12 | Judy | preparations
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Matts Pfadfindersinne führen noch zwei Stunden lang durch den Wald, bis wir auf eine asphaltierte Straße stoßen. Wir halten uns am Rand, damit Matt sich bei einem Notfall hinter die Sträucher werfen kann, um nicht entdeckt zu werden. Das hat er zwar nicht direkt so gesagt, aber für mich klang seine Erklärung so. Die meiste Zeit schweigen wir, was hauptsächlich daran liegt, dass jegliche Gesprächsanfänge meinerseits von ihm abgeblockt werden. Deshalb lasse ich es einfach.
Ich habe zwei entgangene Anrufe von Dad. Er wird wissen wollen, wo ich bin. Normalerweise sage ich selten Bescheid, und bin dann spätestens am Abend wieder zu Hause. Heute nicht.
Am Nachmittag erreichen wir die Kleinstadt Somesville. Endlich. Ich dachte schon, wir hätten im Wald übernachten müssen. Meine Füße protestieren schon seit einer Weile, und die Inliner waren aufgrund des unebenen Waldbodens natürlich nicht zu gebrauchen. Matt reibt sich die Schläfen. Seit wir das Felsplateau überwunden haben, verhält er sich merkwürdig. Vorher war er auch schon relativ schweigsam, aber die letzte Etappe unserer Wanderung scheint er komplett in sich gekehrt zurückgelegt zu haben. Davor war er natürlich auch schon schräg. Und schweigsam. Naja, bis auf die paar Momente, in denen er halb ausgeflippt ist.
Kurz bevor wir die ersten Häuser erreichen, holt Matt eine grüne Beanie aus seinem Rucksack und setzt sie auf seine blonden Haare.
»Bist du jetzt undercover?«, frage ich.
»Man kann nie vorsichtig genug sein.«
»Es ist Sommer. Da trägt niemand Mützen.« An einem Stadtplan bleibe ich stehen und halte Matt am Ärmel fest, damit er nicht ohne mich weitergeht. »Ich bin dafür wir gehen in das Café dort«, schlage ich vor und deute auf ein Gebäude in der Mitte. »Dort können wir unser weiteres Vorgehen planen. Den Schlachtplan erstellen, wie du es nennen würdest.«
»Okay«, stimmt Matt mir überraschenderweise zu. »Wieviel Geld hast du dabei?«
Ich sehe in meinem Portemonnaie nach. »Etwas mehr als dreihundert Dollar. Du?«
»Dreihundert Dollar? In bar?«
»Meine Geldkarte zu benutzen, ist zu gefährlich. Viel zu leicht zu orten. Aber es müsste reichen, für 'nen Tee sowieso. Trinkst du Kaffee?«
Er verzieht die Mundwinkel. »Eher nicht. Nur, wenn ich wach bleiben muss.«
»Ist das gerade der Fall?« Wir setzen uns in Bewegung.
»Allerdings.«
Das Café ist nicht zu klein und nicht zu groß, und sehr gemütlich eingerichtet. Die Tische sind fast alle besetzt. Matt und ich verziehen uns an einen Tisch in der Ecke. Er wählt den Stuhl mit Blick aus dem Fenster. Ich ahne es schon, er wird die ganze Zeit paranoid auf die Straße starren. Wir bestellen zwei Latte Macchiato und ich platziere mein Notebook vor mir auf dem runden Tisch. Ich nehme einen Schluck meines Getränks, stelle fest, dass ich Kaffee immer noch nicht ausstehen kann, und tippe an den Rand meiner Brille.
