(Not) All Of Me
Brian hatte sich wieder verzogen – zurück in sein Elternhaus, das ich noch nie gesehen hatte. Aber irgendwie war ich inzwischen schon ein bisschen neugierig auf den Ort, an dem diese beiden Männer großgeworden waren. Brian mochte ein Idiot sein - na gut, manchmal war er ein echtes Arschloch -, aber ich mochte ihn.
Und Sam ...
»Joanie, ich ...«, er räusperte sich und legte den Kochlöffel zur Seite, mit dem er gerade noch in seinem Eintopf herumgerührt hatte, »... ich hatte noch nicht die Gelegenheit, dir ... dir zu sagen, dass ...« Er seufzte und schwieg. Ich starrte ihn nur an, wartend und hoffend, er würde es doch bitte endlich ausspucken.
Wir waren seit über einer Stunde allein, hatten auf dem Sofa gesessen und ich hatte meinen Kopf auf seine Schulter gelegt. Hatte ihn schweigend getröstet, während das leise Beben in seinem Körper langsam verschwunden war und er sich immer mehr entspannt hatte.
»Was willst du sagen, Sam?« Meine Stimme klang mehr wie ein kleines Wimmern, sodass ich mir kaum sicher war, ob er mich überhaupt richtig verstanden hatte.
Sam schluckte, dann räusperte er sich erneut. Musste ein Riesenkloß sein, der in seinem Hals steckte. »Es tut mir leid.« Vorsichtig blickte er auf, sah mir in die Augen. Auf seine Lippen legte sich ein winziges Lächeln, verlegen und zart, und es verwandelte sich in ein nervöses Schmunzeln. Vielleicht weil ich so lange nichts sagte. »Das klingt blöd, oder? Ich ...«, verkrampft rieb er sich den Nacken, als täte ihm etwas weh, »... ich entschuldige mich bei dir, aber eigentlich ist das total lächerlich, weil ich ... so fies zu dir war. Ich kapier ja nicht einmal, wieso du überhaupt hier bist. Deshalb ...«
»Es ist nicht lächerlich, Sam.« Er verstummte. In seinen Augen lag ein Schatten, tief, dunkel, ehrlich, bedauernd. Es tat ihm wirklich leid, was er zu mir gesagt hatte, und er schämte sich richtig. Das war nicht lächerlich, es war mehr als genug. »Ich bin hier, weil du mir ein Herz gemalt hast.«
Da lächelte er ein ehrliches, niedliches Lächeln.
»Ich hab das nicht so gemeint, ehrlich. Am Anfang dachte ich vielleicht, du wärst ... verwöhnt oder so. Aber jetzt denke ich das nicht mehr.« Dabei stimmt es doch. Irgendwie.
»Was denkst du jetzt?«, hakte ich nach. Keine Ahnung, auf welche Antwort ich hoffte. Aber ganz sicher würde er jetzt gleich etwas Nettes über mich sagen, und ich brauchte das. Manchmal brauchte ich das. Sam war inzwischen Mensch-Nummer-Zwei geworden, der mein Herz kannte. 2/2. Mehr gab es nicht, und es bedeutete mir alles.
»Jetzt denke ich, dass du meine beste Freundin geworden bist.« Und anscheinend ging es nicht nur mir so. Verdutzt blickte ich in Sams Gesicht.
»Was ist mit Lucia. Sie ...«
»Ich sauer auf Lucia.« Meine Augen weiteten sich, weil ich so ungefähr alles erwartet hatte, nur das nicht. »Das habe ich jetzt kapiert. Gestern, um ehrlich zu sein. Ich hasse Jared für das, was er getan hat. Aber ich bin auch sauer auf Lucia, weil sie ... ihm glaubt. Macht das Sinn?« Ich nickte. »Am Anfang war das nicht so, aber ich habe gemerkt, dass ... dass ich nicht mehr traurig bin, sondern einfach nur noch wütend. Sie war mal wie eine Schwester für mich, und auf einmal hat sie beschlossen, mich zu hassen.«
»Hass ist kein Beschluss, Sam.«
»Doch, in ihrem Fall schon. Sie und Jared sind zu verschworen. Sie glaubt ihm alles und er weiß das. Ich kann mich nicht auf sie verlassen. Auf Lucia nicht. Und auf Jared schon gar nicht. Ich ... ich habe schon lange vermutet, dass er mich absichtlich ins offene Messer hat laufen lassen. Aber jetzt, wo er es zugegeben hat, ist es, als könnte ich wieder atmen. Ich kann ihn jetzt einfach hassen. Weil ich jetzt keine Zweifel mehr habe. Jetzt weiß ich, dass ich nicht schuld war.«
»Sam, das ...« Ich wollte widersprechen, weil das nicht so richtig gesund klang, aber er ließ mich nicht.
