10.1 | Cass | nothing normal
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Mühelos gleiten ihre Finger über die Tasten. Die Notenblätter vor sich beachtet sie kaum, das Stück ist tief in ihrem Kopf verankert. Immerhin hat sie wochenlang auf diesen Auftritt hingearbeitet. Da das Licht nur auf den Flügel und die kleine Gestalt auf dem dazugehörigen Hocker fällt, wird ihr der Blick in den Saal verwehrt. Zum Glück, denn zu wissen, wie viele Menschen ihr zuschauen, hat sie schon vorher verunsichert.
Sie schlägt die letzten Akkorde an, dann wird es für eine Sekunde still. Sie schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet, beginnen die Leute zu klatschen. Sie steht vom Klavierhocker auf, verbeugt sich, und blickt schüchtern lächelnd ins Publikum. Ein Teil von ihr hätte nichts schlimm daran gefunden, den ganzen Abend in ihrem Bett mit einer guten Serie zu verbringen.
Als der Applaus verebbt, zieht sie sich hinter die Bühne zurück. Ein Junge mit Cello kommt ihr entgegen. Im Vorbeigehen klatschen sie ab.
»Du hast das Ding gerockt, Cass«, meint er grinsend.
»Das machst du besser. Viel Glück!«
Beim Konzert für Nachwuchskünstler hat sie letztes Jahr schon mitgemacht. Klavierspielen war schon immer ihre Leidenschaft, und das hier ist die ideale Möglichkeit, ihr Können unter Beweis zu stellen. Als Cass zurück in die Umkleide kommt, streckt sie ihre Finger. Sie nimmt ihre Jacke von einem Stuhl und fischt ihr Handy aus der Tasche. Keine Nachricht von ihren Eltern.
Hey Mom, bin jetzt fertig, holst du mich ab? <<
Dann steckt sie es wieder zurück zu ihren Notenblättern. Die Schuhe muss sie auch noch wechseln, in diesen Ballerinas kommt sie nicht mal bis zum Ausgang. Zum Schluss bindet sie noch ihre schulterlangen, braunen Haare zu einem Zopf. Sie sieht wieder auf ihr Handy. Keine Nachricht.
Draußen ist es kühl. Und Cass ist genervt. Sie tippt mit ihrem Fuß auf den Bürgersteig. Mal wieder haben ihre Eltern vergessen, sie abzuholen. Das passiert häufiger. Wahrscheinlich sitzt ihr Dad noch über irgendwelchen Examen, die er kontrollieren muss, und ihrer Mom ist das Essen schon wieder angebrannt. Und Leyla befindet sich gerade in ihrer Meckerphase, deswegen ist sie keine große Hilfe.
Cass bleibt nichts anderes übrig, als sich ein Taxi zu rufen. Sie wohnt etwas außerhalb von Atlanta, und um diese Uhrzeit fahren keine Busse mehr. Zu allem Überfluss fängt es jetzt auch noch an zu regnen.
»Echt jetzt?« Sie sieht sich nach einem Unterstand um. An einen Regenschirm hat sie natürlich nicht gedacht, und dafür verflucht sie sich. Gegenüber ist eine Bushaltestelle, an der aufgrund einer Baustelle kein Bus mehr hält. Schnell geht sie über die Straße und setzt sich hin. Das Dach ist undicht, in regelmäßigen Abständen fällt ein Wassertropfen zu Boden.
Cass kramt in ihren Taschen nach etwas Essbarem, und findet ein Pfefferminzbonbon. Nicht exakt das, was sie sich vorgestellt hat, aber besser als nichts. Sie steckt sich das Bonbon in den Mund und wirft das Papier in einen nahestehenden Mülleimer. Dabei bemerkt sie ein rotes Leuchten. Neugierig sieht sie in die Tonne. Der Eimer wurde wohl kürzlich geleert, zum Glück, sonst hätte Cass wahrscheinlich nicht reingefasst. Dieses Glühen zieht sie wie magisch an.
Nein, Cass, belehrt sie sich selbst. Aus jedem, wirklich jedem Film weißt du, dass man merkwürdig leuchtende Dinge nicht anfassen sollte.
Sie zögert. Und berührt den Stein.