»Okay... Tess? Zeig mir die heruntergeladenen Dateien.« Sofort wird der Bildschirm mit Informationen überschwemmt. »Ist das alles?«
»Alle SHIELD und HYDRA Daten wurden mittlerweile aus dem Internet genommen.«
Also habe ich nur das hier als einzige Informationsquelle. Einen weiteren Hack-Versuch kann ich nicht starten, ich wüsste nicht wo, jetzt da SHIELD zerstört wurde. »Leg die Sache mit dem 2. Februar erstmal in den Hintergrund. Und starte eine Suche nach Matthew Manson.«
Als er seinen Namen hört, sieht er von der Straße auf. »Was ist?«
Ich winke ab und konzentriere mich auf die Ergebnisse. »Du hast tatsächlich 'ne Akte. Hab ich noch nicht geschafft. Hübsches Bild. Aber nichts, was wir nicht schon wüssten.« Name, Geburtsdatum - ich stelle fest, dass er fast drei Monate jünger ist als ich, was mir ein kleines Gefühl der Genugtuung gibt - Wohnort, ärztliche Befunde und so weiter. Und natürlich seine Superkräfte, die hier unter ›besondere Merkmale‹ vermerkt sind. »Sag mal, wie genau hast du das-« Ich deute mit meinem Löffel auf ihn »-eigentlich bekommen? Und setzt du bitte diese dämliche Mütze ab? Hier drin erkennt uns eh keiner.«
Widerstrebend legt Matt seine Verkleidung neben sein Glas auf den Tisch. Dann knetet er wieder seine Hände. »Da gibt's nicht viel zu sagen. Ich war Basketballspielen, mit ein paar Kumpels. Dann sollte ich den Ball holen. Und da lag dieser Stein auf dem Boden, wenn es ein Stein war-«
»Wie sah der aus?«, frage ich, bereit, es in mein Notebook zu tippen.
»Er war blau. Und hat geleuchtet. Aber in so einem unheimlichen Licht. Als wäre es nicht von dieser Welt, sondern...«
»Außerirdisch?«, biete ich an. Ich drehe das Notebook zu ihm. »So wie der hier?«
Beim Anblick des Tesserakts nickt Matt langsam. »Ja. Was... was ist das?«
»Das, Wonderboy, ist der Tesserakt. Ein außerirdisches Objekt, eine sehr starke Energiequelle, um genau zu sein, was die Ereignisse in New York verursacht hat. Doch jetzt müsste er in Asgard sein.« Ich öffne die Datei mit den Tesserakt-Projekten. Die Dokumente mit den Waffenproduktionen wische ich direkt weg, davon wusste ich ja bereits, außerdem wurden sie eingestampft. Und wenn der Tesserakt seit zwei Jahren nicht mehr in SHIELDs Gewahrsam ist, brauche ich Informationen aus der Zeit davor. Informationen von HYDRA. Ohne Zweifel geht das alles auf deren Kappe. Murmelnd klicke ich mich durch die Ordner. Dann öffne ich etwas namens ›Durchlauf 3‹ und meine Finger frieren über der Tastatur ein.
»Hast du was?«, fragt Matt und beugt sich zu mir rüber, wobei er seinen Ärmel fast in meinen Latte Macchiato hängt.
»Ja... Aber es wird dir nicht gefallen.« Alles Nebensächliche schließend öffne ich den ganzen Ordner. Von der ersten Seite aus starrt uns Matts Gesicht entgegen, neben etwa zehn anderen Profilen, unter denen teilweise Anmerkungen wie ›verstorben‹ oder ›in Gewahrsam‹ stehen.
»Verdammte Scheiße«, murmelt Matt. Genau das, was ich dachte. Es gibt also wirklich noch mehr Leute mit Fähigkeiten. ›Durchlauf 3‹. Was ist das? Ein Experiment? Eine Studie?
