, sitzt Pepper auf einem Stuhl neben mir und liest in einer Zeitschrift.
»Wo ist Dad?«, frage ich mit kratziger Stimme. Ich huste einmal und stütze mich auf die Ellenbogen.
»Ich habe angedroht, ihm eine von Banners Spritzen zu verpassen, wenn er sich nicht bald ausruht.«
»So schlimm, ja?« Ich presse mir die Handballen auf die Augen, dann sehe mich um. Ich liege nicht in meinem Zimmer, aber auch nicht in einem typischen Krankenhauszimmer. Das muss wohl einer der Räume auf der Gästetage sein. Wie lange habe ich geschlafen? Wenigstens konnte ich es, ganz ohne die irreführenden Illusionen.
Pepper klappt die Zeitschrift zu und schwenkt mit einer kleinen Kopfbewegung ihre rotblonden Haare über die Schulter. »Er ist beinahe durchgedreht. Ich habe ihm gesagt, er soll sich keine Sorgen machen, aber hätte ich gewusst, in welchen Schwierigkeiten du steckst, hätte ich ihn schon viel früher nach dir suchen lassen.«
»Tut mir leid«, murmele ich. Ich habe das Gefühl, dass ich das bis jetzt schon viel zu oft gesagt habe, und es wohl auch in näherer Zukunft noch öfter tun muss.
»Judy, alles ist gut.« Sie streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Naja, eigentlich nicht; nicht solange ihr beide mit diesen riskanten Aktionen weitermacht.«
»Aber er hatte recht, kannst du dir das vorstellen? Die ganze Sache mit... mit Nicholsons Sohn.«
»Da hatte er wohl das richtige Gespür. Vor allem, weil es dabei um dich ging.«
Ich lasse mich wieder in das Kissen sinken. »Ich sollte wohl öfter auf seine weisen Ratschläge hören«, sage ich trocken. Ich sehe Pepper an, und fange an zu lachen. Sie lacht ebenfalls, und ein wohliges Gefühl der Geborgenheit macht sich in mir breit. Die Ereignisse in der HYDRA-Basis sind Vergangenheit.
Banner stellt ein paar Untersuchungen mit mir an, und glücklicherweise kann er die Strahlung in mir teilweise neutralisieren. Für eine langfristige Heilung muss er noch ein wenig weiterforschen, aber mit Dads Hilfe (der ohne Pause daran arbeiten wird), sollte es nicht lange dauern, bis ich wieder komplett fit bin. Auch die anderen werden medizinisch versorgt, allerdings ist es bei ihnen noch anders mit der Strahlung.
Fehlt nur noch eins. Oder besser gesagt, einer.
Nachdem ich zwei Tage lang nur rumgelegen oder Geige gespielt habe, mich dreimal rausgeschlichen und unter schärfster Verwarnung wieder ins Bett zurückgescheucht wurde, bekomme ich Besuch. Er klopft nicht einmal an die Tür, er schiebt nur seinen Kopf durch den offenen Türspalt.
»Hey.«
»Hey.« Pause. »Hätt' nicht gedacht, dass du mich besuchen kommst.« Ich setze mich aufrechter hin.
Matt geht einen Schritt näher an das Bett heran und deutet auf die Blumen in seiner Hand. »War eigentlich die Idee meiner Mom. Die hier auch, übrigens. Ich wusste nicht, welche du magst, also...« Er räuspert sich verlegen und legt den Strauß auf dem Nachttisch ab. Sonnenblumen.
»Eigentlich mag ich keine Blumen, aber... die sind echt hübsch.«
Eine Pause entsteht.
Ich schwinge meine Beine vom Bett und lasse sie baumeln. »Hör zu, das, was da in dieser Basis passiert ist - vielleicht können wir einfach...«
»Es vergessen?«, bietet Matt mir an. »Also nicht alles, meine ich«, schiebt er schnell hinterher.