»Auf dich kann ich mich verlassen, Joanie.«
Er hatte sich sein Bandana wieder umgebunden, seine Haare waren wild und frei, wie immer. Und er lächelte. Er sah so unglaublich aus, so wunderschön. Sam war wirklich der schönste Mensch, den ich kannte. Nicht nur äußerlich, er war auch in seinem Inneren einfach wunderschön.
Oh ... oh nein.
»Sam«, bröckelte mein schlechtes Gewissen aus mir heraus wie eine Steinlawine. Er blickte mir in Augen, etwas überfordert sah er aus, aber das lag wohl daran, dass meine Stimme eher ein Piepsen als ein richtiger Ton war. »Was ich zu dir gesagt habe, das war auch ... nicht ... Ich habe das nicht so gemeint.«
Er sah mich an und ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, ich wollte auf keinen Fall wegsehen. Ich musste und wollte stark sein. Für uns beide.
»Joanie, hör zu, ich ... ich glaube, dass ich ... dich wirklich ...« Er schluckte und holte einmal Luft. Mir war klar, was er versuchte zu sagen. Ich dich aus, Sam. Ich habe dich auch unglaublich gern. Aber er tat sich schwer, es auszusprechen, weil er Angst hatte, zurückgewiesen zu werden. Sam hatte einfach schon zu viele Menschen verloren, die ihm wichtig waren. Und nachdem, was ich zu ihm gesagt hatte ...
Ich biss mir auf Lippe.
»Ich dich auch, Sam.«
Fast erschrocken flackerten seine Augen auf. Er sah völlig irritiert aus, beinahe schon entsetzt. Hatte er das tatsächlich nicht erwartet? Fast tat er mir leid, weil er so verwirrt wirkte.
»E...ehrlich?«
Ich nickte und ich lächelte ihm dabei zu. Ganz ehrlich. Mein Herz hüpfte wild umher, während ich beobachtete, wie Sams Lippen sich zu einem niedlichen Lächeln formten und wie seine Wangen sich röteten. Gott, war er einfach süß! Mir wurde warm bei diesem Anblick, und wohlig, mein Herz freute sich so sehr. Ich wollte für immer der Mensch sein, der diesen Ausdruck in Sams Gesicht beförderte.
»Und ... ahm ... heißt das, du ... du ...« kommst wieder zurück? Nein, das hieß es nicht, weshalb ich meinen Blick abwenden musste. Ich konnte nicht zurückkommen, das ging einfach nicht. Die gesamte Nacht hatte ich darüber nachgedacht, hatte wachgelegen und gegrübelt. Ich wollte mit Sam zusammen sein, das wusste ich jetzt. Aber ich wollte auf keinen Fall bei ihm wohnen.
So weit waren wir noch nicht.
So weit war ich noch nicht.
»Sam, ich ... ich werde nicht zurückkommen.«
Er schloss die Augen, senkte den Kopf und nickte langsam. So langsam, dass es mir mein Herz in tausend Teile riss. »Ich ...«
»Ist schon okay«, unterbrach er meinen jämmerlichen Versuch, mich zu erklären mit erhobener Hand. Er öffnete seine Augen und der Schmerz darin stach mir direkt ins Herz. »Ich verstehe das. Ich hab's verbockt. Schon gut.«
»Nein«, hauchte ich überfordert und glitt im selben Atemzug vom Barhocker. Ich umwanderte die Kücheninsel, alles unter Beobachtung, und stellte mich genau vor Sam hin. »Hast du nicht.« Zögerlich, aber bestimmt legte ich meine Arme um seinen Rücken und zog mich an ihn. Ich sah nach oben, sah in seine Augen und lächelte. Er sah vollkommen verblüfft aus, was mich fast zum Kichern brachte.
»Was tust du da?«
»Ich werde in Kanada bleiben, Sam.«
Da blitzte etwas in seinen Augen auf, was ich noch nie gesehen hatte. Es war Freude. Er freute sich. Und Hoffnung, und das gefiel mir sogar noch besser.
»Für immer?« Seine Hände legten sich in meinen Rücken, ich spürte sie da, warm und beschützend. Er hatte große Hände, und es gefiel mir, wenn er mich damit berührte. »Du meinst so ... so richtig?«
»Erst mal, ja.« Ich nickte. Ich wollte Sam küssen, wollte ihn so gern küssen.
Stattdessen löste ich mich langsam von ihm, aber Sams Hände verharrten auf mir, sodass ich nicht wegkonnte. Ich legte leicht den Kopf schief, bat ihn stumm darum, mir noch ganz kurz Zeit zu geben, um zu erklären, was ich mir die ganze Nacht überlegt hatte. Wenn wir in dieser Position redeten, vertraute ich mir nicht.
»Na gut«, seufzte Sam leise, ließ mich los und erhob zur Demonstration seine Hände, während er langsam rückwärts ging. So lange bis er an der Theke anstieß und sich deshalb leicht schreckte. »Ich hör dir zu.« Aber er grinste auch. Er machte mich schwach. Das war so unfair.
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