»Das... das sieht aus wie ein Experiment an Teenagern«, sage ich, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. »Hier steht... sie haben Zeile des Tesserakts und der Energiequelle des Zepters extrahiert und sie in eine kompakte Form gebracht. Und dann an verschiedene Orte befördert, wo sie von den Testpersonen gefunden werden sollten. Aufgrund der-« Ich schnaube auf und schüttele den Kopf. Das ist einfach nur widerlich. »Aufgrund der besonderen Strahlung konnten Ortungsgeräte verwendet werden, um die - wieder dieses Wort - Testobjekte aufzuspüren. Für weitere Untersuchungen. Das ist unmenschlich.«
Matt starrt genauso fassungslos auf den Bildschirm wie ich. »Diese Scheißkerle«, sagt er. »Ich bring alle von denen um.«
»Halt, Wonderboy, planst du etwa, ins HYDRA-Hauptquartier reinzuplatzen und allen Anwesenden das Genick zu brechen? Falls ja, das ist 'ne bescheuerte Idee.«
»Scheiße, Judy, die benutzen Menschen als Versuchskaninchen! Sie haben mich als Versuchskaninchen benutzt! Und da steht, dass einige von denen schon tot sind. Was, wenn sie sie umgebracht haben? Wenn sie ihn diesem Augenblick auf dem Weg hierher sind, um-«
Ich boxe ihm gegen die Schulter. »Hey, reiß dich mal zusammen.« Die Leute am Tisch in nächster Nähe zu uns haben sich umgedreht. In gesenktem Tonfall rede ich weiter: »In Panik auszubrechen bringt uns hier keinen Schritt weiter.«
»Du hast gut reden«, faucht Matt mich an. In seinen Augen glüht blanke Wut. »Du bist ja auch kein Opfer eines kranken Experiments.«
Ich funkele genauso wütend zurück. Wenn er nur wüsste. Fast zwei Monate lang war ich den Nachwirkungen von Lokis Gedankenbann ausgesetzt; Albträume von lodernden Flammen und tiefen Abgründen. »Ich muss dir nicht helfen. Ich könnte jederzeit meinen Dad anrufen, er wäre in fünf Minuten hier, um mich abzuholen.«
»Dann geh doch zurück zu deinem Dad, ich schaff das hier genauso gut allein.«
Ich hole schnaufend Luft, als die Bedienung zu unserem Tisch kommt.
»Kann ich euch zwei Süßen noch was bringen?«, fragt sie lächelnd. Matt starrt sie an, als wäre er in eine Art Schockzustand verfallen.
»Nein danke, wir kommen zurecht«, antworte ich und schenke ihn ein kurzes Lächeln. Sie nickt, zwinkert mir zu und verschwindet dann in Richtung Theke. Ich wende mich wieder zu Matt, um ihm meine Meinung zu geigen.
»Judy, warte, ich... sorry. Das - das war nicht so gemeint, es ist nur... die Kopfschmerzen machen alles so verworren.«
»Ja danke, verarschen kann ich mich auch allein.«
Matt fährt sich mit den Händen über die Stirn, dann verschränkt er nervös aufatmend seine Finger ineinander. »Bitte, ich weiß, du kannst die Anderen finden. Vielleicht - vielleicht kannst du das GPS-Gerät irgendwie umkalkulieren...?«
Was ist nur in ihn gefahren? In einem Moment ist er ruhig und sachlich, und im nächsten flippt er komplett aus. Die Art, wie er mich jetzt ansieht, wirkt schon sehr verzweifelt. Aber mal davon abgesehen will ich selbst wissen, was hinter HYDRAS Experimenten steckt. Und nur so können wir den wenigen Teenagern helfen, hinter deren Namen noch kein ›verstorben‹ steht. Wer weiß, vielleicht gibt es ja sogar welche, die noch nicht aufgespürt wurden?
Das mit dem umprogrammieren ist eine gute Idee, aber Matt soll nicht denken, er hätte gewonnen. »Tess, nach welchen Prinzip ist das GPS-Gerät programmiert?«, frage ich an meine Brille tippend. Matts Miene hellt sich ein wenig auf, aber aus Protest werde ich solange nicht mit ihm reden, bis ich hier fertig bin.