Ich nicke zögernd und starre auf meine bunten Socken. Ich denke an unsere Umarmung zurück, die eine Ewigkeit her zu sein scheint. Es wäre dumm, da mehr hinein zu interpretieren als es war. Ich stand quasi unter Drogen, wir waren beide komplett erledigt und adrenalingeladen. »Wo warst du, nachdem du mich da rausgeholt hast?«
Er schweigt betreten. »Ich bin nach Hause.«
»Ohne Tschüss zu sagen? Ohne eine Nachricht à la ›Hey, mir geht's übrigens bestens, ich wurde nicht wiederholt gekidnappt; wie geht's eigentlich dir, hab gehört du wurdest fast von der gleichen Strahlung getötet, die aus mir 'nen Superhelden gemacht hat‹? Da kam nichts, Matt, und ich - ich hab mich nur gewundert, wo du steckst.« Ich habe mir Sorgen gemacht, wäre vielleicht ein wenig zu dramatisch.
Er reibt sich den Nacken, sieht erst aus dem Fenster auf die Skyline New Yorks, und dann wieder zu mir. »Judy, weißt du... diese Visionen, die ich hatte - ich hab dir nicht alles erzählt. Die abstürzenden Helicarrier waren nicht die einzigen Bilder, die sich immer wieder in meinem Kopf abgespielt haben. Da waren auch mehrere von - von dir. Zuerst auf der Gala im Avengers Tower. Dann die Nacht am Lagerfeuer, erinnerst du dich? Und die letzte - wie du da auf dem Boden lagst, in dem dunklen Raum in der HYDRA-Basis. Ich hätte ahnen müssen, dass das passiert, alle Visionen sind genauso eingetreten, wie ich sie vorhergesehen habe, aber diesmal... es konnte einfach nicht stimmen. Deswegen habe ich versucht, sie zu verdrängen.«
Matts Worte kommen wie verzögert bei mir an. »Warte du meinst... du meinst es war deine Schuld, dass sie mich geschnappt haben?«
Er hebt hilflos die Schultern. Auf einmal ist er ganz anders als der Matthew, der in der Basis so furchtlos gegen die Agenten gekämpft hat, der eine Rettungsmission angeführt hat, der sich in Lebensgefahr begeben hat - aber wieso?
»Matt, warum hast du uns geholfen? Mir und den anderen Teenagern. Du wolltest deine Kräfte behalten - willst du doch immer noch, oder?« Diese Visionen haben doch erst dazu geführt, dass wir den ganzen Plan umsetzen konnte.
Er überwindet seine innere Unruhe und lässt sich neben mich auf das Bett sinken. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es echt nicht.« Er starrt auf seine Hände. »Willst du wissen, was in der Basis passiert ist? Was ich getan habe? Verdammt, Judy, ich habe jemanden umgebracht. Und nicht nur eine Person, sondern gleich drei, wenn man den Mann im Sägewerk mitzählt. Und das Schlimme ist, es fühlte sich richtig an. Auf irgendeine Weise. Das tut es immer noch. Diese Leute haben viel mehr auf dem Gewissen als ich.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Normalerweise würde ich einen sarkastischen Kommentar dazu abgeben, vielleicht sollte ich das sogar, um die Situation aufzulockern, aber ich weiß, dass Matt diese Bemerkungen tierisch aufregen. Und das braucht er jetzt gerade nicht. Also bleibe ich stumm, was mir schwerfällt, und warte, bis er weiterredet.
»Die anderen - Cass, Zach, Marcelo und Alyssa, und auch die anderen vier, die in der Basis gefangen waren, sie verdienten das einfach nicht. Es war falsch, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Ich war dabei, bei HYDRA. Diese Leute glauben an all das, an den ganzen Scheiß mit der Freiheit der Menschheit und der neuen Weltordnung. Sie werden nicht aufhören damit. Diese Basis, das war nur ein kleiner Teil.«
»Aber dieses Dutzend Teenager, denen du geholfen hast, war doch ein guter Anfang. Macht sich bestimmt gut auf deinem Lebenslauf. Falls du mal SHIELD-Agent werden willst.« Moment, SHIELD existiert ja gar nicht mehr. »Oder Special Agent beim FBI«, füge ich hinzu.