Cass wird umgerissen und in einen Tornado aus Blitzen gesogen. Grelles Licht brennt in ihren Augen, sie schreit aus voller Lunge. Schmerz schießt durch ihren gesamten Körper. Sie wird auseinandergerissen, zerstückelt, gefoltert.
Dann ist es vorbei. Keuchend sitzt Cass mit dem Rücken an die Bank gelehnt auf dem nassen Asphalt. Sie holt zitternd Luft. Was zur Hölle war das? Und wo ist der Stein?
Ein Taxi fährt vor und hupt. Cass hievt sich hoch und humpelt zum Wagen. Sobald sie drinsitzt, nennt sie dem Fahrer ihre Adresse und lehnt sich im Sitz zurück. Aus dem Fenster blickt sie zurück zur Haltestelle. Sie liegt in Dunkelheit.
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»Mom? Kann ich zuhause bleiben?« Schon nach dem Aufwachen war Cass klar, dass sie heute keinen Fuß nach draußen setzen wird. Seit sie diesen merkwürdigen Stein berührt hat, wird sie von höllischen Kopfschmerzen geplagt. Und ihre Mom lässt sie für gewöhnlich immer Zuhause, sobald sie auch nur hustet. Sasha Westfield ist Arzthelferin im örtlichen Krankenhaus. Ihre Eltern sind aus der ehemaligen UdSSR in die USA ausgewandert, deshalb der sowjetische Vorname. Außerdem hat Cass die mandelförmigen Augen ihrer Großmutter geerbt, was, wie sie findet, sie sehr exotisch aussehen lässt.
»Was ist denn los, Schatz?« Sie befühlt Cass' Stirn. »Du glühst ja. Dann geh mal lieber wieder ins Bett, ich mach dir einen Tee.«
»Darf ich auch bleiben?«, fragt Leyla, die über ihrer Müslischüssel hängt. Zwei Wörter, die sie beschreiben: Nervig und zwölf. Das fasst ihre Persönlichkeit ziemlich gut zusammen. »Mir ist ganz schlecht.«
»Schreibt ihr heute nicht diesen Mathetest? Nein, du gehst schön in die Schule, Fräulein.«
Cass' Dad betritt die Küche. »Komm schon Leyla, ich nehm dich auch mit. Wie klingt das?« Walter Westfield arbeitet als Professor für altgermanische Literatur an der Universität in Atlanta. Er hat eine Vorliebe für Sagen und Legenden aller Art, antike Möbel und Apfelkuchen.
Cass schiebt das Glas Orangensaft von sich, geht dann nach oben und lässt sich in ihr Bett fallen. In Sekundenschnelle ist sie wieder eingeschlafen.
Sie wacht auf, als unten eine Tür zufällt. Wahrscheinlich ihre Mom, die zur Schicht ins Krankenhaus losfährt. Hat sie an den Tee gedacht? Cass dreht sich in ihrem Bett um. Ihr Zimmer ist klein, aber gemütlich. Das Bett steht in einer Nische unter dem Fenster, direkt gegenüber befindet sich die Tür, die mit alten Postern übersät ist. Als Nachttisch dient ein Hocker, den sie entdeckt hat, als ihr Dad sie bei einem seiner üblichen Flohmarkt-Streifzüge mitgeschleppt hat. Daneben steht ihr Schreibtisch, und dem gegenüber ein Kleiderschrank. Das war's auch schon. Das Klavier steht im Wohnzimmer.
Cass greift nach der Tasse – die scheußlich gelbe mit ihrem Namen drauf – und riecht daran. Sofort verzieht sie das Gesicht. Fencheltee. Ausgerechnet Fencheltee. Kurzerhand schüttet sie das Getränk in ihre Pflanze auf dem Schreibtisch. Ob das gut für sie ist, kann bezweifelt werden, jedenfalls hat sie sich noch nie darüber beschwert.
In der Küche ist niemand, was Cass' Theorie ihre Mom betreffend bestätigt. Sie legt ihre Hand an den Teekessel. Kalt. Doch bevor sie den Gasherd andrehen kann, beginnt er zu pfeifen. Laut und durchdringend. Vor Schmerzen kneift Cass die Augen zusammen und nimmt den Kessel vom Herd. Das Pfeifen hört nicht auf. Cass flucht ihn an, auch wenn ihr unklar ist, was das bringen soll. Jetzt springt einer der Küchenschränke auf und verteilt die Teebeutel auf dem Boden.