♦
Gegen Abend verlassen wird das Café, in dem wir wirklich viel zu lange gesessen haben. Ich habe bezahlt, meinen Kram wieder eingepackt, und bin mit Matt im Schlepptau in die angenehm kühle Abendluft hinausgetreten. Kurz darauf ruft Dad zum fünften Mal heute an. Ich lasse mein Handy klingeln, bis es von selbst verstummt.
Wir laufen schweigend nebeneinander her. Ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Matt saß die ganze Zeit, in der ich am Notebook beschäftigt war, stumm auf der anderen Seite des Tisches.
»Du hättest nicht bezahlen müssen«, platzt Matt heraus.
»Was? Klar doch, ich hab genug Geld mit.«
»Ja, aber...«
»Was aber?«
»Ach nichts.« Er starrt in die Bucht hinaus, auf der anderen Seite kann man die rot-orange-glänzenden Dächer einer Stadt sehen. Die Sonne steht tief.
»Wir müssten uns irgendein Hotel oder so für die Nacht suchen«, stelle ich fest.
»Weiter in dieser Richtung ist der Mount Desert Campingplatz. Dort finden wir was«, sagt Matt.
»Äh, wir haben weder ein Zelt noch einen Wohnwagen.«
»Um diese Jahreszeit sind dort viele Pfadfindergruppen. Die helfen uns bestimmt weiter.«
Ich bin überrascht, wie zuversichtlich er klingt. War er wirklich bei den Pfadfindern? Oder war das ein Scherz? Gedanklich gehe ich die Dinge durch, die ich über ihn weiß. Nicht viel. Er ist vom Sternzeichen her Steinbock (ein komischer und eigentlich nutzloser Fakt), ist allergisch gegen Äpfel und Haselnüsse (nur nützlich, falls ich ihn mal umbringen will), fährt Skateboard (wie ich schon im Central Park auf schmerzhafte Weise herausgefunden habe), und hat mal Basketball gespielt. Also ein ausführliches Persönlichkeitsprofil kann ich damit schonmal nicht erstellen.
Unauffällig beobachte ich Matt von der Seite. Vielleicht verrät mir sein Aussehen noch mehr. Seine blonden Haare wechseln ihren Zustand öfters als ich zählen könnte, gerade liegen sie in leichten Wellen auf seiner Stirn, aber damals im Park waren sie lockiger, da bin ich mir sicher. Er läuft in großen Schritten, mit einer gewissen Vorsicht, die ich mir nicht erklären kann. Dabei sieht er weder mich an noch den Boden, sondern die Bäume auf der linken Straßenseite. Die müssen ja unglaublich spannend sein. Mir fällt auf, dass er sich nicht mehr die Schläfen reibt; heißt das, dass seine Kopfschmerzen verschwunden sind? Kann er uns morgen von hier wegteleportieren?
Dieser Junge hat auf jeden Fall noch mehr Geheimnisse, als nur Superkräfte. Und das macht ihn interessanter, als ich zugeben würde. Aber das tue ich nicht.
Kaum haben wir den Campingplatz betreten, kommt eine kleine Gruppe Mädchen und Jungs and uns vorbei. Sie sind vielleicht zehn oder elf, und schleppen Steine.
»Hey Leute«, sagt Matt, »wir haben unser Zelt vergessen, habt ihr eventuell noch eins übrig?«
Zuerst starren die drei Mädchen ihn nur an, dann tuscheln sie leise.
»Was springt für uns raus?«, fragt ein Junge skeptisch. Unter seiner Baseballmütze gucken unordentliche, krause Locken hervor. Seufzend gehe ich unsere Finanzen durch, als Matt sich bückt und dem Jungen etwas ins Ohr flüstert. Sofort leuchten seine Augen auf. »Pfadfinder-Ehrensache!«, sagt dieser aufgeregt.