Matt neigt seinen Kopf zur Seite und sieht mich an. »Du kannst es auch echt nicht lassen, oder?«
»Was denn?« Verdammt, ich hab es schon wieder getan. Aber Matt scheint mir wegen diesem Kommentar nicht besonders böse zu sein.
»Diese - ach egal.«
»Ne, sag mal.«
»Du weißt genau, wovon ich rede.«
»Woher denn, kann ich etwa Gedanken lesen?« Ich grinse ihn an. Was zur Hölle tue ich schon wieder? Er textet mich mit seinen Problemen zu, und ich gebe sehr hilfreiche Antworten, toll gemacht. Ich räuspere mich. »Also, soweit ich weiß haben sich Alyssa und Zach dazu entschieden, die Kräfte loszuwerden. Doctor Banner arbeitet da an einem Mittel. Dauert wahrscheinlich noch eine Weile, aber danach werden sie wieder normal sein. Banner kann das jederzeit wiederholen. Nur falls du... naja.«
»Ich überleg's mir«, sagt Matt langsam nickend. Sein Blick ist auf die Tür geheftet. Anders als während unserer Reise sind seine Haare jetzt wieder glatt und frisch gewaschen. Dabei fand ich die leichten Locken gar nicht mal so übel. Ich spüre, wie die Matratze unter seinem Gewicht einsinkt und mich deshalb um wenige Grad in seine Richtung neigt. Ich spüre die Wärme, die von ihm ausgeht, anders als in der Basis. Ist das noch ein Zeichen dafür, dass er jetzt anders ist? Und trotzdem möchte ich ihn nochmal umarmen. Diesen Matt, in dem grünen T-Shirt und den tiefbraunen Augen. Und nicht den furchtlosen Helden, der die HYDRA bezwungen hat. Vorsichtig lehne ich meine Schulter an seine, und als er nicht zurückweicht, legt sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen.
»Weißt du...«, sage ich und muss noch breiter grinsen, »Ich muss gerade dran denken, wie du dich kaum in gestohlenen Truck hieven konntest, aber es geschafft hast, in ein supergeheimes HYDRA-Gebäude einzubrechen.«
»Der fuhr mindestens dreißig Meilen pro Stunde«, rechtfertigt sich Matt. »Und außerdem um eine Kurve.«
»Das ist eine richtig lausige Ausrede.«
»Du könntest dich auch einfach bedanken.«
Ich lasse mich vom Bett gleiten. Der Boden unter meinen Socken ist warm. »Da gibt es noch mehr Leute, die dir bestimmt danken wollen.«
Ich habe mich jetzt drei ganze Tage lang ausgeruht, außerdem will ich die anderen sehen. Sie wurden ebenfalls in Quarantäne-Räume gesteckt, jedenfalls hat mir das Dad erzählt, wenn er mich besucht hat. Also quasi die ganze Zeit. Kurz bevor Matt gekommen ist, hat er sich in die Labore abgesetzt. Ich hoffe, dort sowohl ihn als auch ein paar der anderen Teens zu finden.
Alyssa entdeckt mich zuerst. Sie sitzt auf einer Liege und winkt mir zu. Ihr Arm ist an irgendeinem Gerät angeschlossen. Ich drücke die Glastür auf, denn Dad hat die Sicherheitscodes für einige Zeit außer Kraft gesetzt, jetzt, wo ich nicht mehr Gefahr laufe, seine geheimen Projekte aufzudecken.
»Matt, schön, dass du dich auch wieder blicken lässt.« Zach lehnt an der Wand auf der Liege gegenüber der von Alyssa.