Cass ist überfordert. Und wütend. »Hör verdammt noch mal auf!«, schreit sie den Teekessel an.
Und er verstummt augenblicklich.
Dass es so funktioniert, hätte auch Cass nicht gedacht. Verblüfft bleibt sie vor dem Herd stehen, um sie herum die Teebeutel, vor ihr ein Kessel voll mit frisch aufgebrühtem Wasser.
Nach diesem merkwürdigen Vorfall entschließt sich Cass, einfach wieder ins Bett zu gehen. Halluzinationen ausgelöst durch Fieber, vermutlich. An den Stein denkt sie nicht mehr.
♦
Eine Woche später joggt sie die Straßen des Wohngebiets entlang, in der Hoffnung, keinem der Nachbarn zu begegnen. Die letzten paar Tage hat sie hauptsächlich drin verbracht, deswegen wird es mal wieder Zeit für etwas Sport. Nachher wird Cass auch noch Klavier üben müssen. Und die Hausaufgaben warten auch... Ach, Schule wird sowieso überbewertet.
Sie ist so beschäftigt mit ihren Gedanken, dass sie die Pfütze vor sich auf dem Gehweg nicht bemerkt. Erst als ihr linker Schuh schon darüber schwebt, fällt es ihr auf. Sofort zieht sie das andere Bein nach, um nicht auch im Nassen zu landen. Doch stattdessen rutscht sie aus. Die Pfütze ist auf einmal spiegelglatt. Benommen richtet sich Cass auf. Sie könnte heulen. Jetzt tut ihr nicht nur der Kopf weh, sondern auch ihr Hintern. Wenn sie nicht so erschöpft vom Joggen wäre, hätte sie auf irgendetwas eintreten können, vorzugsweise der Briefkasten ihrer Nachbarn, die sie sowieso nicht leiden kann.
Nein, was sie jetzt braucht ist eine schöne Gesichtsmaske. Und etwas Schokolade aus dem Geheimvorrat ihrer Schwester.
♦
»Nein, nein, nein. Jetzt reicht's«, murmelt Cass zu sich selbst. Sie wirft die Tasse in den Geschirrspüler. Der Inhalt allerdings ist nur ein einziger Block aus Eis. So wie alles, was Cass heute berührt hat. Mittlerweile ist ihr klar, dass das ganz und gar nicht normal ist.
Aber sie hat Superkräfte! Ist das nicht absolut cool?
Natürlich konnte sie niemandem davon erzählen, ist klar. Was nicht bedeutet, dass sie es komplett geheim hält. Das Essen in der Cafeteria, sonst immer nur lauwarm, hat plötzlich immer die perfekte Temperatur. Und Mr. Williams Gesichtsausdruck, als seine Kaffeetasse mitten im Unterricht zersprungen ist – unbezahlbar.
Aber woher kommen diese Kräfte? Wurde sie irgendwie vergiftet? Verstrahlt? Wurde sie entführt, genetisch verändert und dann ohne Erinnerungen wieder ausgesetzt? Die anfänglichen, unerklärlichen Kopfschmerzen sind abgeklungen, jetzt kribbeln ihre Hände nur noch ab und zu.
Die Bibliothek ihres Dads könnte Antworten bieten. Oder nicht? Einen Versuch ist es wert. Immerhin gab es in den alten Sagen doch auch Wesen mit übernatürlichen Kräften.
Cass stellt sich vor, wie sie die Stadt vor Mafia-Banden und Bankräubern überfällt. Hände hoch, sonst lasse ich Sie auf einer Pfütze ausrutschen!, klingt auf jeden Fall sehr bedrohlich.
Das Bücherregal, das eine komplette Wand des Arbeitszimmers einnimmt, ist vollgestopft mit alten Büchern, deren Verfasser schon lange unter der Erde vor sich hingammeln. Wahllos zieht Cass eins heraus. Sie blättert durch die Seiten. Nein, hier ist nur von einer Ziege und einem Hirsch die Reden, die an irgendeinem Baum knabbern. Interessant. Im nächsten Buch steht etwas über Asen und Wanen, anscheinend Götter, die das Gleichgewicht gegen die Riesen und Ungeheuer halten.