Ein sommersprossiges Mädchen mit einem geflochtenen roten Zopf meldet sich zu Wort. »Wir haben alle Zweierzelte, ich schlaf einfach bei Chelsea.«
»Danke...?«, sage ich unsicher.
»Wir müssen das Lagerfeuer vorbereiten!«, ruft der Junge und hüpft wie ein Flummi davon.
Matt legt mir ein paar Äste in den Arm. »Alle helfen mit. Du kriegst das schon hin.«
Die Kinder rennen davon, um noch mehr Material zu sammeln. Das lief ja besser, als ich es mir vorgestellt habe. Überlassen sie uns wirklich eines ihrer Zelte? Vielleicht gibt es ja eine Art Pfadfinderehrenkodex. »Was hast du zu ihm gesagt?«, frage ich Matt, als wir zur Feuerstelle gehen.
»Pfadfindergeheimnis.« Er grinst, und beginnt, einen Kreis aus Steinen zu legen.
»Also warst du wirklich bei den Pfadfindern? Das war ernst gemeint?«
»Wer weiß.«
Schon bald knistert ein großes Lagerfeuer in der Mitte des Campingplatzes, ein Haufen Zehnjähriger sitzt auf Baumstämmen darum herum und grillt Würstchen auf Stöcken. Ich sitze neben Malita, dem Mädchen mit den roten Haaren, das mir vorhin noch das Zelt gezeigt hat, in dem ich schlafen soll. Es ist kaum groß genug für mich, geschweige denn für zwei Personen, aber sie war stolz, es selbst aufgebaut zu haben.
»Wo sind eigentlich eure Aufseher oder sowas in der Art?«, frage ich und ziehe den Stock mit meinem Abendbrot aus dem Feuer.
»Miss Marsh ist bei den anderen Erwachsenen und macht Erwachsenenzeugs«, erklärt mir das Mädchen rechts neben Malita, vermutlich Chelsea, mit ernster Überzeugung. Matt sitzt mir genau gegenüber, aber ich sehe ihn nur teilweise durch die rot-orangenen Flammen. Fröhlich schwatzen alle durcheinander.
Als die Würstchen alle sind, rücken die Kinder die Bänke näher um das Feuer. Es ist dunkel geworden, zwischen den Gräsern zirpen Grillen, und das Feuer knistert vor sich hin.
»Eine Geschichte!«, fordert der Junge von vorhin Matt auf. »Das hast du versprochen.« Bei dem Wort Geschichte horchen alle Kinder neugierig auf. Ich sehe Matt grinsend an. Mal sehen, wie er das meistert.
»Äh, okay«, sagt er vorsichtig. Er knetet seine Hände und überlegt. Ich stütze meine Ellenbogen auf die Knie. »Eine Geschichte... Es war einmal ein Cowboy.«
»Mein Dad sagt, alle Geschichten, die mit Es war einmal anfangen, sind Märchen, und ich mag keine Märchen!«
»Sei leise, Calvin«, zischt eines der Mädchen und Calvin gibt Ruhe.
»Es wird kein Märchen«, verspricht Matt. »Also, der Cowboy hatte ein Pferd.«
»Was für eins?«, fragt Chelsea.
»Ein ganz schnelles, und es war braun. Eines Tages aber sah er eine Kuh, und dachte sich: ›Wenn ich eine Kuh habe, habe ich immer frische Milch.‹ Und er tauschte sein Pferd gegen die Kuh ein.«
»Wie blöd von ihm. Auf einer Kuh kann er nicht mehr reiten!«
»Die Kuh machte ihn ein paar Tage lang zufrieden, doch dann sah er ein Schwein, und dachte sich: ›Wenn ich ein Schwein habe, habe ich irgendwann schönen Schinken.‹ Und er tauschte seine Kuh gegen das Schwein ein.«
Mittlerweile ahne ich, worauf die Geschichte hinausläuft. Es ist einfach nur eine abgewandelte Version von Hans im Glück. Doch die Kinder hängen an seinen Lippen.