»Sorry, ich hatte Dinge zu erledigen.«
»Was für Dinge?«
»Dinge«, antworte ich für Matt und halte Ausschau nach Banner. »Wo ist der Doc?«
»Nebenan. Bespricht irgendwas mit Cass, Marcelo und Xander. Du weißt schon, der eine Typ, den wir gerettet haben.« Zach nickt in Richtung Matt. »Oder eher, den du gerettet hast. Mann, die ganze Aktion war so abgefahren! Wie du die alle platt gemacht hast!«
Matts Gesichtsausdruck verhärtet sich kaum merklich.
Ich stupse ihn an. »Du darfst das Lob ruhig annehmen.«
»Ich schätze mal das war ein paar schwierige Tage für uns alle. Wir waren ein gutes Team.«
»Auch wenn das Zusammenhalten im Sinne von Zusammenbleiben nicht ganz funktioniert hat«, merke ich an. Die Tür zum Nebenraum öffnet sich, und heraus kommt Dad.
»Küken, ganz ehrlich, der Tag, an dem du auf mich hörst, wird in die Geschichte eingehen«, sagt er als er mich sieht und seufzt tief.
»Das waren jetzt drei Tage. Außerdem ist Matt aufgetaucht.« Ich ziehe ihn nach vorne, sodass er sich nicht schon wieder verstecken kann.
»Der Wunderjunge.« Dad mustert ihn eine Sekunde lang, dann legt er ihm eine Hand auf den Rücken und schiebt ihn in Richtung Glastür, die in Dads Werkstatt hinüberführt. »Ich entführe ihn nur mal kurz.«
Hoffentlich bringt er ihn in einem Stück zurück. Der Blick, den er Matt zugeworfen hat, sah nicht gerade väterlich aus. Aus der jetzt offenen Tür höre ich Cass' Stimme, also betrete ich den Raum. Die drei Teenager sitzen auf bequemen Stühlen und verfolgen Banners Ausführungen, die von Bildern und Texten auf Holobildschirmen unterstützt werden. Ich schnappe mir einen Stuhl, ziehe ihn neben Cass und lasse mich verkehrtherum auf die Rückenlehne gestützt darauf nieder.
»Worum geht's?«, flüstere ich Cass zu.
»Doctor Banner erzählt uns was von unseren Kräften. Wo sie herkommen. Welche Risiken und Nebenwirkungen auf uns warten, wenn wir sie behalten.«
»Ziehst du das durch?«, frage ich sie.
»Na klar. Weißt du, wie abgefahren die sind? Und wenn ich erst anfange, zu trainieren?«
»Pscht!«, macht der dunkelhäutige Junge, offensichtlich Xander, und wirft mir einen finsteren Blick zu.
Das ist ja wie in der Schule. Banner unterrichtet seine - zugegebenermaßen sehr kleine - Klasse über die Veränderung von Neuronenstrukturen des Gehirns durch Gammastrahlung. Keiner macht sich Notizen, und ich habe das Gefühl, dass sowohl Marcelo als auch Cass nur halbherzig zuhören.
»Noch Fragen?«, fragt Banner, als er mit seinem Vortrag fertig ist.
Cass meldet sich. »Äh ja. Wie soll ich zu wöchentlichen Untersuchungen nach New York kommen, wenn ich in Atlanta wohne?«
»Tja, also, da müssten wir uns was einfallen lassen«, murmelt er und schiebt seine Brille hoch.
»Du kannst hier bei uns wohnen«, biete ich an.