Odin, Njörd, Freya, Thor... War Thor nicht einer der Avengers? Neben einem langen Text in unglaublich winzigen Buchstaben ist das Bild eines blonden Hünen mit einem Hammer zu sehen. Sein goldenes Haar flattert im Wind. Cass schmunzelt. So heldenhaft wie er wird sie wohl nie aussehen.
Nächstes Buch. Ragnarök. Das übliche Geschwafel vom Untergang der Welt.
Die Ausgabe, die Cass nun in die Hand nimmt, ist womöglich nochmal ein gutes Jahrhundert älter als die anderen Exemplare, und ihr Dad wird sie wahrscheinlich töten, wenn auch nur eine Seite geknickt ist. Der schwere, lederne Umschlag zeigt einen eingravierten Baum mit unendlich vielen Schnörkeln, auf dessen Ästen neun Gebilde sitzen. Auf der ersten Seite klebt ein ausgeblichener Notizzettel: Yggdrasil, die Weltenesche und die Neun Welten.
Cass blättert erneut um, und stöhnt auf. Der Text ist auf Altgermanisch. So ein Mist. Jetzt können ihr nur noch die vielen Klebzettel in der unordentlichen Handschrift ihres Dads. weiterhelfen. Sie setzt sich an den Schreibtisch aus grobem Holz und schiebt einen Stapel Dokumente zur Seite, sowie den Aschenbecher. Da ihre Mom es hasst, wenn er raucht, tut er das nur hier in seinem Arbeitszimmer, das sie sowieso nie betritt.
Die Neun Welten: Asgard, Wanenheim, Albenheim, Midgard, Jotunheim, Nidavellir, Niflheim, Muspellheim und Helheim.
Aha. Cass hat nie die gleiche Begeisterung für nordische Mythologie aufbringen können wie ihr Vater, und das hält sich auch jetzt in Grenzen. Sie will doch nur nach einer möglichen Erklärung suchen, woher ihre Superkräfte kommen könnten. Sie lässt die Seiten an ihrem Daumen vorbeiblättern, auf der Suche nach etwas interessantem. Vorbei fliegen Aufzeichnungen über die verschiedenen Welten und deren Bewohner, Tiere, Riesen und Götter. Cass hält kurz inne, bei einer Beschreibung von sogenannten Eisriesen, die magische Eiskräfte haben; doch als sie sieht, dass sie weder Feuerkräfte haben noch die Temperatur von Dingen (außer zur Kälte hin) beeinflussen können, überspringt sie die Seite wieder. Außerdem ist ihre Haut nicht blau. Sicherheitshalber betrachtet sie ihre Hand. Nein, keine Schlumpfkrankeit. Zum Glück.
Nein, ganz ehrlich: woher kommt dieser ganze Scheiß? Ja, es hat auch seine Vorteile, aber wieso ist Cass auf einmal ein wandelndes Thermostat?
Sie sieht auf die Uhr. Noch fünf Minuten, mehr Zeit will sie echt nicht verschwenden. Also entweder findet sie etwas, oder nicht, und dann reicht's auch. Seiten um Seiten voller Runen und Zeichnungen – eine Zeichnung von einem blau-leuchtenden Würfel.
»Der Tesserakt«, liest Cass die Bezeichnung darunter vor. Ein flimmernder Gegenstand? Jetzt fällt es ihr wieder ein. »Verdammt.« Der Stein-oder-was-auch-immer an der Bushaltestelle. Der war der Auslöser. Wie konnte sie das nur vergessen? Sie schlägt das Buch zu und geht kopfschüttelnd aus dem Arbeitszimmer. Jetzt braucht sie etwas Stärkeres als Tee.
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So, das wäre das erste Kapitel der Lesenacht :D
Es ist jetzt 19 Uhr, also gibt es noch jeweils eins um 20 Uhr, 21 Uhr und 22 Uhr.
(Und danach wird gefälligst geschlafen.)
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