»Der Cowboy mästete das Schwein ein paar Tage lang, doch dann sah er ein Huhn, und dachte sich: ›Wenn ich ein Huhn habe, habe ich jeden Morgen ein frisches Ei.‹«
»Und er tauschte das Schwein gegen das Huhn?«, fragt Calvin eifrig, was die anderen nur mit einem »Shh!« quittieren.
Matt nickt. »Und er tauschte sein Schwein gegen das Huhn ein. Das Huhn legte jeden Tag ein Ei, und der Cowboy war zufrieden. Doch irgendwann dachte er wieder an sein armes Pferd, und er vermisste es sehr. Und wie das Glück es so wollte, kam ein anderer Cowboy mit einem Pferd zu ihm und sagte: ›Dieser Gaul ist nicht zu zähmen, aber ich tausche ihn gegen dein Huhn, wenn du willst.‹ Der Cowboy freute sich sehr, und tauschte mit Freuden sein Huhn gegen das Pferd ein. So waren sie wieder vereint, und wenn sie nicht gestorben sind, dann reiten sie noch heute durch die Prärie.« Matt endet mit seiner Geschichte und sieht vage lächelnd in die Runde.
Ich gebe ihm grinsend einen Daumen nach oben. Ein paar der Kinder gähnen, einige machen sich auf dem Weg zu ihren Zelten, ein paar bleiben noch sitzen.
»Das macht doch keinen Sinn, wer tauscht ein Pferd gegen ein blödes Huhn?«, fragt Calvin im Weggehen.
Ich rutsche näher an Matt ran. »Nette Geschichte«, sage ich.
»Echt? Ich hoffen, sie haben nicht bemerkt, dass es nur ein Hans-im-Glück-Abklatsch war.« Er nimmt sich einen der Stöcke, die neben den Bänken liegen, und stochert in der Erde vor ihm herum. »Mein Dad hat sie mir das erste Mal erzählt, glaub ich.« Schon wieder die Erwähnung seines Vaters. Aber in der Vergangenheitsform.
»Was ist mit ihm?«, frage ich. Kurz erwarte ich die Antwort »Er ist tot«, und sehe uns Halbwaisen-Stories austauschen.
»Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich... acht? Jetzt hat er eine neue Familie.« Er malt Kreise in die Erde.
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht, ehrlich. Er war ein Idiot, Mom und ich sind ohne ihn besser dran.«
»Oh, okay.« So klingt es aber nicht, wenn er von ihm redet. Eher, als wäre er ihm ein Vorbild, zumindest von früher. Ich beobachte die Flammen des Feuers, die ohne weitere Nahrung immer kleiner werden. Ein Ast fällt um, und Funken stieben in den wolkenlosen Nachthimmel auf. Der Mond ist nicht zu sehen, dafür ein Haufen Sterne. An Feuer habe ich keine netten Erinnerungen, vor allem seit Loki. »Meine Mum ist gestorben als ich sieben war. Dann hab ich bei meiner Großtante gewohnt, und schließlich bei meinem Dad, nachdem sie auch... gestorben ist.« Der Gedanke daran versetzt mir einen Stich. Gleichzeitig aber bereue ich es, das gesagt zu haben. Jetzt denkt Matt bestimmt, ich bin eine depressive Heulsuse. Also wechsele ich schnell das Thema. »Morgen müsste das Programm startklar sein, wenn Tess die Strahlungswerte analysiert hat.«
Er nickt langsam, immer noch auf den Boden starrend. »Ich will das nicht. Diese Kräfte. Ja, irgendwie sind sie schon cool, aber ich will nicht auf irgendwelche Listen gesetzt und mein Leben lang überwacht werden.«
»Machst du Witze? Hey, du kannst dich teleportieren wohin du willst! Und wenn du Lust hast, kannst du dich in Lebron James verwandeln.« Jedenfalls bin ich mir sicher, dass das ein Basketballspieler ist.