»Oh nein, das kommt gar nicht in Frage«, sagt Dad. Ich habe gar nicht bemerkt, wie er reingekommen ist, aber so wie's aussieht lehnt er schon länger an der Wand neben der Tür. Matt ist nicht bei ihm. Na super. Hat er ihn etwa verscheucht? »Niemand bleibt hier wohnen. Bei aller Liebe, aber eine Zuflucht für genmanipulierte Teenager sind wir nicht.«
»Wäre vielleicht 'ne gute Idee, mal sowas zu gründen. Falls es noch mehr von uns gibt.« Cass kramt ihr Handy aus der Jackentasche. »Falls HYDRA noch mehr Experimente am Start hat.«
»Niemand weiß, ob es noch mehr solcher Projekte gibt.« Der Junge namens Xander lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er hat ein finster-wirkendes Gesicht mit senkrechten Falten zwischen den Augenbrauen. Ich weiß immer noch nichts über seine Fähigkeiten. Vielleicht kann er ja Leute mit einem Blick töten.
»Denkbar wär's«, sagt Banner. Er schließt die Schnallen an dem metallenen Koffer, der den Projekter beinhaltet. »Es heißt, sie konzentrieren sich, jetzt nach dem Fall von SHIELD, eher auf ihre Stützpunkte Europa.«
»Und du willst wirklich zurückfliegen?«, frage ich und drehe meinen Kopf nach links.
Die Aufmerksamkeit legt sich nun auf Marcelo, der allerdings ziemlich entspannt aussieht. »Dort ist meine Heimat. Und ich habe meine Kräfte unter Kontrolle, das werde ich. Mein Flug geht in ein paar Stunden.«
»Bruce, halten Sie das wirklich für eine gute Idee?« Dad lehnt immer noch in der Tür, macht dem Doctor aber Platz, als dieser in die andere Hälfte seines Labors geht, um Alyssa und Zach zu überwachen.
»Wir können sie hier nicht festhalten, Tony.«
»Ja, aber was, wenn er dort irgendwas in die Luft fliegen lässt?«
»Das Risiko ist hier genauso hoch. Außerdem könnte das jeder.«
Auch wenn ich gerade aus dem Fenster schaue weiß ich, das Dad mich anguckt. Dabei brauch er sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Nochmal ziehe ich so eine Aktion bestimmt nicht durch. Nicht so unvorbereitet jedenfalls.
»Küken, da gibt es noch etwas über die Strahlung, was du wissen solltest«, sagt Dad als wir die beiden letzten im Raum sind. »Sie kommt vom Tesserakt, und du weißt ja, was der angerichtet hat.«
Ich denke an die Schlacht von New York zurück. »War kein Strandspaziergang.«
»Aber Banner hat auch die Theorie, dass Lokis Zepter etwas damit zu tun haben könnte. Und das ist zufälligerweise unauffindbar seit dem Fall von SHIELD.«
»Du denkst HYDRA hat es?«
»Das hast du jetzt gesagt, aber ja, davon gehen wir aus. Die ganzen Wunderkinder hier haben die Experimente nur überlebt, weil ihre DNA mit der Strahlung kompatibel war.«
»War ich es? Hätte ich Superkräfte haben können?« Die Vorstellung klingt verlockend - trotz der ganzen Nebeneffekte, die Banner gerade aufgezählt hat.
»Das war - Judy, das war das Problem, du bist es eben nicht. Trotzdem, diese Menge an Gammastrahlung hätte dich töten können. Wir hatten großes Glück.« Er zerwirrt meine Haare und umarmt mich.
»Dad, das haben wir schon hinter uns«, nuschele ich und entziehe mich der Geste. »Du bist ganz schön sentimental in letzter Zeit. Was hast du eigentlich mit Matt besprochen?«
»Ist das jetzt verboten?«
»Nein, ich meine nur, dass er schon wieder weg ist, genauso wie beim letzten Mal, falls du dich erinnerst.«
»Wenn es dich so brennend interessiert, frag ihn doch einfach.«
»Dad«, sage ich mit Nachdruck.
Etwas piept und Dad zieht ein Gerät aus seiner Hosentasche. »Sorry Küken, die Pflicht ruft.«
»Hey!« Ich wette, er hat dieses Gerät nur entwickelt, um sich Geprächen entziehen zu können. Eigentlich eine gute Idee. Das werde ich mal umsetzen.
Matt ist doch nicht verschwunden, er sitzt vor dem Labor auf den Glasstufen. Dort saß ich auch mit Brooklyn. Diesen Gedanken abschüttelnd setze ich mich neben ihn.
»Und? Was wollte mein Dad von dir?«
»Also zuerst war er irgendwie verärgert, dann aber doch dankbar. Also direkt danke hat er nicht gesagt, aber wenigstens gibt er mir nicht mehr die Schuld an dem Ganzen. Denke ich zumindest. Die erwarten mich auch zu dem Training, aber ich glaube, die Zeiten habe ich hinter mir.« Er greift in die Tasche seiner Jeansjacke und hält mir ewas hin. »Du solltest dein Zeug nicht überall rumliegen lassen. Vor allem nicht in dunklen Wäldern.«
»Meine Brille«, sage ich ehrlich überrascht. Die Gläser sind staubig und von Fingerabdrücken übersät, aber sonst intakt. »Wow, danke.« Ich setze sie probehalber auf und Tess' Stimme wird summend in meinem Ohr zum Leben erweckt.
»Schön, wieder hier zu sein.«
Ich grinse. »Ja, das finde ich auch.«
Matt steht auf. »Also dann... Ich gehe mal besser. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.«
Ganz bestimmt, denke ich, und gleichzeitig hoffe ich es. Er steigt eine Treppenstufe hinunter. Dann noch eine. Soll ich ihn zum Abschied umarmen? Oder lieber nicht? Wäre das zu merkwürdig? Während ich noch viel zu lange überlege ist Matt schon unten angekommen. Du hast es Mal wieder vermasselt, Judy.
Doch am Fuße der Treppe dreht sich Matt noch einmal um und wirft mir ein vages Lächeln zu, und ich kann nicht anders als zurückgrinsen.
♦
Marcelo fliegt noch am gleichen Abend zurück nach Italien. Alyssa und Zach werden für Banners letzte Untersuchung in abgetrennte Räume gebracht. Wo Xander hin ist, weiß ich nicht, aber auch Cass muss zurück nach Hause.
»Hast du dir schon eine Geschichte für deine Eltern ausgedacht?«, frage ich sie.
Sie verstaut ihre letzten Sachen in ihrem mitgenommen aussehenden Rucksack. »Ein Praktikum.«
»Last Minute? In New York?«
»Vielleicht. Dein Dad meinte er denkt sich was aus für die Untersuchungen. Vielleicht schickt er jede Woche einen Jet, das wäre abgefahren.«
Wir gehen zum Fahrstuhl, der zunächst Cass in die Lobby, und dann mich zurück auf unsere Wohnetage bringen soll. »Sag mal, was war eigentlich zwischen dir und Zach?«, frage ich neugierig. Von Anfang an hat sie vorgegeben, ihn nicht leiden zu können, aber spätestens die Fahrt im gestohlenen Pickup hat gegenteiliges verraten.
»Was soll schon sein? Ich bin dem Idioten hinterhergelaufen, als wir so schnell wie möglich fliehen sollten und wurde getastert, aber hey, wenigstens hat er jetzt die Möglichkeit das alles loszuwerden und mich nie wieder sehen zu müssen.«
Ich ziehe beide Augenbrauen hoch. »Du bist wütend? Auf Zach? Weil er seine Kräfte nicht behalten will?«
»Wir wohnen mindestens zweihundert Meilen voneinander entfernt. Bei den Trainingseinheiten hätten wir uns zumindest häufiger gesehen.« Cass schüttelt den Kopf und verlagert das Gewicht des Rucksacks auf die andere Schulter. »Wie auch immer, das hätte eh keinen Bestand, also kann ich es genauso gut lassen.«
Mit einem Pling hält der Fahrstuhl vor uns.