»Das ist es ja.« Matt zögert, scheint zu überlegen, ob er etwas erzählen will oder nicht. »Immer wenn - wenn ich es tue, weißt du, dann fühle ich mich nicht wie ich selbst. Und wenn es vorbei ist... als wäre ein Teil von mir auch weg.«
Das klingt hart. Natürlich wünsche ich mir auch manchmal, dass ich Superkräfte hätte. Mit einem Fingerschnipsen Kerzen anzünden zu können, Dinge nur mit meinen Gedanken zu kontrollieren. Oder die Macht, Gedichte analysieren zu können. Aber darüber, was diese Kräfte mit mir machen würden, habe ich nie nachgedacht. Ist es wirklich so schmerzhaft? Werden sie nicht irgendwann zu einem Teil von einem selbst?
»Du denkst, ich bin verrückt«, sagt Matt und legt seinen Kopf in den Nacken, um in den Sternenhimmel zu sehen.
»Ganz ehrlich? Das tu ich schon seit du mich in den Hauseingang gezerrt hast.«
»In Ordnung, dann lass ich dich das nächste Mal einfach weiterrennen. Ist bestimmt gut für deine Kondition.« Ich schlage ihm gegen die Schulter, er lacht schnaubend auf. Dann sieht er mich an, den Mund zu einem schiefen Grinsen verzogen. »Danke, dass du mir hierbei hilfst. Trotz meiner... Art. Aber die Anderen verdienen es einfach nicht, von HYDRA versklavt zu werden.«
»Du auch nicht.« Unsere Blicke treffen sich. Nach zwei endlos langen Sekunden meldet sich mein Verstand lautstark zu Wort. Was tust du da? Es wird langsam gruselig, also sieh wieder weg.
»Ihh, aber ihr küsst euch jetzt nicht, oder?«, fragt Chelsea kichernd. Selbst im fahlen Licht des erlöschenden Feuers kann ich erkennen, dass Matt rot angelaufen ist, und ich bete zu Gott, dass ich nicht genauso aussehe.
Ich stehe auf. »Wir sollten jetzt schlafen gehen, alle«, sage ich bestimmend und scheuche Malita und ihre Freunde vor mir her zu den Zelten. »Sonst kommen die Bären und fressen euch auf. Oder Biber, die knabbern gerne an Zehen.«
Lachend und plappernd verschwinden die Kinder in den Zelten, sodass von ihnen nur noch dunkle Schatten im Taschenlampenlicht zu sehen sind.
Ich bin gerade dabei, mein Nachtlager herzurichten, als Matts Kopf im Zelteingang auftaucht. »Ich, äh, schlafe auch hier«, meint er.
»Oh«, sage ich und rutsche ein Stück, um ihm Platz zu machen. Ich ziehe meine Jacke aus und rücke den Rucksack unter meinem Kopf zurecht, während ich eine einigermaßen bequeme Schlafposition suche. Zu sagen, das Zelt ist klein, wäre schon übertrieben. Es ist sehr eng, wahrscheinlich streifen Matts Füße sogar die gegenüberliegende Zeltwand. Schmerzlich vermisse ich mein großes, weiches Bett im Avengers Tower. Und was ist mit Dad? Ist er schon auf der Suche nach mir? Die ganzen weggedrückten Anrufe haben ihn sicher misstrauisch gemacht. Ich nehme mir vor, mir bis morgen eine Ausrede einfallen zu lassen, damit er sich keine Sorgen machen muss.
»Gute Nacht, Judy«, murmelt Matt neben mir.
»Nacht«, antworte ich. Jetzt liegen wir Rücken an Rücken, in unangenehmer Stille, ausgenommen die Geräusche des Waldes. Erst als Matts Atem flach und gleichmäßig geht, döse auch ich ein.
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