»Sekunde...« Ich steige mit in die Kabine, weil ich das Gespräch jetzt unmöglich beenden kann. »Rede mal Klartext. Du und Zach... Du könntest dir also was zwischen euch vorstellen?«
»Konnte«, verbessert sie mich. »Und wehe du versuchst jetzt, uns weiter zu verkuppeln.«
»Naja, 'nen Versuch war's wert.«
Die Lobby ist beinahe leer, sogar Mrs. Clark ist schon gegangen. Ein riesiger Plasmabildschirm zeigt Nachrichten von CNN, die sich in der Glasfassade gegenüber spiegeln. Die Schatten der Wolkenkratzer werden immer länger, als sich der Abend über New York legt und die Stadt vom Feierabendverkehr heimgesucht wird. Auf einem der Sofas im Wartebereich sitzt eine einsame Gestalt. Sie sitzt mit dem Rücken zu uns, aber ich erkenne sie sofort. Damit Cass es nicht tut, verdecke ich ihr die Sicht auf dem Weg nach draußen.
»Also dann, wir sehen uns. Oder vielleicht auch nicht, überlassen wir das dem Zufall.« Sie dreht ihren Kopf gen Himmel, dann kneift sie die Augen zusammen und sieht die Straße entlang. Sie winkt ein Taxi heran.
»Zufall, genau«, sage ich. »Statistisch gesehen gibt es keine Zufälle.«
»Also waren unsere ganzen Erlebnisse nur eine Reihe statistisch gesehen komplett legitimer Wahrscheinlichkeiten?«
»Ganz genau.« Ich winke ihr hinterher, als sie in ein Taxi steigt, dass sie zum Flughafen bringen wird. Sobald dieses außer Sichtweite ist, gehe ich schnellen Schrittes zurück in die Lobby, um die wartende Person ausfindig zu machen.
Ich schlendere zum Wartebereich und bleibe direkt hinter ihr stehen. »Bin ich hier richtig bei den Leuten, die vorgeben jemand anderes zu sein?«
Melissa - für mich bleibt sie jetzt einfach Melissa - dreht sich im Sessel um und wirft mir einen fragenden Blick zu. »Gute Frage. Wer bin ich denn?«
»Eine Studentin im Auslandssemester?«, rate ich. »Eine Festival-Gängerin? Oder doch eine Agentin?«
»Ein Secret Service Agent. Und eigentlich darfst du das gar nicht wissen.« Sie klopft auf das Sofa ihr gegenüber. »Komm, setz dich.«
»Im Prinzip wohne ich hier, also darf ich überall sitzen, wo ich will.« Ich lasse mich in das weiche Leder sinken. Die Frau mir gegenüber sieht aus wie die Melissa vor drei Jahren. Der gleiche braune Fransenpony, die gleichen blau-grünen Augen, die von alleine zu Grinsen scheinen. »Okay dann, schieß mal los. Ich bräuchte eine Menge Erklärungen.«
»Tja, wo soll ich anfangen?«
»Zunächst mal - wieso hast du mich damals in L.A. zu meinem Dad gebracht, und warum hast du mir danach geholfen? Und was hatte Will damit zu tun? Woher kennt ihr euch, wenn du keine befreundete Studentin bist?«
Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück und sieht mich aus blitzenden Augen an. »Weißt du, was das MI6 macht?«
Ich schüttele den Kopf.
»Wir sind für Einsätze im Ausland tätig, die das britische Königreich direkt betreffen.«
»Ich fühl mich geehrt. Was auch immer das mit mir zu tun hat.«
Melissa lehnt sich nach vorne und senkt ihre Stimme. »Judy, ich weiß, dass du wahrscheinlich nicht darüber reden willst, aber ich muss dich das fragen: Wie ist deine Mutter gestorben?«
Ich kralle meine Finger in die Sitzlehne. »Wieso?«
»Was ich dir jetzt sage, ist streng vertraulich, und ich sage dir das nur, weil ich denke, dass wir uns gegenseitig helfen können.« Sie sieht hinter sich. »Ich breche hiermit bestimmt einen Haufen Regeln, aber jetzt, wo ich mich hochgearbeitet habe, habe ich sowieso nichts mehr zu verlieren. Dieser Auftrag ist sehr wichtig für mich. Du hast Melissa Sard nie getroffen. Will und deine Großtante - die wussten nichts von mir.«
»Du - was?« Ich bin komplett verwirrt. Wenn es nicht Wills Freundin war, die mich vom Flughafen abgeholt hat, wer dann? Klar, die Agentin die hier vor mir sitzt, aber wieso? »Ich verstehe echt nur Bahnhof.«
»Ich bin an etwas dran. Etwas großem. Und deshalb muss ich alles über deine Mutter wissen.«
»Stopp.« Ich hole tief Luft. »Du willst mir erzählen, dass der Tod meiner Mum von Relevanz für den britischen Geheimdienst ist?«
»Es ist kompliziert.«
»Oh ja, das sehe ich. Aber leider auch nicht mehr.«
»Du weißt, dass es kein Autounfall war.«
Ich zögere. Sie hat mich durchschaut. »Ja. Ich denke - ich denke das war ein Auftragsmord. Und zwar von... Also eine Bekannte von mir hat mich gebeten, den Unfall ihrer Familie zu überprüfen. Und dabei habe ich etwas gefunden. Sie wurden umgebracht. Die Daten waren verschlüsselt, aber nach SHIELDs Fall habe ich einige retten können. Auch welche über Mums Tod.«
Melissa nickt und holt ein kleines Gerät aus ihrer Tasche. »Diese Daten hat mein Team auch gefunden.«
»Auf den Videos und Bildern war eine Frau zu sehen. Ich konnte sie nicht erkennen.«
»Irgendeine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
Ich starre auf meine Hände. Die ganzen Bilder kehren wieder. Diese kalten Augen. »Ich - ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der Mum umbringen wollte. Wieso würde jemand sowas tun?«
»Genau das versuche ich herauszufinden.«
»Weißt du noch mehr? Über Mum? Kanntest du sie?« Keine Ahnung, wie alt sie ist. Damals habe ich sie auf Anfang Zwanzig geschätzt, aber sie könnte genauso gut schon über Dreißig sein.
»Judy, ich habe dir schon so viel erzählt. Zu viel. Tut mir leid.«
»Du willst Mums Tod aufklären. Und dafür brauchst du mich. Das alles hier basiert auf Gegenseitigkeit. Ich würde das garantiert auch alleine herausfinden, glaub mir, darin bin ich gut.« Die Frage ist nur, ob ich das überhaupt will. Jetzt, wo mir Melissa diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, kann ich nicht einfach mit diesen Bruchstücken leben.
Die Agentin steht auf. Sie schnippt ein Stück Papier über den Glastisch auf mich zu. Es ist eine Stark Industries Visitenkarte. Ich drehe sie um. Auf der Rückseite ist eine Telefonnummer draufgekritzelt.
»Ruf mich jederzeit an. Aber achte auf eine sichere Leitung.« Sie zwinkert mir zu, schnappt sich ihre Umhängetasche und verschwindet aus dem Haupteingang.
Ich bleibe sitzen, alleine in der großen Lobby. Mein Blick wandert zur Decke. Eine Konstruktion aus dünnen Stahldrähten und Glasscheiben fängt das letzte Sonnenlicht ein und wirft Flecken davon auf den Boden vor mir. Ein Strahl erleuchtet die Visitenkarte vor mir, wie ein merkwürdiges Omen. Aber gemessen daran, was in der letzten Zeit passiert ist, grenzt es beinahe an normal.
---
Entschuldigt die Verspätung, aber ich musste alles an meinem Handy tippen, und das macht sich echt beschissen. 😅
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro